Читать книгу Fanrea Band 2 - A.E. Eiserlo - Страница 5
Henk van Vaal
ОглавлениеEmma war in Ferienstimmung und überlegte schon den ganzen Tag, was sie für ihren geplanten Urlaub in Frankreich einpacken sollte. Berge von Klamotten türmten sich um sie herum, die sie abwechselnd ein- und wieder auspackte. Es war das totale Chaos.
Zum wiederholten Male öffnete ihre Mutter Marlene die Tür und steckte den Kopf in Emmas Zimmer: „Kann ich dir irgendwie helfen?“
„Nee, Mama. Habe ich dir mindestens schon zehn Mal gesagt.“ Genervt verdrehte Emma die Augen, sie wollte nicht abgelenkt werden, damit sie nichts vergaß. Wann wurde sie schon einmal von einem Magier auf sein Schloss in Frankreich eingeladen? Und dann war da ja auch noch John...
Marlene raschelte mit einer Tüte. „Ich habe dir ein Sommerkleid aus der Stadt mitgebracht.“
„Ein Kleid? Du weißt doch, dass ich keine Kleider anziehe.“
„Na ja, es gefiel mir so gut und ich dachte, es wäre schön für deinen Urlaub.“
Kopfschüttelnd zog Emma das Kleid aus der Tüte: „Ach, Mama, Blümchen und Spaghettiträger. Das geht ja gar nicht!“
„Hm, zieh es doch wenigstens mal an.“
„Och, nee.“
„Nur anprobieren, komm, mir zuliebe“, bat Marlene.
„Später, Mama“, stöhnte Emma.
„Na gut, später. Also, ich geh dann mal wieder.“ Seufzend schloss Marlene die Tür hinter sich.
Emma wollte das Kleid wieder in die Tüte stecken, doch dann zögerte sie und sah es sich noch einmal an. Würde es vielleicht nicht doch schön an ihr aussehen? Ihre Hände strichen über den Stoff des Kleides und ihre Gedanken schweiften ab zu John, der sonst in Fanrea lebte. Sie dachte an all die Momente mit dem Indianer und gestand sich ein, dass sie hauptsächlich nach Frankreich fahren wollte, um ihn wiederzusehen. John in der Menschenwelt! Was würde er wohl anziehen? Würde er sich auf der Erde wohlfühlen? Aufregung breitete sich in ihr aus und sie konnte es kaum noch erwarten, ihn endlich zu treffen.
Genug geträumt, sie musste weiter packen. Ihre Hände griffen nach Shorts, Tops und Chucks und sie warf alles in den Koffer. Dann blieb Emma zögernd vor dem Kleiderschrank stehen und starrte auf die anderen Kleider und Röcke, die ihre Mutter ihr aufgeschwatzt hatte und die sie nie trug.
In Shorts würde John ihre langen Beine sehen, aber vielleicht wäre es nicht so falsch, noch mehr Kleider einzustecken. Irgendwie war das doch weiblich. Oder nicht? Zweifelnd griff sie danach und packte mehrere Kleider und Röcke kopfschüttelnd in den Koffer. Sollte sie das wirklich anziehen?
Den Traumfänger und die Kette mit dem geschnitzten Delfinanhänger aus Jade durfte sie auf keinen Fall vergessen, beides hatte John für sie angefertigt. Ihr Herz schlug einen Takt schneller als sie nach dem Traumfänger griff und ihn ebenfalls in den Koffer steckte.
Auch ihre Digitalkamera landete im Koffer, die würde sie in Frankreich bestimmt brauchen. Ihre Mutter, die leidenschaftlich gern fotografierte, hatte ihr gezeigt, worauf sie achten sollte, um schöne Aufnahmen zu schießen. Seither wusste sie, was Lichtverhältnisse, Blickwinkel, Ausschnitt oder Blende bedeuteten.
Zuletzt nahm sie den magischen Wassertropfen von Sorin sowie den kleinen Flakon der Herrin vom See und steckte beide Kostbarkeiten ein.
