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aa) Grundrechte

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In seinem Urteil Costa/ENEL vom 15. Juli 1964 hatte der EuGH festgestellt, dass der Vorrang des Gemeinschaftsrechts vorbehaltlos gilt, so dass dem supranationalen Recht „keine wie immer gearteten innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen können“.[60] Darin lag zugleich eine Aufforderung an die nationalen Verfassungsgerichte, sich einer Kontrolle des sekundären Gemeinschaftsrechts am Maßstab des nationalen Verfassungsrechts, insbesondere der Grundrechte, zu enthalten. Dies stieß insbesondere in Italien und Deutschland auf Sensibilitäten, da die nach dem Krieg angenommenen Verfassungen beider Länder den Grundrechten und ihrem einfachgerichtlichen und verfassungsgerichtlichen Schutz besonderen Stellenwert einräumen. Nachdem zunächst die Corte costituzionale in ihrer Frontini-Entscheidung vom 27. Dezember 1973 einen äußersten Vorbehalt zugunsten des Schutzes der fundamentalen Verfassungsprinzipien sowie der Grundrechte formuliert hatte,[61] behielt sich das Bundesverfassungsgericht in seinem sog. Solange I-Beschluss vom 29. Mai 1974 eine weiter gehende Kontrolle des innerstaatlich anwendbaren Gemeinschaftsrechts hinsichtlich seiner Vereinbarkeit mit den im Grundgesetz verankerten Grundrechten vor. Zwar hatte das Gericht in einer Entscheidung aus dem Jahre 1967 das Europäische Gemeinschaftsrecht in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des EuGH als eine „autonome Rechtsquelle“ anerkannt und daher Verfassungsbeschwerden gegen Akte der Gemeinschaft für unzulässig erklärt,[62] doch betonte es nunmehr, dass Art. 24 Abs. 1 GG nicht den Weg eröffne, „die Grundstruktur der Verfassung, auf der ihre Identität beruht, ohne Verfassungsänderung, nämlich durch die Gesetzgebung der zwischenstaatlichen Einrichtung zu ändern“.[63] Ein „unaufgebbares, zur Verfassungsstruktur des Grundgesetzes gehörendes Essentiale“ sei der Grundrechtsteil des Grundgesetzes.[64] Solange sowohl ein unmittelbar demokratisch legitimiertes Parlament fehle, dem gegenüber die rechtsetzenden Gemeinschaftsorgane verantwortlich seien, als auch ein Grundrechtskatalog, der die Gewissheit gebe, dass ein dem Grundgesetz vergleichbarer Grundrechtsstandard gewährleistet ist, werde es seine Kontrolle ausüben, wobei es nicht über die Gültigkeit der Rechtsakte der Gemeinschaft, sondern nur über die innerstaatliche Anwendbarkeit entscheide. Drei der acht Richter des Zweiten Senats formulierten gegen diese Entscheidung ein Sondervotum, in dem sie zum einen die Unvereinbarkeit einer solchen Kontrolle mit Art. 24 Abs. 1 GG ins Feld führten, zum anderen auf die im Grundsatz auch von der Senatsmehrheit anerkannte grundrechtsfreundliche Rechtsprechung des EuGH näher eingingen. Nicht zuletzt im Hinblick auf den sich abzeichnenden Widerstand in den Mitgliedstaaten hatte der EuGH gerade in dieser Zeit die Grundlagen für eine dynamische Grundrechtsrechtsprechung gelegt, indem er Grundrechtsverbürgungen des Gemeinschaftsrechts aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten sowie den Garantien der seit 1974 von allen Mitgliedstaaten ratifizierten EMRK herleitete.[65]

