Читать книгу Fanrea Band 2 - A.E. Eiserlo - Страница 9

Urlaub in Frankreich

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Fast hatten Esther und ihre Begleiter das Ziel erreicht, und in dem alten Volvo vermischten sich Aufregung und Vorfreude miteinander, besonders Emma verspürte ein Kribbeln im Bauch. Mit der Straßenkarte in der Hand vermutete Ben: „Ich glaube, da vorne geht ein kleiner Weg ab und dann müssten wir da sein. Wird auch langsam Zeit, mir knurrt der Magen.“

Tatsächlich zweigte eine schmale, asphaltierte Straße ab und an einem verwitterten Holzstamm hing ein Metallschild: „Chateau d`Aigles“.

„Ja, das ist es“, bestätigte Esther und setzte den Blinker.

„Warte mal!“, rief Emma. Unter dem Schild des Chateaus befand sich ein Plakat, das an einem Holzpfosten befestigt war. Darauf stand: Marché aux puces du livres*. Ein Bücherflohmarkt!

Interessiert las sich Emma den Text durch und merkte sich Ort und Datum, das war ihr Ding, da musste sie unbedingt hin. Ein Energiestrom floss durch ihren Körper und die kleinen Härchen auf ihrer Haut stellten sich hoch. Wie ein Blitz schoss das Bild eines Buches durch ihren Kopf und eine Stimme wisperte: „Finde mich, ich warte auf dich.“

„Können wir weiter?“, fragte Esther.

„Äh, ja.“ Nachdenklich nickte Emma. Ganz deutlich hatte sie das Buch gesehen und gehört. Der Einband des Buches war aus Drachenschuppen gefertigt, deshalb fragte sie sich, ob das Buch überhaupt für sie bestimmt war. Oder für Melvin, den Drachenreiter? War sie jetzt doch schon eine Hüterin der Bücher? Unbedingt musste sie zu diesem Bücherflohmarkt, egal für wen das Buch nun war.

Esther bog ab und folgte dem Weg, der sich nach einer Weile gabelte, aber weiterhin ausgeschildert war. Alte Trockenmauern, die auch schon bessere Tage gesehen hatten, säumten die Straße, einzelne Olivenbäume spendeten ein wenig Schatten in der flirrenden Mittagssonne. Links und rechts waren Felder mit Weinreben, an denen pralle Trauben hingen.

Schließlich kamen sie an ein geschmiedetes Eisentor, das einladend seine Flügel geöffnet hatte und auf dessen Steinpfeilern zwei aus Sandstein gemeißelte Adler saßen. Hoch aufgerichtet und mit intensivem Blick bewachten die beiden lebensgroßen Figuren das Tor. Als der Wagen das Tor passierte, drehten die beiden Steinadler ihre Köpfe und schauten dem Auto hinterher.

„Habt ihr das gesehen? Die Adler haben sich bewegt!“, rief Emma erstaunt. Aber Esther war mit Schalten beschäftigt, Ben mit der Straßenkarte, deshalb hatten beide es nicht wahrgenommen.

Esther lachte auf: „Hast du etwa geglaubt, auf Magors Schloss gäbe es keine Magie, nur weil wir auf der Erde sind?“

„Du hast recht“, kicherte Emma.

Unvermittelt machte die Straße einen Knick und eine breite Allee tauchte vor ihren Augen auf. Riesige Platanen flankierten links und rechts die Straße und begleiteten sie circa zwei Kilometer bis zu einem Vorplatz, dessen Mittelpunkt ein Brunnen bildete. Der Wagen kam knirschend auf dem Kies zum Stehen. Die drei und ihre tierischen Begleiter stiegen aus und bestaunten das vor ihnen liegende Schloss.