Nach dem gefährlichen Abenteuer in Fanrea war Emma urlaubsreif, die Angst und die ständige Begegnung mit dem Tod saßen ihr noch tief in den Knochen. Ein paar entspannte Tage auf Magors Schloss im sonnigen Süden waren nun genau das Richtige.
In zehn Minuten hatte Ben seinen Koffer gepackt und ihn danach zufrieden in seinem Zimmer abgestellt. Jetzt begleitete seine Mutter Nora ihn zu einem Augenarzt, einem zweiten Spezialisten. Dort erfuhren sie, dass Bens Augenkrankheit auf wundersame Weise geheilt worden war. Schmunzelnd nahm Ben es zur Kenntnis, er hatte nichts anderes erwartet.
Der Arzt dagegen war völlig perplex. Immer wieder begann er mit der Untersuchung von vorne, murmelte konfus vor sich hin, schaute in die Unterlagen seines Kollegen und rief diesen schließlich an. Am Ende wollte er Ben zu einem dritten Spezialisten schicken, aber Ben lehnte das ab, er wusste ja mit Sicherheit, dass er geheilt war.
In Gedanken versunken gingen Mutter und Sohn zurück zum Auto. Fassungslos fragte Nora: „Wieso freust du dich denn gar nicht? Du müsstest doch vor Glück zerspringen. Das ist quasi eine Wunderheilung!“
Wie sollte Ben ihr erklären, dass er seine Freude schon in Fanrea, am See der Heilung, ausgelebt hatte?
Kopfschüttelnd betrachtete Nora ihn von der Seite: „Du bist sowieso sehr merkwürdig seit ein paar Tagen.“
„Wieso merkwürdig?“
„Das ist ja das Schlimme: Ich weiß es nicht!“
Nachdenklich schwieg seine Mutter. Ben tat, als würde er es nicht bemerken und begann schnell mit einem anderen Thema: „Wann müssen wir in der Psychiatrie bei Henk van Vaal sein?“
„Um vierzehn Uhr, aber lenk nicht vom Thema ab. Was ist los mit dir? Du verheimlichst mir doch etwas. Du bist so, so, ach, ich weiß auch nicht, verändert, erwachsener irgendwie.“
Langsam wusste Ben nicht mehr, wie er sich aus der Affäre ziehen sollte und starrte grübelnd aus dem Autofenster. Natürlich war er verändert, er war durch ein Weltentor in eine fremde Welt gereist, wo er von Zwergen und Elfen zu einem Krieger des Lichts ausgebildet worden war. Dort hatte er mit seinem Schwert töten müssen, konnte inzwischen ein wenig Magie anwenden und war von seiner Augenkrankheit geheilt worden. Doch wie sollte er das seiner Mutter erklären, die in der Psychiatrie arbeitete? Wenn er ihr die Wahrheit erzählte, würde sie ihn sofort zu ihrem Patienten, Henk van Vaal, einweisen lassen.
Ein Stück weit war Ben tatsächlich erwachsen geworden. Die Begegnung mit dem Tod, grenzenloser Angst, körperlichen Schmerzen, aber auch tiefer Freundschaft und die Bereitschaft, sein Leben für andere zu riskieren, hatten ihn reifen lassen. Auch sein Äußeres hatte sich verändert, sein Gesicht war kantiger geworden, sein Körper muskulöser.
Verlegen schaute er zu seiner Mutter: „Mama, alles ist wie immer, mach dir keine Sorgen. Nimm meine Heilung doch einfach als Geschenk Gottes an und versuch nicht immer alles zu erklären. Es ist, wie es ist.“
Das mit dem Geschenk entsprach nur indirekt der Wahrheit, denn seine Heilung war harte Arbeit gewesen. Die Elfe Osane hatte ihn gelehrt, dass jedes Leben aus Lernaufgaben besteht. Alle gelösten Probleme bringen einen weiter auf dem persönlichen Weg der Entwicklung. Ben fand, er war ein gelehriger Schüler gewesen und am Ende für seine tiefen Einsichten mit der Heilung belohnt worden.
