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1. Das besondere verfassungsrechtliche Verhältnis zum Europarecht

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Da in der niederländischen Verfassung ausdrücklich weder auf die Europäische Union noch auf die Europäische Gemeinschaft Bezug genommen wird, sind die allgemeinen Prinzipien der innerstaatlichen Geltung und der unmittelbaren Wirkung des Völkerrechts anwendbar. Viele Verfassungsrechtsexperten sind jedoch der Ansicht, dass die Besonderheiten des Europarechts in der niederländischen Verfassung nicht ausreichend berücksichtigt werden. Es lässt sich schließlich nicht bestreiten, dass das Europarecht auf noch nie da gewesene Weise die niederländische Rechtsordnung beeinflusst und die EG sowie die EU folglich nicht mit anderen internationalen Organisationen vergleichbar sind. Dennoch bezieht sich Art. 90 Grondwet ausdrücklich nur auf die „Völkerrechtsordnung“, wodurch die Tatsache zu kurz kommt, dass die Europäische Union „eine eigenständige Rechtsordnung“[20] bildet, durch welche die niederländische Rechtsordnung in vielen Fällen verdrängt wird.

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Da in der niederländischen Verfassung jeglicher Bezug zum Europarecht fehlt, stellt sich die Frage, ob dessen Geltung in der niederländischen Rechtsordnung auf die in den einschlägigen Verfassungsbestimmungen (insbesondere Art. 93 und 94 Grondwet) enthaltenen allgemeinen Prinzipien oder auf das Recht der EU/EG selbst zurückzuführen ist.[21] In der Diskussion wurde zur Begründung der ersten Ansicht darauf hingewiesen, dass diese Verfassungsbestimmungen schon im Hinblick auf die Mitgliedschaft in internationalen Organisationen in die niederländische Verfassung aufgenommen wurden, und zwar einschließlich der nur kurz zuvor gegründeten Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Zudem könnten die niederländischen Gerichte aufgrund von Art. 94 Grondwet feststellen, ob das innerstaatliche Recht mit dem Völkerrecht übereinstimmt, einschließlich des von internationalen Organisationen geschaffenen Sekundärrechts. In den Debatten zur Verfassungsänderung im Jahre 1983 konnte die niederländische Regierung das Parlament wiederum überzeugen, dass Änderungen der Verfassung schon deswegen nicht erforderlich seien, weil das Europarecht durch eine entsprechende Auslegung der Bestimmungen einbezogen werden kann. Der Gesetzgeber verweist in der Tat allgemein auf die Art. 93 und 94 Grondwet, wenn Gesetze zur bloßen Umsetzung von Gemeinschaftsrecht verabschiedet werden. Auch in der niederländischen Rechtsprechung finden sich häufig Beispiele für diese Vorgehensweise.[22]

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Die Art. 93 und 94 Grondwet lassen sich jedoch nicht völlig problemlos auf das Europäische Gemeinschaftsrecht anwenden. Erstens heißt es in Art. 93 Grondwet, dass Verträge und Beschlüsse internationaler Organisationen nur „nach ihrer Bekanntmachung“ verbindlich sind. Weitergehende Regelungen zur parlamentarischen Zustimmung und Vertragsveröffentlichung sind in dem Gesetz über die Zustimmung zu und Bekanntmachung von Verträgen (Rijkswet goedkeuring en bekendmaking verdragen) enthalten. Auf der Grundlage dieses Gesetzes können internationale Organisationen (deren Gründungsvertrag im niederländischen Gesetzblatt zuvor veröffentlicht wurde) ihre Beschlüsse durch eigene Einrichtungen bekannt geben. Die Bekanntmachung von Entscheidungen wird aber nicht in allen Fällen auf der Grundlage des EG-Vertrages vorgenommen. Eine Ausnahme bilden vor allem Entscheidungen, welche auf Grundlage von Assoziierungsabkommen ergehen. Einige Autoren halten es daher für erforderlich, dass im niederländischen Gesetz über die Zustimmung zu und Bekanntmachung von Verträgen neben dem üblichen Hinweis auf das niederländische Gesetzblatt auch auf das offizielle Amtsblatt der Europäischen Union verwiesen wird.[23]