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Die Linie des Solange I-Beschlusses war nicht zu halten, wollte das Gericht nicht die Wirksamkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung in den Mitgliedstaaten generell in Frage stellen. Die teilweise heftige Kritik der Entscheidung in der wissenschaftlichen Literatur[66] sowie die weitere Entwicklung blieb auf die deutschen Verfassungsrichter nicht ohne Eindruck. Bereits in seinem so genannten „Vielleicht-Beschluss“ vom 25. Juli 1979 betonte das Gericht die Notwendigkeit „einer möglichst einheitlichen Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts durch alle Gerichte im Geltungsbereich des EWG-Vertrages“ im Interesse „der Rechtssicherheit und der Rechtsanwendungsgleichheit“ und ließ es offen, „ob und gegebenenfalls inwieweit – etwa angesichts mittlerweile eingetretener politischer und rechtlicher Entwicklungen im europäischen Bereich – für künftige Vorlagen von Normen des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts“ der Kontrollanspruch aufrechterhalten werde.[67] Der entscheidende Schritt zu einer weitgehenden Rücknahme des Kontrollanspruchs wurde mit dem so genannten Solange II-Beschluss vom 22. Oktober 1986 vollzogen, in dem der Zweite Senat des Gerichts ausführlich darlegte, dass die Entwicklung des Gemeinschaftsrechts, insbesondere die von ihm im Einzelnen nachgezeichnete Rechtsprechung des EuGH, mittlerweile einen dem deutschen Recht vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleiste. Wörtlich heißt es:[68] „Solange die Europäischen Gemeinschaften, insbesondere die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Gemeinschaften, einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell gewährleisten, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleichzuachten ist, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgt, wird das Bundesverfassungsgericht seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht, das als Rechtsgrundlage für ein Verhalten deutscher Gerichte und Behörden im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland in Anspruch genommen wird, nicht mehr ausüben und dieses Recht mithin nicht mehr am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes überprüfen“. Damit hatte das Bundesverfassungsgericht einen auch für die Europäische Gemeinschaft akzeptablen modus vivendi gefunden, ohne den nationalen Verfassungsvorbehalt vollständig aufzugeben.

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Eine Rückkehr zu einer aktiveren Kontrolle des Gemeinschaftsrechts schien sich mit dem Maastricht-Urteil vom 12. Oktober 1993 anzudeuten. Der Zweite Senat sprach selbstbewusst von einem „Kooperationsverhältnis“ zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem EuGH[69] und betonte besonders die Abhängigkeit der Geltung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts in Deutschland von dem im Zustimmungsgesetz enthaltenen Rechtsanwendungsbefehl.[70] Nicht mehr vom Zustimmungsgesetz gedeckte Änderungen des „Integrationsprogramms“ und daraus hervorgehende „ausbrechende“ Rechtsakte seien im deutschen Hoheitsbereich nicht verbindlich, was der Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht unterliege.[71] Deutschland bleibe einer der „Herren der Verträge“.

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Mit der Doktrin der „ausbrechenden Rechtsakte“ wird implizit die Letztentscheidungsbefugnis des EuGH für die Auslegung des Primärrechts bestritten. Mit dessen übergreifendem Rechtsprechungsauftrag (Art. 220, 230 EG) ist das nicht in Übereinstimmung zu bringen.[72] Offensichtlich wollte das Bundesverfassungsgericht einen „Warnschuss“ gegen allfälliges ultra vires-Handeln des EuGH selbst abgeben, dessen dynamische Rechtsfortbildung auch in anderen Mitgliedstaaten auf Vorbehalte stößt.[73] Die paradoxe Frage des „Quis custodiet custodes?“, d.h. in der Konsequenz, welches der beiden Rechtsprechungsorgane tatsächlich ultra vires handeln würde, wäre im Übrigen selbst im Falle einer ausnahmsweise zulässigen Kontrolle nicht aufzulösen, da das Vorliegen der Ausnahme streitig bliebe. In seinem „Bananenmarkt“-Beschluss vom 7. Juni 2000 stellte der Zweite Senat klar, dass das Maastricht-Urteil an der „Solange II-Rechtsprechung“ nichts geändert habe und daher Verfassungsbeschwerden und Richtervorlagen wegen einer möglichen Verletzung von Grundrechten durch sekundäres Gemeinschaftsrecht nur zulässig seien, wenn im Einzelnen dargelegt werde, „dass der jeweils als unabdingbar gebotene Grundrechtsschutz generell nicht gewährleistet“, d.h. „die europäische Rechtsentwicklung einschließlich der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nach Ergehen der Solange II-Entscheidung [...] unter den erforderlichen Grundrechtsstandard abgesunken“ sei.[74]

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