Völlig entgeistert starrte seine Mutter ihn an, erwiderte aber nichts. Fast bekam Ben einen Lachflash, weil die Situation völlig absurd war, verkniff es sich jedoch. Nora und er waren nach dem Arztbesuch nun auf dem Weg in die Psychiatrie. Ben hatte darum gebeten, seine Mutter noch einmal dorthin begleiten zu dürfen, weil er sich angeblich für ihre Arbeit interessierte. Tatsächlich wollte er unbedingt mit Henk van Vaal sprechen.
Es hatte einige Überredungskünste gebraucht, aber schließlich stimmte seine Mutter zu. Ben hatte sich in die Idee verrannt, dass dieser Henk gar nicht verrückt, sondern, wie er selbst, in einer anderen Welt gelandet war. Seine irren Geschichten waren keine Hirngespinste, sondern Wirklichkeit. Henks Beschreibung der eiskalten, aber wunderschönen Hexe konnte nur auf eine passen: Xaria!
„Wie ist Henk denn drauf zur Zeit?“, bemühte sich Ben, das Gespräch in andere Bahnen zu lenken.
„Es läuft langsam besser mit ihm, wir konnten die Medikamente reduzieren und er ist viel ruhiger geworden. Vergangene Woche hatte ich ein längeres Gespräch mit ihm, in dem er mich bat, ihm weniger Pillen zu geben, weil er nicht daran kaputt gehen wollte. Und weißt du was? Ich habe mich tatsächlich darauf eingelassen und seither wirkt er auf mich fast normal. Nur deshalb konnte ich deiner Bitte nachkommen und dich zu ihm lassen, was grundsätzlich verboten ist. Damit du Bescheid weißt: Ich habe gesagt, dass du ein Referat für die Schule schreibst und eventuell bei uns ein Praktikum machen möchtest.“
Entsetzt verdrehte Ben die Augen und meuterte: „Das werde ich ganz bestimmt niemals machen. Den ganzen Tag mit irgendwelchen Bekloppten.“
„Ben!“, stieß seine Mutter entsetzt hervor. „Das sind keine Bekloppten! Ich verbiete dir diese Ausdrucksweise.“
„Entschuldige, tut mir leid“, nuschelte ihr Sohn. Seine Bezeichnung war tatsächlich mies gewesen, aber es war ihm einfach so herausgerutscht.
Nach der Ankunft in der Klinik musste Ben die übliche Prozedur an der Pforte über sich ergehen lassen. Seine Mutter hatte ihn inständig gebeten, Henk nicht nach seinen Wahnvorstellungen zu fragen, aber genau das war der Grund, weshalb Ben mit ihm sprechen musste.
Ein langer, trostloser Gang erwartete sie, Ben hörte irgendwann auf, die Zimmertüren zu zählen, an denen sie vorbei kamen. Aus einigen Zimmern drangen Schreie, Stöhnen oder unartikulierte Laute und Ben schüttelte sich. Der sterile Geruch nach Desinfektionsmitteln war so intensiv, dass Ben durch den Mund atmete.
Schließlich standen sie vor Henks Zimmertür, automatisch schaute Nora durch das kleine, runde Fenster und murmelte: „Ach, er sitzt am Fenster.“
Nora klopfte an, öffnete die Tür und trat ein. Angespannt folgte Ben ihr und atmete tief ein und aus, um seine Anspannung zu lösen. Während seine Mutter Henk begrüßte, betrachtete Ben das karge Zimmer. Er war auf einiges gefasst gewesen, doch das hier war noch trostloser als in seiner Vorstellung: Ein Krankenhausstahlbett, ein Stuhl mit einem kleinen Tisch, ein Schrank, das war`s.
Verschreckt musterte Henk die Neuankömmlinge und wagte dann ein zögerliches Lächeln als er Nora erkannte, die nur kurz bei ihnen blieb, da sie zu einem anderen Patienten gerufen wurde. Endlich war Ben mit Henk van Vaal allein.