Den Neuankömmlingen verschlug es die Sprache, der Anblick war atemberaubend: Ein riesiges Gebäude aus beigem Sandstein mit vielen Fenstern, Balkonen und Türmen. Eine breit geschwungene Treppe führte zu einer Terrasse, die von rankendem Blauregen überwuchert wurde. Umgeben war das Schloss von einem prachtvollen Garten, der dominiert wurde von Rosen und Lavendel, deren intensiver Duft die Sinne betörte. Immer wieder lockten Sitzplätze unter schattenspendenden Bäumen zum Entspannen ein.

Aus dem Brunnen sprudelten Fontänen, deren Sprühwasser kühlend zu ihnen hinüberwehte. In der glühenden Hitze zirpten unermüdlich die Grillen, ansonsten regte sich nichts.

Auf einmal öffnete sich das große Eingangsportal und jemand schlenderte die Treppe herunter: Magor! Er trug verblichene Espadrilles*, eine zerknitterte Leinenhose, ein lässiges Hemd, und auf dem Kopf einen zerfransten Strohhut. Sein Bart war kürzer als in Fanrea und er strahlte entspannt über das gebräunte Gesicht: „Seid herzlich willkommen, fühlt euch wie Zuhause. Ihr werdet von euren Freunden schon ungeduldig erwartet!“

Als Fips und die Rattenbrüder übereinander purzelten, verpasste Jidell seinem Bruder einen Kinnhaken. Magor schmunzelte. „Wen habt ihr denn da noch im Schlepptau, Esther? Zwei Ratten und unseren Lebensretter Fips.“

Die Ankömmlinge begrüßten ihrerseits Magor, dann platzte es auch schon aus Emma heraus: „Wo sind die anderen?“

„Am Pool, im hinteren Teil des Gartens. Lauft nur hin. Ihr müsst um das Gebäude herum und dann dem Gejohle folgen.“

Emma und Ben rannten los. Die Ratten hoben die Nasen witternd in den Wind und stürmten Richtung Küche. Fips blieb mit Esther bei dem Zauberer, der sich bei ihr unterhakte: „Wie war die Fahrt, meine Liebe? Möchtest du dich mit einem kühlen Getränk zu mir in den Schatten setzen? Agatha kann sich zu uns gesellen, sie kann es kaum erwarten, dich zu sehen.“

Gemeinsam flanierten sie zu einer Gruppe Walnussbäume, unter denen eine Sitzgruppe aus geschmiedetem Eisen stand. Einladend platzierte lila Kissen und Polster lagen auf den Stühlen und Bänken. Kaum hatten sie sich gesetzt, flogen zwei kleine Elfen heran, die ihnen jeweils ein Glas mit Fruchtsaft überreichten. Esther dankte ihnen und freute sich, so viel Magie auf dem Schloss vorzufinden.

Auf der Suche nach dem Pool waren Ben und Emma um das Schloss herumgelaufen und eilten durch den riesigen Garten. Üppige Blumenflächen, in denen sich Elfen tummelten, säumten den Weg.

„Schau mal, die ganzen Blumenelfen“, staunte Emma.

Stimmen, Lachen und Wasserplatschen schallten zu ihnen hinüber, und sie näherten sich dem Pool. Vor ihnen befand sich als Sichtschutz eine steinerne Mauer, an der ebenfalls Blauregen hochrankte. Dahinter befand sich ein großes Wasserbecken, in dem sich eine wilde Horde tummelte.

Gerade sprang ein dunkelhaariger, braungebrannter Junge mit einem gekonnten Salto vom Sprungbrett, durchbrach mit perfekt angespannten Muskeln die Wasseroberfläche und tauchte anschließend durch den riesigen Pool. Emmas Blick suchte John, aber sie sah ihn nirgendwo und fühlte leise Enttäuschung in sich aufsteigen. Nala, Silly Sidney, Agatha und Komor, kein John.

