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4. Die Offenheit der Verfassung und die Probleme der demokratischen Legitimation

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Nach den obigen Darstellungen galt in den Niederlanden bereits gewohnheitsrechtlich die Regel der unmittelbaren Wirksamkeit internationaler Verträge. Dies wurde im Zuge der Verfassungsänderung im Jahre 1953 normativ festgeschrieben. Dadurch sollte unter anderem die parlamentarische Mitwirkung bei der Zustimmung zu Verträgen gewährleistet werden. Schließlich wurde zur damaligen Zeit deutlich, dass internationale Verträge sich auf die niederländische Rechtsordnung auswirken könnten und somit ein ernstzunehmendes Demokratiedefizit entstehen könnte, wenn die reguläre Mitwirkung des Parlaments am Gesetzgebungsverfahren unterlaufen würde. Mit geringfügigen Änderungen blieb Art. 91 in der Verfassung aus dem Jahr 1983 erhalten, der nun wie folgt lautet:

„1. Ohne vorherige Zustimmung durch die Generalstaaten ist das Königreich nicht an Verträge gebunden und werden Verträge nicht gekündigt. Die Fälle, in denen keine Zustimmung erforderlich ist, bezeichnet das Gesetz.
2. Durch Gesetz wird bestimmt, in welcher Weise die Zustimmung erteilt wird. Das Gesetz kann eine stillschweigende Zustimmung vorsehen.
3. Enthält ein Vertrag Bestimmungen, die von der Verfassung abweichen bzw. eine solche Abweichung erforderlich machen, können die Kammern ihre Zustimmung durch Zweidrittelmehrheit der abgegebenen Stimmen erteilen.“

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Gemäß der Verfassung ist somit eine vorherige Zustimmung mit qualifizierter Mehrheit erforderlich, bevor einem Vertrag bindende Wirkung in den Niederlanden zukommt. Dies gilt seit der Verfassungsänderung im Jahr 1956[108] auch für die Kündigung von Verträgen durch die Regierung. Gemäß Art. 6 Abs. 1 des Gesetzes über die Zustimmung zu und Bekanntmachung von Verträgen ist eine ausdrückliche Zustimmung erforderlich, wenn Verträge von der Verfassung abweichen. Gemäß Art. 4 dieses Gesetzes kann diese Zustimmung nur durch Gesetz erfolgen. Gemäß Art. 6 Abs. 2 muss in einem Zustimmungsgesetz zu Verträgen, die von den Bestimmungen der Verfassung abweichen oder eine solche Abweichung erforderlich machen, die ausdrückliche Erklärung enthalten sein, dass die Zustimmung zu dem Vertrag nur unter der Voraussetzung erfolgt, dass Art. 91 Abs. 3 Grondwet eingehalten ist. Bestehen diesbezüglich Zweifel, so muss das Gesetz die Erklärung enthalten, dass die Zustimmung nur erteilt wird, „soweit oder sofern die Voraussetzungen des Art. 91 Abs. 3 eingehalten sind“[109]. In der Verfassung aus dem Jahre 1953 war die Möglichkeit einer stillschweigenden Zustimmung in Art. 61 ausführlich geregelt. Wie aus Art. 91 Abs. 2 der Verfassung in ihrer gegenwärtigen Form hervorgeht, kann eine solche Regelung nunmehr durch Parlamentsgesetz getroffen werden. Demzufolge ist gemäß Art. 3 des Gesetzes über die Zustimmung zu und Bekanntmachung von Verträgen entweder die stillschweigende oder ausdrückliche Zustimmung gestattet, wobei in Art. 5 des Gesetzes ein besonderes Verfahren für die stillschweigende Zustimmung vorgesehen ist. Die Ausnahmen zur regelmäßig erforderlichen parlamentarischen Zustimmung sind in Art. 7 des Gesetzes aufgezählt. Demnach ist eine parlamentarische Zustimmung nicht erforderlich, wenn

„a. die Ablehnung eines bestimmten Vertrages gesetzlich geregelt ist;
b. der Vertrag lediglich der Ausführung eines anderen Vertrages dient (sofern das Parlament keine andere Entscheidung trifft; siehe Art. 8 Abs. 2);
c. der Vertrag keine gewichtigen finanziellen Folgen und eine Laufzeit von höchstens einem Jahr hat;
d. außergewöhnliche Umstände und dringende Gründe die Geheimhaltung des Vertrages erfordern;
e. mit dem Vertrag offensichtlich ein bereits bestehender Vertrag verlängert werden soll (sofern das Parlament keine andere Entscheidung trifft); und
f. der Vertrag die Ausführungsbestimmungen eines bereits bestehenden Vertrages ändert.“