„Deine Mutter ist die Einzige, der ich hier halbwegs vertraue“, murmelte Henk.
„Ich denke, ich würde in dieser Anstalt auch niemandem vertrauen. Aber meine Mutter ist schon okay“, antwortete Ben vorsichtig. Wie sollte er ihm nur klar machen, warum er eigentlich hier war?
„Warum wolltest du mit mir sprechen?“, fragte Henk ganz unverblümt. Verunsichert überlegte Ben, ob er einfach mit der Wahrheit herausplatzen durfte oder ob er damit eine monatelange Therapie kaputt machte.
„Komm, sag schon. Weshalb bist du hier? Ich bin nicht so verrückt, wie alle meinen. Du kannst ganz offen mit mir reden. Oder ist das nur ein verdeckter Test deiner Mutter, ob ich wirklich geheilt bin?“
Ben fühlte sich immer unwohler, es war dumm gewesen, ohne Plan hierhin zu kommen und er wünschte, Emma wäre bei ihm. Er entschloss sich, bei der Wahrheit zu bleiben und sein Anliegen offen vorzutragen.
Mit gemischten Gefühlen betrachtete Ben sein Gegenüber und sah diesen Mann im mittleren Alter vor sich, dessen Leben von einer durchtriebenen Hexe zerstört worden war. Henk hatte ein nettes Gesicht mit lieben Augen, in denen aber auch tiefer Schmerz eingegraben war und Ben wollte ihm gern helfen. Er gab sich einen Ruck: „Henk, ich weiß nicht, ob es gut ist, dass ich mit diesem Thema anfange und meine Mutter würde ausrasten, wenn sie wüsste, worüber ich mit Ihnen rede, aber ich muss es einfach tun. Ich glaube Ihnen ihre Geschichte.“
In grenzenloser Panik weiteten sich Henks Augen, er knetete nervös seine Hände und Schweiß trat auf seine Stirn. Gequält stöhnte er: „Nein, bitte nicht darüber reden. Ich möchte das abschließen, wieder ein normales Leben führen, ich will mein Leben zurück.“ Seine Stimme erstarb, seine Hände verkrampften sich ineinander und er wiegte den Oberkörper vor und zurück.
Schließlich schluchzte er: „Ich muss hier raus, ich ertrage diese nächtelangen Schreie nicht mehr, die Zwangsjacken und Gummizellen*, die vielen Pillen und die Gewaltanwendung. Ich kann nicht mehr, sonst werde ich wirklich irgendwann wahnsinnig.“ Mit glasigem Blick starrte er geradeaus und schwieg.
Ben war völlig überfordert und bereute, dass er hierhin gekommen war. Er hatte alles vermasselt.
Plötzlich packte Henk wütend Bens Hand und drückte schmerzhaft zu: „Wer bist du und was willst du von mir? Lüg nicht herum! Der Leiter hat dich mir auf den Hals gehetzt oder diese Hexe! Was will sie von mir?“ Sein Griff verstärkte sich.
Zunächst saß Ben wie erstarrt da, aber dann wurde er wütend. Hitze schoss in seinen Bauch und flutete von dort aus seinen gesamten Körper, er schüttelte die Hand ab, sprang auf und rief energisch: „Sie tun mir weh!“
Erschrocken ließ Henk von ihm ab und begann zu zittern. „Bitte tu mir nichts, ich will keine Medikamente und ich will keine Angst mehr haben.“ Er schluchzte und Tränen strömten seine Wangen entlang.
Ben verzweifelte, alles lief falsch. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür und ein muskelbepackter Wärter mit Gummiknüppel kam herein. Aus eiskalten Augen musterte er Henk und spielte nervös mit seinem Schlagstock:
„Na, Henk, wieder einer deiner Tobsuchtsanfälle? Gummizelle oder Spritze?“, spottete er und lächelte bösartig.