In diesem Moment entdeckten die Badenden die Neuankömmlinge und begrüßten sie mit großem Hallo, umarmten sie und forderten sie auf, sich schnell umzuziehen. Der dunkelhaarige Junge hatte das Ende des Pools erreicht, kraulte zurück und kletterte aus dem Wasser. Nun stand er direkt vor Emma und sah sie aus seinen dunklen Augen an, das Wasser perlte von seinem durchtrainierten Körper und er grinste frech. Sie erstarrte und erkannte ihn erst jetzt: Das war ja John! Mit kurzen Haaren und einer Badehose. Erstaunt musterte sie ihn und fand, dass er umwerfend aussah.

„Willst du mich nicht begrüßen, auch wenn du mich nicht erkannt hast?“, fragte er schmunzelnd.

Emma wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte und eine leichte Röte überzog ihr Gesicht, als er sie einfach packte und an sich drückte. Seine nasse Haut fühlte sich kühl an und er roch nach Sommer. Ihr Herz geriet aus dem Takt, dann wich Vertrautheit der Unsicherheit und Emma lachte ihn glücklich an. Am liebsten wäre sie so stehen geblieben, es war schön, ihm nah zu sein.

Verlegen löste sie sich aus seiner Umarmung. „Du siehst richtig gut aus mit deinen kurzen Haaren, ich hätte nicht gedacht, dass du dich das traust.“

„Na ja, es hat mich schon Überwindung gekostet, aber ich wollte dir eine Freude machen. Erinnerst du dich an deine Worte beim Abschied in Fanrea? Du hast dir gewünscht, dass ich mir die Haare abschneide.“

Emma fühlte sich geschmeichelt, dass John ihre Worte tatsächlich ernst genommen hatte. „Wie gefällt es dir denn?“

„Hm, erstaunlich gut.“ Immer wieder schaffte John es, Emma zu überraschen, sie hätte nicht gedacht, dass er die kurzen Haare mögen würde.

„Wie soll ich dich denn in unserem Urlaub nennen? Maira oder Emma?“

„Ich glaube, hier bin ich Emma, wir befinden uns auf der Erde und im Urlaub. Da möchte ich einfach nur Emma sein. Als Kämpferin in Fanrea bin ich dann wieder Maira. Okay?“

„Na klar!“

Es gefiel Emma, dass John sich die Sache mit dem Namen gemerkt hatte, da sie es in Fanrea nur einmal eher beiläufig erwähnt hatte. Die anderen fünf redeten wild durcheinander und freuten sich unbeschreiblich, dass sie wieder vereint waren.

Agatha drückte Ben und Emma an sich. Ihre Haut hatte durch die Sonne einen schönen Braunton angenommen und ein paar Sommersprossen zierten ihre Nase. Mit einer lässigen Geste strich sie ihre langen, braunen Haare nach hinten. „Ich freue mich, dass ihr hier seid. Wir sehen uns noch, ich begrüße jetzt erst mal Esther.“

Schnell holten Ben und Emma ihr Gepäck aus dem Auto, kramten ihre Schwimmsachen heraus, und zogen sich um. Unauffällig musterte John Emma und fand, dass sie in ihrem Bikini fantastisch aussah. Sie entwickelte langsam weibliche Formen, dazu ihre langen, durchtrainierten Beine und das hübsche Gesicht, umrahmt von den wilden Locken. Alleine Emmas Anblick sorgte dafür, dass John Herzklopfen bekam.

Neugierig fragte Emma ihn, was er bisher in Frankreich unternommen hatte und er berichtete: „Vorrangig habe ich mich mit Dingen beschäftigt, die es in Fanrea nicht gibt. Ich habe mir jede Menge Wissen über das Internet angeeignet, den Umgang mit Laptop und Handy habe ich inzwischen drauf.“

„Du hast was?“ Erstaunt stellte Emma fest, dass John aus Fanrea mit moderner Technik umgehen konnte.

John grinste: „Das hast du mir mal wieder nicht zugetraut.“

„Äh, doch, na ja, schon. Aber, hm, ich weiß auch nicht.“ Erneut wurde sie rot.