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Im Hinblick auf die Offenheit der Verfassung gegenüber dem Völkerrecht kommt dem Parlament bezüglich der Legitimität von Verträgen und internationalen Beschlüssen eine entscheidende Rolle zu. Dennoch findet sich in der Verfassung keine spezielle Bestimmung hinsichtlich der Mitwirkung des Parlaments in europarechtlichen Angelegenheiten. In der Praxis wird das Parlament jedoch vor, während und nach den Regierungskonferenzen ziemlich ausführlich über die Verhandlungen zu den neuen Verträgen der EU/EG informiert. Wie noch zu zeigen sein wird, hat das Parlament zahlreiche Möglichkeiten, auf die von der Regierung auf den Regierungskonferenzen verfolgte Politik Einfluss zu nehmen. Bei Anwendung der Konventsmethode ist der Einfluss des Parlaments sogar noch größer.

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Was den Einfluss des Parlaments auf das Sekundärrecht der EU/EG betrifft, liegen die Dinge etwas anders.[110] Das Parlament wird auf Grundlage der allgemeinen Bestimmung von Art. 68 Grondwet informiert, welcher wie folgt lautet: „Die Minister und die Staatssekretäre erteilen den Kammern gesondert oder in gemeinsamer Sitzung, mündlich oder schriftlich die gewünschten Auskünfte, wenn dies nicht dem Interesse des Staates widerspricht.“ Im Falle des Europarechts bestehen aufgrund dieser Bestimmung besondere Verfahren zur Information des Parlaments. Diese Verfahren werden nicht durch gesetzliche Bestimmungen geregelt, sondern basieren auf Vereinbarungen zwischen der Regierung und dem Parlament, die in Empfehlungen und Stellungnahmen niedergelegt sind. Vor Treffen des Europäischen Rates (und des Rates der Europäischen Union) wird das Parlament über die Tagesordnung sowie über den jeweiligen Standpunkt der Regierung informiert. Im Anschluss an das Treffen wird dem Parlament ein Bericht zugeleitet. Die Parlamentsdebatten werden auf der Grundlage der Tagesordnung wie auch des Berichts geführt.

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Neue Vorschläge zur europäischen Gesetzgebung werden von einer besonderen Arbeitsgruppe zur Bewertung neuer Kommissionsvorschläge zusammengefasst.[111] Diese Zusammenfassungen (fiches) bilden die Grundlage für die Diskussion im Ständigen Ausschuss für europäische Angelegenheiten und in anderen ständigen Ausschüssen, deren Zuständigkeit betroffen ist. Das Parlament war jedoch offensichtlich nicht immer in der Lage, die Auswirkungen und die Bedeutung von bestimmten Gesetzesvorschlägen zu beurteilen.[112] Die europäische Gesetzgebung ist häufig komplex und erfordert die Sachkenntnis von Rechtsgelehrten und anderen Europarechtsexperten. Während der Regierung ein Verwaltungsapparat zur Verfügung steht, mit dem sie den europäischen Entscheidungsprozess genau verfolgen und studieren kann, ist das Parlament weder in quantitativer noch in qualitativer Hinsicht in der Lage, in der Diskussion als ebenbürtiger Partner aufzutreten. Das Parlament ist häufig auf die Informationen der Regierung angewiesen, um sich eine eigene Meinung bilden zu können. Während die Abgeordneten der Ersten Kammer des Parlaments zumindest von einer kleinen Abteilung unterstützt werden, sind die Abgeordneten der Zweiten Kammer auf ihre persönlichen Referenten sowie auf ihre persönlichen Kontakte zu Universitätsprofessoren und anderen Fachleuten angewiesen. Es besteht diesbezüglich auch die Möglichkeit der Zusammenarbeit zwischen den Abgeordneten des niederländischen und denen des Europäischen Parlaments. Derzeit haben die Abgeordneten des Europäischen Parlaments gemäß der niederländischen Verfassung keine besonderen Rechte, wenngleich sie an der jährlichen Parlamentsdebatte zur Stellung der Niederlande in der Europäischen Union teilnehmen.[113] Der Austausch von Informationen erfolgt innerhalb der Parteien. Da es jedoch keine Abgeordneten mehr gibt, die zugleich Mitglied im Europäischen Parlament sind, findet eine strukturelle Zusammenarbeit nicht statt.