Pures Entsetzen stieg in Ben hoch und er wandte sich an den Wärter: „Nichts davon. Es ist alles in Ordnung. Sie können wieder gehen.“
Der Wärter stutzte und räusperte sich verunsichert, er war es nicht gewohnt, dass Jugendliche so mit ihm sprachen. Da erhob Ben sich und sah dem Wärter direkt in die Augen, es war ein Kräftemessen der besonderen Art. Die Brutalität des Wächters prallte auf Bens Magie, die Luft knisterte und die Situation drohte zu eskalieren. Schließlich zwang etwas in Bens Blick diesen Typen, wegzuschauen und das Zimmer zu verlassen. Ben war erleichtert, das war äußerst knapp gewesen. Vor seinem Aufenthalt in Fanrea wäre es ihm nicht gelungen, einen so gewalttätigen Kerl nur mit seinem Blick zu bezwingen.
Leise weinte Henk vor sich hin, er ertrank fast in seiner Angst. Ben fühlte mit ihm, aber so kamen sie nicht weiter. Ungeduldig wandte er sich um und sprach den wimmernden Mann energisch an: „Henk, hören Sie auf zu weinen. Das hilft Ihnen auch nicht. Wenn Sie sich jetzt zusammenreißen, kann ich Ihnen vielleicht helfen. Bitte!“
Henk rieb sich die Tränen weg, straffte den Rücken und flüsterte verstört: „Ich bin nur noch ein menschliches Wrack. Und ich schäme mich, so ein Jammerlappen zu sein. Die haben mir meine Würde genommen und meine Selbstachtung. Erst diese Hexe mit ihrer Folter und ihren Demütigungen und dann das hier. Ich wünschte, ich wäre tot.“
Der Mann tat Ben unendlich leid und eine Welle von Mitgefühl überflutete ihn. „Ich hole sie hier raus, das verspreche ich Ihnen. Aber Sie müssen mir die Wahrheit sagen.“
Mühsam beherrschte sich Henk: „In Ordnung. Was möchtest du wissen?“
„Kennen Sie jemanden, der Xaria heißt?“
Das blanke Entsetzen spiegelte sich in Henks Augen und er konnte nur nicken.
„Sind Sie auf Hydraxia gewesen?“
Erneutes Nicken.
„Okay, ich dachte es mir. Wissen Sie, ich war auch in einer anderen Welt, die heißt Fanrea, aber ich war freiwillig dort, weil ich eine Mission zu erfüllen hatte. Dort bin ich auf die Hexe Xaria gestoßen und bin ihr nur knapp entkommen.“
Misstrauisch unterbrach Henk ihn: „Bitte, sei ehrlich, ist das eine Falle deiner Mutter, um meinen Geisteszustand zu prüfen?“
Seufzend beruhigte Ben: „Ich weiß nicht, wie ich Sie dazu bringen soll, mir zu vertrauen. Sie müssen es einfach tun. Nein, das ist keine Falle und meine Mutter weiß natürlich nicht, dass ich in einer anderen Welt war. Sie würde mir ja doch nicht glauben, sondern mich hier einliefern lassen.“
Ein schiefes Grinsen breitete sich in Bens Gesicht aus: „Niemand glaubt einem solche Geschichten. Ich bin aus zweierlei Gründen hier: Einerseits möchte ich Ihnen helfen und andererseits hoffe ich, von Ihnen Informationen über Hydraxia zu erhalten. Diese Xaria hat uns etwas sehr Kostbares gestohlen, das wir unter allen Umständen wieder haben müssen und ich denke, Ihre Informationen können uns helfen.“
Die ganze Zeit hatte Henk ihn fassungslos angestarrt und plötzlich schien dieser gebrochene Mann einen kleinen Funken seines alten Selbst wiederzufinden. Seine Augen wirkten lebendiger, fast hoffnungsvoll und seine Körperhaltung veränderte sich.