John lachte und Emma kicherte schließlich mit. Der Indianer brachte sie ganz durcheinander.

„Es war hochinteressant. Magor hat mehrere Informationszentren auf seinem Schloss, alle mit der neuesten Technik ausgestattet und dazu einen Freak, der nur in virtuellen Welten lebt. Nala und Komor haben auch mitgemacht und vor allem Nala ist jetzt topfit“, schwärmte John.

Emma starrte ihn an. Es war einfach unglaublich: Wahrscheinlich konnte John nun mit dem ganzen Kram besser umgehen als sie selbst.

Mit seinen dunklen Augen musterte John sie intensiv. „Du siehst erholt aus. Die paar Tage ohne Fanrea haben dir gut getan und hier in Frankreich werden wir eine tolle Zeit zusammen haben. Komm mit ins Wasser, es ist herrlich erfrischend.“

Nur zu gern folgte Emma der Aufforderung. Ben kraulte schon mit Nala um die Wette und strahlte: „Das nenne ich Urlaub!“

Auf einmal flogen zwei Fellknäuel durch die Luft, platschten ins Wasser und tauchten prustend wieder auf.

„Jipiehh!“, kreischte Jidell.

Quidell quiekte aufgeregt: „Boah, Alter, das tut gut. Besser als Auto fahren.“

„Wer ist denn das?“, lachte Nala.

Emma stellte die Rattenbrüder vor, die sich gegenseitig mit Kopfsprung und Salto übertrumpften.

„Eh, Jidell, schau mal, wie toll ich das kann.“ Quidell versuchte sich an einer Schraube und klatschte hart auf das Wasser.

„Loser!“, brüllte Jidell.

„Selber“, brummte Quidell. „Mach es doch besser. Kannst ja mal durch einen Reifen springen.“

„Junge, eh, dat kann ich. Die hübsche Dame da übernimmt den Job und besorgt mir einen.“ Jidell wandte sich an Nala und verbeugte sich.

„Nee, lass mal, bringst dich noch um, Bruder. Mit wem soll ich dann streiten?“

Ben grölte: „Pack schlägt sich, Pack verträgt sich!“

Alle lachten. Die Zeit verflog und die Freunde genossen die unbeschwerten Stunden miteinander. Später zeigte eine resolute, aber freundliche Zwergenfrau den drei Neuankömmlingen ihre Zimmer, die direkt nebeneinander lagen.

Emmas Schlafzimmer hatte zartblau gewischte Wände und ein weißes Stahlbett mit einem Moskitonetz. An der einen Wand befand sich ein weiß gekälkter Schrank im Shabby Chic Look* und ein Schminktisch mit einem ovalen Spiegel, gegenüber stand ein gut bestücktes Bücherregal. Auf einem Metalltisch war ein Strauß Lavendel dekoriert, der das gesamte Zimmer mit seinem intensiven Duft erfüllte. Am geöffneten Fenster, durch das man in den Garten schauen konnte, wehten duftige, zartblaue Gardinen. Eine Tür führte zu ihrem eigenen Badezimmer, das von einer Löwenfußbadewanne dominiert wurde und in hellblau und weiß eingerichtet war.

„Oh, ist das schön“, hauchte sie entzückt.

In Fanrea, in der Nähe der Felsenstadt Angar, hockte ein Mann in einer spärlich erleuchteten, gewaltigen Höhle, vor einem Feuer und stocherte gedankenverloren mit einem Ast in der roten Glut. Seine schwarzen Stiefel, ebenso sein langer Ledermantel, berührten fast die brennenden Scheite, doch der Mann bemerkte die Hitze kaum. Er überließ den Ast den Flammen und zwirbelte zunächst seinen schwarzgrauen Spitzbart, anschließend drehte er die Enden seines Schnurrbartes in die Höhe. Die dunklen Augen sahen sich unruhig in dem steinernen Gewölbe um und sein Blick blieb dann an einer Holzkiste hängen.