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Im Zusammenhang mit Art. 94 Grondwet stellt sich ebenfalls die Frage, ob auch die nicht unmittelbar wirksamen Bestimmungen des primären und sekundären Gemeinschaftsrechts Vorrang vor dem innerstaatlichen Recht haben. Schließlich ist gemäß Art. 94 Grondwet der Vorrang des Völkerrechts eindeutig auf unmittelbar wirksame Bestimmungen eingeschränkt. Zudem wird von einigen Autoren die Auffassung vertreten, dass Art. 94 Grondwet aufgrund seiner Entstehungsgeschichte nur bei Anwendung des Gemeinschaftsrechts durch die rechtsprechende Gewalt, nicht jedoch bei Anwendung durch die vollziehende Gewalt gilt. Dies steht im Widerspruch zu der vom Europäischen Gerichtshof vertretenen Auffassung, nach welcher auch die vollziehende Gewalt das nationale Recht im Falle eines Konflikts mit Gemeinschaftsrecht außer Acht lassen kann.[24] Schließlich könnte die Tatsache, dass Art. 94 Grondwet nur für das geschriebene Völkerrecht gilt, der Auffassung des Europäischen Gerichtshofes entgegenstehen, nach welcher auch die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts ein Bestandteil des europäischen Rechtssystems und folglich der innerstaatlichen Rechtsordnungen sind.

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Die im Jahre 2002 erfolgte Verfassungsänderung, welche sich im Wesentlichen auf die Mitwirkung des Parlaments bei Auslandseinsätzen der niederländischen Armee bezog, wurde nicht für die erforderlichen Änderungen der Verfassung hinsichtlich der Mitgliedschaft der Niederlande in der EU/EG genutzt. Während die Regierung eine Empfehlung der Ersten Kammer annahm und in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit einer Verfassungsänderung prüfte, kamen einige Verfassungsrechtsexperten zu dem Ergebnis, dass eine Änderung der Verfassung nicht unbedingt erforderlich sei, auch wenn vieles dafür spreche, Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit wieder in Einklang zu bringen.[25] Diese Auffassung entspricht tatsächlich der herrschenden Meinung in der wissenschaftlichen Diskussion, nach welcher die Art. 93 und 94 Grondwet hinsichtlich der Geltung des Gemeinschaftsrechts in der niederländischen Rechtsordnung keine Relevanz haben, weil dies auf der Grundlage des Gemeinschaftsrechts selbst geregelt ist. Demzufolge hätte das Gemeinschaftsrecht selbst dann die ihm heute zuerkannte Geltung, wenn diesbezüglich gar keine Verfassungsbestimmungen bestehen würden. Während der Hoge Raad ursprünglich die Auffassung vertrat, dass das Gemeinschaftsrecht über die Art. 93 und 94 Grondwet in die niederländische Rechtsordnung aufgenommen wird,[26] scheint ein erst kürzlich ergangenes Urteil die Diskussion zu diesem Thema nun entschieden zu haben. Der Hoge Raad hat in seinem Urteil vom 2. November 2004 ausdrücklich bestätigt, dass die Geltung einer Verordnung der EU nicht auf Art. 93 und 94 Grondwet beruht, sondern auf dem EG-Vertrag.[27] In diesem Fall argumentierte der oberste Gerichtshof, dass eine Person nicht aufgrund Art. 8 der EG-Verordnung 3820/85, welche die Harmonisierung einiger Sozialgesetze bezüglich des Straßengüterverkehrs regelt,[28] verurteilt werden könne, da diese Bestimmung keine unmittelbare Geltung im Sinne von Art. 93 Grondwet habe. Der Bestimmung komme keine Geltung in der niederländischen Rechtsordnung zu, weil Art. 93 Grondwet ausdrücklich beschränkt sei auf „Bestimmungen von Verträgen und Beschlüssen internationaler Organisationen, die ihrem Inhalt nach allgemeinverbindlich sein können“. Was die Rechtskraft der Verordnung betrifft, bezieht sich das Verfassungsgericht auf Art. 249 EG-Vertrag sowie auf eine ähnliche Bestimmung, welche in Art. 19 der Verordnung selbst enthalten ist. Darüber hinaus wird auf die hierzu einschlägige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Bezug genommen.[29] In ihren offiziellen Stellungnahmen zur Europäischen Verfassung aus dem Jahre 2004 ließ die niederländische Regierung erkennen, dass sie die gleiche Auffassung vertritt, und legte in Bezug auf Art. I-6 VVE dar, dass die niederländische Verfassung von Beginn an die Übertragung von Hoheitsrechten auf die EG vorsah. Dabei bezog sich die Regierung auf die Fälle Van Gend & Loos und Costa/ENEL und behauptete, dass die niederländische Verfassung keine Probleme mit dem neuen Art. I-6 VVE habe.[30]

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