„Ja, ich werde dir alles erzählen, aber dazu wird die Zeit nicht ausreichen. Deine Mutter wird dich gleich abholen und uns unterbrechen. Wie willst du mich denn hier rausholen?“
„Ehrlich gesagt, weiß ich das jetzt noch nicht, aber ich werde einen Weg finden. Ganz sicher, das verspreche ich Ihnen. Zur Not muss uns Magie helfen.“
Verschwörerisch kniff Ben ein Auge zu und Henk nickte aufgeregt. „Aber wo soll ich hin? Ich habe kein Zuhause mehr und niemand vermisst mich da draußen, ich kann nirgendwohin. Meine Familie hat sich von mir abgewandt und den Kontakt zu mir abgebrochen.“
„Vielleicht gehen Sie ja nach Fanrea, da ist es schön, nur manchmal ein bisschen gefährlicher als in unserer Welt. Denken Sie darüber nach.“
„Ich kenne dieses Fanrea doch überhaupt nicht.“
„Dann verstecke ich Sie erst einmal bei Esther, der Tante meiner Freundin, und wir überlegen später, wo sie bleiben. Aber nun erzählen Sie so viel, wie Sie schaffen, bis meine Mutter kommt. Und verhalten Sie sich anschließend so normal, wie irgendwie möglich. Spielen Sie allen vor, dass Sie geheilt sind, bis ich Sie befreien kann. Einverstanden?“
„Einverstanden! Also ich fange mitten in der Geschichte an, weil das für dich wohl der wichtige Teil ist, oder? Xaria hielt mich in einer Art Kerker gefangen, sie gab mir genau so viel Essen und Wasser, dass ich nicht sterben konnte. Die meiste Zeit hingen meine Arme in Ketten, mein ganzer Körper bestand nur noch aus Qual. Jeden Tag kam Xaria mit einem Skalpell und schnitt mich damit an einer beliebigen Stelle. Manchmal hielt sie einen Becher darunter, um mein Blut aufzufangen oder sie saugte es direkt aus der Wunde. Ihr diabolisches Grinsen verfolgt mich bis heute in meine Träume.“
Henk schloss die Augen und musste eine kurze Pause machen, weil die schreckliche Erinnerung ihn überwältigte. Ben wurde fast übel und hätte gern auf die weitere Geschichte verzichtet.
Heiser fuhr Henk fort: „In meinem Kerker befanden sich weitere Gefangene, nicht nur Menschen, sondern auch andere Wesen: Elfen, ein halbtoter Zwerg, ein gewaltiger Tiger und ein Horbut. Wir wurden allesamt gefoltert und waren sehr schwach, daher unterhielten wir uns nicht viel. Jeder war zu sehr damit beschäftigt, am Leben zu bleiben. Dennoch stärkte uns die Gemeinschaft, so mussten wir dieses elende Schicksal nicht alleine ertragen. Wenn zu der Qual noch die Einsamkeit gekommen wäre, dann hätte ich nicht überlebt. Aber uns ging es noch gut, im Vergleich zu den Sklaven, die in den Diamantenminen schuften mussten.“
„Was für Diamantenminen? Wo sind die?“
Verzweifelt bedeckte Henk seine Augen mit den Händen und schüttelte den Kopf, um die furchtbaren Bilder loszuwerden. Seufzend fuhr er dann fort: „Sie besitzt riesige Diamantenminen, in denen hauptsächlich Kinder und Eidechsenmenschen unter erbärmlichen Bedingungen schuften. Ich überspringe nun meine Leidensgeschichte, weil sie dir nicht weiterhilft. Du möchtest wahrscheinlich Informationen über Xarias Schloss haben. Nun, es ist riesengroß, doch die Hexe verbrachte die meiste Zeit im Nordtrakt, und dorthin wurden wir manchmal gebracht, um ihr beim Essen zuzusehen. Begleitet wurde ich von Steinsoldaten, die mir keine Chance zur Flucht ließen. In ihrem privaten Bereich, der sich über mehrere Etagen erstreckte, befanden sich unter anderem Esszimmer, Schlafzimmer, eine riesige Bibliothek, ein großer Waffenraum und eine Schatzkammer. In ihrem Schlafzimmer befand sich ein Setzkasten mit klein gezauberten, bewegungsunfähigen Wesen, die sie ab und zu herausnahm, um sie zu quälen oder mit ihnen zu spielen.“