Der Mann erhob sich und strich mit einer herrischen Geste seine dunklen Haare nach hinten und band sie mit einem Lederband zu einem Zopf. Seine Stiefel klackten laut auf dem Boden der gewaltigen Höhle und wurden als Echo zurückgeworfen, als er sich der Holzkiste näherte. Er klappte den Deckel auf und zog vorsichtig eine der Phiolen heraus. Mit einem bösartigen Grinsen hielt er sie vor eine Fackel und betrachtete die darin hin und her schwappende goldene Flüssigkeit.

„Nicht schlecht, hombre. Es wird besser“, murmelte er.

Ein Geräusch ließ ihn zusammenzucken und fast fiel ihm die Phiole mit der kostbaren Flüssigkeit zu Boden. Eine Hand am Dolch, fuhr er herum und entspannte sich wieder. Es war nur die Dornenechse, sein Haustier.

„Tabor, du bist es. Schleich nicht immer so herum.“

Die Dornenechse schaute ihn aus unergründlichen Augen an. „Bist du deinem Ziel näher gekommen, Geronimo?“

„Näher schon, Tabor, doch das reicht mir nicht. Wenn doch nur Richard mehr Fähigkeiten hätte. Er ist so eine Enttäuschung, es müsste viel mehr in ihm stecken. Er kann zwar gut kämpfen, aber keine Magie, kein Feuerzauber, nichts ist so, wie erwartet. Mierda!“

„Vielleicht hast du den Falschen erwischt.“

„Wahrscheinlich. Aber der andere ist seit seiner Geburt nicht auffindbar.“

Lauschend hob Tabor den Kopf. „Da nähert sich jemand.“

Erneut fuhr Geronimos Hand zum Dolch. Fußtritte hallten durch die Höhle.

„Vater! Ich bin wieder da!“

„Unüberhörbar“, murmelte Geronimo und verdrehte die Augen.

Ein dunkelhaariger Junge, nur mit einer Hose bekleidet, kam um die Ecke. Seine windzerzausten Haare standen kreuz und quer und er grinste lässig. Wie eine Trophäe hob er eine Tasche hoch.

Geronimo setzte eine freundliche Miene auf. „Richard, mein Sohn! Wo warst du die ganze Nacht? Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.“

„Quatsch, erzähl mir nichts, Geronimo. Du hast wieder nur rumgebrütet, wie du an das Gold des Alchemisten kommst oder selber herumexperimentiert. An mich hast du bestimmt keinen einzigen Gedanken verschwendet.“

Gelangweilt zuckte Geronimo mit den Schultern. Was wusste sein Sohn schon von der Welt und von harter Arbeit? Er deutete auf die Tasche. „Was ist da drin?“

„Honig. Ich war bei den wilden Bienen und habe ihnen ihre Honigwaben geraubt.“

„Du kannst es einfach nicht lassen, hijo. Irgendwann werden sie dich zu Tode stechen.“

Kopfschüttelnd packte Richard die Honigwaben aus. „Mich kriegen die Bienen nicht.“ Schwungvoll legte er die in Leinen gewickelten Waben auf den Tisch und leckte sich die Lippen. Mit glitzernden Augen schlug er das Tuch auseinander und griff nach einer der Waben. „Mhh, schön süß und klebrig.“

Der Honig hatte eine maisgelbe Farbe, genüsslich saugte und leckte Richard ihn aus der Wabe. Dicke Tropfen rannen an Richards Kinn hinunter und entzückt verdrehte er die Augen. „Köstlich!“

Das Gesicht verziehend, musterte Geronimo seinen Sohn. „Das ist ein echtes Laster von dir geworden.“

„Laster? Das sagt der Richtige. Schau doch mal dich und deine Ringsammlung an.“ Spöttisch betrachtete Richard die Ringe an den Fingern seines Vaters und konnte sich einen weiteren Kommentar nicht verkneifen: „Du trägst ja schon wieder neue Ringe. Inzwischen sind es acht! Findest du das nicht langsam albern?“

Geronimo spreizte die Finger beider Hände und begutachtete seine beiden Neuzugänge. Die Ringe funkelten im Kerzenlicht und fingen mit ihren Edelsteinen das Licht ein. „No, hijo, es ist nicht albern. Es ist grandioso! Schau, meine neuen Kreolen.“ Er deutete auf seine Ohrringe.