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Mit dem Zustimmungsgesetz zum Vertrag über die Europäische Union aus dem Jahre 1992 wurde ein spezielles Verfahren bezüglich Titel VI über die Zusammenarbeit im Bereich Justiz und Inneres (heute: Bestimmungen über die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen) und Titel IV des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (heute: Visa, Asyl, Einwanderung und andere Politiken betreffend den freien Personenverkehr) eingeführt. Das Verfahren fand bereits bei den Gesetzen zu den Schengener Abkommen aus den Jahren 1985 und 1990 sowie bei der Ratifikation der Verträge von Amsterdam und Nizza Anwendung.[114] In den genannten Gesetzgebungsbereichen ist es den Vertretern der Regierung nicht gestattet, ohne parlamentarische Zustimmung an der Entscheidungsfindung im Rat mitzuwirken, wenn die europäische Gesetzgebung nicht Gegenstand der Prüfung durch das Europäische Parlament im Wege des Mitentscheidungsverfahrens ist. Das Parlament benötigt einen Zeitraum von fünfzehn Tagen, um über den Entscheidungsentwurf zu beraten. Nach Ablauf des 15-Tage-Zeitraums wird eine stillschweigende Zustimmung angenommen, sofern nicht eine ausdrückliche Zustimmung erforderlich ist. In der Praxis erweist es sich für die Regierung als schwierig, die in dem Protokoll über die Rolle der einzelstaatlichen Parlamente in der Europäischen Union enthaltenen Fristen einzuhalten. Die Unzufriedenheit des Parlaments ist insbesondere dann verständlich, wenn das Zustimmungsverfahren nicht wie geplant durchgeführt werden kann.[115]

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Auffallend ist, dass ein gleiches Verfahren nicht für Entscheidungen im Rahmen von Titel V des EU-Vertrages (Bestimmungen über die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik) eingeführt wurde, ungeachtet der Tatsache, dass diese Entscheidungen ebenfalls Bindungswirkung für das Königreich der Niederlande haben können. Zudem ist die Mitwirkung des Europäischen Parlaments in Angelegenheiten der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) sogar noch schwächer als in anderen Bereichen. Zur Begründung wurde damals vorgebracht, dass Entscheidungen im Rahmen der GASP lediglich „politische“ Bindungswirkung haben und nicht mit der „Gesetzgebung“ in den anderen Bereichen verglichen werden können. Während dies bereits zur Zeit der Verabschiedung des Maastrichter Vertrages fragwürdig war, würde die Entwicklung der europäischen Rechtsordnung zumindest heute eine Gleichbehandlung der Entscheidungen im Rahmen der GASP erfordern.[116]

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Abgesehen von den Debatten über die einzelnen Vorschläge findet jedes Jahr ein allgemeiner Meinungsaustausch zwischen Regierung und Parlament auf der Grundlage eines von der Regierung „Zur Lage der Union“ genannten Berichts statt. Die Rechtsgrundlage für diese Berichte bilden womöglich die originären Zustimmungsgesetze zu den Verträgen zur Gründung der EWG und zur Gründung der Euratom aus dem Jahre 1957.[117] Die Tatsache, dass das Parlament aus zwei Kammern besteht, stellt jedoch ein ernsthaftes Problem für dessen Leistungsfähigkeit dar. Die Erste Kammer debattiert ausschließlich Fragen, welche bereits von der Zweiten Kammer entschieden wurden. Die Beeinflussung der europäischen Gesetzgebung wird dadurch erschwert, wie z.B. bezüglich der Planung des Zustimmungsverfahrens. Gemeinsame Sitzungen der Ersten und der Zweiten Kammer werden durch die Verfassung nicht ausgeschlossen (und sind in bestimmten Situationen tatsächlich vorgesehen) und könnten eine Möglichkeit zur Beschleunigung der Beratungen über die europäische Gesetzgebung bieten. Es könnte zumindest dadurch ein Anfang gemacht werden, dass die jährliche Debatte zur Lage der Nation in einer gemeinsamen Parlamentssitzung abgehalten wird.

Erster Teil Offene Staatlichkeit§ 19 Offene Staatlichkeit: Niederlande › III. Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Verfassung der Niederlande

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