Angewidert schüttelte Ben den Kopf und murmelte: „Ekelhaft.“
„Ja, ekelhaft. Ab und zu spielte sie mit mir Schach und auch dafür benutzte sie irgendwelche verzauberten Wesen. Wenn ich brav mit ihr spielte, bekam ich eine Belohnung in Form von einem richtigen Essen, einem Bad oder zwei Tage ohne Ketten. Je besser ich spielte, umso reichhaltiger fiel die Belohnung aus.“
Nervös tigerte Henk von einer Ecke des kleinen Zimmers in die andere und wieder zurück. Er räusperte sich und fuhr mit belegter Stimme fort: „An manchen Tagen schien Xaria besonders schlechte Laune zu haben und peitschte uns alle aus. Erst wenn unsere Haut aufplatzte und das Blut an uns herunterfloss, besserte sich ihre Stimmung. Manchmal kam ein Diener und hat unsere Wunden notdürftig versorgt, an guten Tagen heilte Xaria uns mit Magie. Manchmal starb einer an seinen Verletzungen. Aber ich verliere mich schon wieder in Details.“
Henk unterbrach sich, massierte mit seinen Fingern kurz seine Schläfen, so als ob er sich dadurch besser konzentrieren könnte. Gequält schaute er Ben mit einem langen, schmerzerfüllten Blick an und eine einzelne Träne stahl sich aus seinem Auge.
In einer beruhigenden Geste legte Ben eine Hand auf Henks Schulter. „Sie werden Ihren Frieden wiederfinden und die Bilder in Ihrem Kopf verblassen irgendwann. Ich kenne jemanden, der ihnen dabei helfen wird.“ Er dachte an die Elfe Osane und ihre Fähigkeiten, Körper, Geist und Seele zu heilen.
Dankbar sah Henk ihn an und redete schließlich leise weiter: „Du musst wissen, wie ich geflohen bin. In Xarias Schlafzimmer befand sich ein großer Spiegel, der in andere Welten führt und durch ihn konnte ich fliehen. Überall in ihrem Schloss waren Wächter und steinerne Monster, die die Hexe beschützten und auf die Gefangenen aufpassten. Es gab Fallgruben und versteckte Waffen, die einen plötzlich attackierten, Giftspeier und andere Widerlichkeiten. Deshalb war es äußerst schwierig, von dort fortzukommen. Und ins Schloss einzudringen wird genauso schwer werden.“
Mit einer müden Geste strich Henk sich die Haare aus der Stirn und trat zu dem vergitterten Fenster, um hinauszusehen. Seufzend erzählte er: „Die meisten Gefangenen befanden sich damals im Südturm und ich wünschte, ich hätte sie befreien können. Aber meine Flucht ergab sich durch einen Zufall, als ich mich in ihrem Schlafzimmer befand, um eine Partie Schach zu spielen. Ich glaube, es hat mir das Leben gerettet, dass ich als Einziger Schach spielen konnte und auch ein ernst zu nehmender Gegner war, denn sie hasste nichts mehr als Langeweile.“
Mit einem Mal wurde die Tür geöffnet und die beiden wurden mitten in ihrem Gespräch unterbrochen. Bens Mutter betrat das Zimmer und sah erschöpft aus. Innerlich fluchte Ben, er hatte auf mehr Zeit mit Henk gehofft.
„Na, ihr zwei! Alles okay? Worüber habt ihr gesprochen?“, fragte sie gespielt heiter.