Verächtlich schnaubte Richard: „Gockel!“

„Wie redest du mit deinem Vater?“ Bedrohlich baute Geronimo sich vor Richard auf und musterte ihn. Sein drahtiger Oberkörper war von einer langen Narbe überzogen. Der trotzige Blick seiner Augen forderte Geronimo heraus.

Unerwartet und so blitzschnell, dass Richard nicht reagieren konnte, verpasste Geronimo seinem Sohn eine Ohrfeige. Heiß brannte sie auf dessen Wange und er schlug, kochend vor Wut, seine Augen nieder.

„Ich bin hier der Chef, comprendes?“

Verbissen zählte Richard die Steinchen auf dem Höhlenboden, um die Rebellion in seinem Inneren niederzukämpfen. Noch war es nicht so weit, noch nicht. Aber er wollte nicht länger gehorchen und sich Vorschriften machen lassen. Niemand sollte über ihn bestimmen!

Abends saßen die Gäste mit den Bewohnern des Schlosses zusammen an einem langen Holztisch und schlemmten. Es war eine illustre Gesellschaft, die sich dort zusammengefunden hatte, denn wie bei Magor nicht anders zu erwarten, wohnten einige seltsam anmutende Wesen bei ihm.

Vor sehr langer Zeit hatte der Zauberer diese Lebewesen befreit und mit zu sich auf sein Chateau genommen. Ein sehr durchtriebener und grausamer Magier hatte zusammen mit einem Wissenschaftler widernatürliche Experimente an Fabelwesen, Menschen und Tieren vorgenommen. Herausgekommen waren die seltsamsten Kreaturen, die Magor damals glücklicherweise von ihrem elenden Schicksal als Versuchsobjekte erlösen konnte.

Leider war er nicht in der Lage, sie zurück zu verwandeln und das betrübte ihn sehr, aber selbst Magor war nicht allmächtig. Seitdem lebten sie bei ihm und übten die verschiedensten Tätigkeiten aus, wie zum Beispiel Köchin oder Küfer*.

Lampions in den Bäumen beleuchteten die Szenerie, ein lauer Sommerwind verjagte die Hitze des Tages und kühlte die heiße Haut. Fackeln und Windlichter waren im Garten und auf dem Kies verteilt. Es duftete nach gebratenem Knoblauch, Rosmarin, Thymian und Salbei, vermischt mit einem Hauch von Lavendel und Rosen.

Die lange Tafel war eingedeckt mit einem weißen Tischtuch, auf dem Olivenzweige als Dekoration verstreut lagen, zwischen Schalen, Platten und Schüsseln, in denen sich verschiedene Köstlichkeiten befanden. Über einem Feuer drehten sich jede Menge Hühnchen, deren Fett in die Flammen tropfte.

Halb verhungert leckte Ben sich die Lippen: „Ich hab meine Wahl schon getroffen.“

Emma dagegen lenkte ihren Blick auf andere Leckereien: Noch warmes Baguette mit Olivenpaté, kleine, dampfende Schnitzelchen mit frischen Kräutern und Zitrone, Lammfilets auf eingelegten Auberginen und Zucchini, gegrillte Calamaris, Meeresfrüchtesalat, gebratene Sardinen und frittierte Gemüsebällchen.

„Da ist etwas für Körnermäuse und für Fleischmonster dabei“, grinste Ben.

„Stimmt, selbst du wirst satt werden“, spottete Emma und schoss ein paar Fotos mit ihrer Digitalkamera.

Fasziniert betrachtete Ben in der Zwischenzeit die Anwesenden: Ein Mann hatte zwei Köpfe, die ständig miteinander stritten, dann saß dort eine Art Eidechsenmann, der manchmal mehr wie ein Mensch wirkte und dann wieder mehr das Aussehen einer Echse hatte. Seine Gestalt flimmerte irgendwie und wechselte ständig, je nachdem, wie das Licht auf ihn fiel.

Irritiert wandte Ben sich den anderen Wesen zu. Neben Magor saß ein riesiges, trollähnliches Wesen, das sich angeregt mit dem Zauberer unterhielt und immer wieder den neben ihm sitzenden Zwerg mit in das Gespräch einbezog. Irgendwo entdeckte er auch die Köchin, eine menschengroße Maus in Frauenkleidern und Migune, eine zierliche, kleine Elfe mit Reptilienhaut, einem Fledermausflügel und einem Schmetterlingsflügel. Migune war eine enge Vertraute von Magor. Soviel hatte die Köchin Ben bereits verraten, als er in der Küche auf der Suche nach einem Snack gewesen war. Seine staunende Betrachtung wurde unterbrochen, als Magor allen einen guten Appetit wünschte und sie bat, zuzugreifen.

Ben unterhielt sich angeregt mit Nala, die an seiner anderen Seite saß und genüsslich in eine Hähnchenkeule biss. Ihre rabenschwarzen Haare hatte sie lässig hochgesteckt und mit einer Hibiskusblüte geschmückt, die fast die gleiche rote Farbe hatte, wie ihr Trägerkleid. Das Rot betonte zudem ihre schokobraune Haut. Überrascht bemerkte Ben, wie hübsch sie war und wie viel sie essen konnte.

„Du kannst aber ganz schön reinhauen, nicht das nachher für mich nichts mehr übrig bleibt“, flachste Ben.

„Und ich bin noch lange nicht satt“, konterte Nala.

„Ich tausche mein Baguette gegen dein Lammfilet.“

„Auf keinen Fall! Hol mir lieber noch ein paar gegrillte Calamaris. Ich habe riesigen Hunger.“

„Endlich mal ein Mädchen, dass nicht nur auf Körnern rumknabbert. Du gefällst mir.“ Übermütig knuffte Ben sie mit dem Ellenbogen in die Seite. Er war glücklich und genoss den unbeschwerten Augenblick.

In dem Moment sprangen Jidell und Quidell auf Esthers Schoss. Stöhnend betrachtete Jidell die Leckereien und machte Anstalten, auf den Tisch zu krabbeln. Es gelang Esther noch so gerade, ihn am Schwanz zurückzuhalten. „Untersteh dich. Denk nicht mal dran, Jidell“, schimpfte Esther.

Quidell murmelte: „Chill mal deine base, Esther. Ich muss was essen.“

Esther runzelte die Stirn. „Ihr müsst euch benehmen, ihr blamiert uns noch. Ich besorge euch jetzt was.“

„Viel Fleisch, am besten.“ Genießerisch rollte Jidell mit den Augen.

Agatha mischte sich ein: „Bleib mit den beiden Rüpeln sitzen. Ich hole ihnen was.“ Sie erhob sich und ging zum Buffet. Als sie mit zwei Tellern zurückkehrte, lief Jidell der Speichel aus der Schnauze und er seufzte glücklich.

„Danke, Agatha.“ Esther verdrehte die Augen und lächelte ihre Freundin an.

„Bruder, du alter Fresssack“, klagte Quidell und stürzte sich gierig auf ein Stück Fleisch. Fett tropfte von seinen Schnurrbarthaaren, er schüttelte sich und es spritzte nach allen Seiten.

„Bäh, du Ferkel!“, rief Emma empört.

Agatha und Esther waren bekleckert. Schmunzelnd reichte John ihnen eine Serviette zum Säubern.