„Sie haben einen äußerst netten Sohn, Frau Doktor. Er hat mir von der Schule erzählt und ich ihm einiges vom Klinikalltag. Ich hoffe, ich habe ihn nicht gelangweilt“, antwortete Henk. Dann stand er auf und sagte höflich: „Ich danke Ihnen für den Besuch Ihres Sohnes, er hat mir etwas Freude und Hoffnung in mein Leben gebracht und mich daran erinnert, wer ich wieder sein will.“
Zu Ben gewandt fügte er hinzu: „Danke für das, was du mir geschenkt hast. Du hast mir den Glauben an eine Zukunft wiedergegeben.“
Verwirrt schaute Bens Mutter zwischen den beiden hin und her. Ihr Sohn ergriff Henks Hand, schüttelte sie zum Abschied und meinte: „Verlieren Sie die Hoffnung nicht wieder und vertrauen Sie mir. Die Hoffnung stirbt zuletzt*.“
Die zwei lächelten sich verschwörerisch an, dann verließ Ben mit Nora das Zimmer. Vor der Klinik standen Mutter und Sohn sich etwas unsicher gegenüber, bis sie vorschlug: „Ich habe meinen Dienst getauscht, ich finde, heute ist ein ganz besonderer Tag, wir sollten deine Wunderheilung feiern. Was meinst du?“
Ben versuchte, fröhlich auszusehen, aber das fiel ihm sehr schwer, weil er dauernd an den armen Henk und das ihm gegebene Versprechen denken musste. „Das finde ich toll“, brachte er wenigstens zustande und sie machten sich auf den Weg zurück zum Auto.
Als sie auf dem Heimweg waren, konnte Ben sich nicht länger zusammen reißen und platzte heraus: „Mama, ich finde, du solltest deinen Beruf wechseln! In diesem Beklopptenheim wird jeder auf Dauer selbst verrückt, der dort zu lange arbeitet. Du bist immer müde und siehst total ausgelaugt aus. Du lachst kaum noch.“
Er erwartete Widerspruch und Zurechtweisungen, doch seine Mutter schwieg und starrte nur stur geradeaus. Nach endlosen Sekunden meinte sie dann zaghaft: „Ich denke seit Längerem über einen Ausstieg nach, aber ich habe mich nie getraut, darüber zu sprechen.“
Plötzlich trat sie auf die Bremse, setzte verspätet den Blinker und fuhr schnell rechts in eine Haltebucht. Tränen liefen ihre blassen Wangen hinunter und sie schluchzte laut auf: „Ich kann so nicht mehr weitermachen. Ich bin überrascht, dass du damit angefangen hast, aber alles, was du gesagt hast, stimmt. Die Patienten werden nicht gut behandelt und ich habe das Gefühl, selber durchzudrehen.“
Mit dieser Reaktion hatte Ben überhaupt nicht gerechnet, dieser Tag war echt anstrengend. Verlegen kramte er nach einem Taschentuch und reichte es seiner Mutter, die es dankbar annahm.
Sie schnäuzte sich die Nase und wischte ihre Tränen weg. „So, jetzt ist es heraus und das ist auch gut so. Ich habe schon einen Plan, ich mache meine eigene Praxis auf. Was hältst du davon?“
Erleichtert stimmte Ben ihr zu: „Alles ist besser, als dieser Irrsinn da. Wenn du noch lange so weitermachst, dann wirst du selber krank werden. Du kannst nicht gegen deine Überzeugungen leben, dein Körper zwingt dich sonst in die Knie.“
„Wie kommst du denn zu solchen Gedanken? Du hörst dich fast wie Esther an.“
Ben grinste verhalten: „Mag sein, aber es ist doch tatsächlich so. Unter allen Leidenschaften der Seele bringt die Traurigkeit am meisten Schaden für die Seele.*
Stirnrunzelnd musterte Nora ihren Sohn, dann wurde ihr Gesichtsausdruck ganz weich: „Weißt du, dass ich das erste Mal seit langer Zeit das Gefühl habe, dass wir uns wirklich nah sind? Danke für deine ehrlichen Worte und dass du überhaupt bemerkt hast, dass es mir nicht gut geht. Schön, dass du dir Gedanken über mich machst.“
Tief berührt ergriff Ben die Hand seiner Mutter und drückte sie. „Mama, ich hab dich lieb“, flüsterte er, obwohl ihm das ein bisschen schwerfiel, aber er spürte, dass genau jetzt der richtige Moment dafür war.
Gerührt schaute sie ihn an: „Ich dich auch.“