„Das war voll fett, Bruder“, kommentierte Jidell.

„So, ihr geht jetzt von meinem Schoss herunter und esst auf dem Boden. So wie andere Ratten auch.“ Esther war wütend.

„Eh, sei nicht so aggro“, beschwerte sich Jidell, sprang aber auf den Boden, als er Esthers Blick sah. Quidell folgte ihm und setzte sich neben seinen Bruder. Ihre Nasen streckten sich den Düften entgegen und die Schnurrbarthaare zitterten. Da musste Agatha lachen, nahm die Teller der Ratten und stellte sie zu ihnen. Die Brüder stürzten sich darauf und balgten sich um die besten Stücke.

„Hoffnungslos“, murmelte Esther, ignorierte die Ratten und begann ein Gespräch mit Agatha.

Emma saß zwischen Ben und Esther und gegenüber von John, der mit seinem weißen Leinenhemd und Jeansshorts ungewohnt, aber gut aussah. Immer wieder schaute sie unauffällig zu ihm hinüber, um zu sehen, wie er mit Messer, Gabel und dem edlen Glas zurechtkam und wunderte sich, wie perfekt er sich benahm.

„Toll siehst du aus. Es steht dir gut, wenn du die Haare hoch trägst“, machte John ihr ein Kompliment, das Emma verlegen werden ließ. Mit ihren hochgesteckten Haaren wirkte sie älter und er fand es süß, wie einzelne Strähnen sich lösten und ihr Gesicht umspielten.

„Danke.“

Sein Blick fiel auf die Kette mit dem von ihm geschnitzten Delfinanhänger und er lächelte Emma an. „Das Kleid steht dir super, du solltest öfter so etwas anziehen.“

Mit den Komplimenten konnte Emma schlecht umgehen, und in ihrem Sommerkleid fühlte sie sich unwohl, weil sie Zuhause nur in Jeans herumlief. Sie errötete und wechselte schnell das Thema: „Wie schmeckt es dir?“

Er überspielte ihre Verlegenheit: „Sehr gut. Natürlich schmeckt das alles hier ganz anders als in Fanrea, aber ich lasse mich inspirieren und werde das eine oder andere nachkochen. Kochst du Zuhause auch manchmal?“

Entgeistert starrte Emma ihn an: „Äh, nein.“ Wie peinlich war das denn, dachte sie. Er als Junge konnte kochen und sie nur ein wenig Gemüse schnippeln.

John unterbrach ihre Gedanken: „Kochen macht Spaß, es ist gesellig. Du solltest es mal versuchen.“

„So habe ich das noch nie gesehen, meine Mutter kocht immer.“

„Und dein Vater, kann der kochen?“, fragte John interessiert. Emma presste die Lippen fest aufeinander und ihre Augen verdunkelten sich. Sofort begriff John, dass er eine verbotene Zone betreten hatte und hakte nicht weiter nach, sondern entschuldigte sich: „Tut mir leid, wenn ich die falsche Frage gestellt habe. Ich weiß so wenig von dir und deinem Leben in der Menschenwelt, vielleicht haben wir hier die Zeit dazu, das zu ändern.“

Emmas Wut verflüchtigte sich, John konnte nichts für die Geschichte mit ihrem Vater und dieser Verräter sollte ihr nicht den Abend verderben. Sie verdrängte die Gedanken an ihren Vater und versuchte, John wieder freundlich anzuschauen.

Erleichtert nahm er es zur Kenntnis und begann Emma von seiner Zeit als Kind in der Menschenwelt zu erzählen. Ihr wurde erst jetzt richtig bewusst, wie viele Jahre er in den USA zur Schule gegangen war und die Erde somit nicht nur aus Erzählungen kannte. Im Grunde genommen wusste sie auch recht wenig von ihm und nahm sich ernsthaft vor, alles über ihn zu erfahren.

Verschiedene Krüge, Flaschen mit diversen Weinen und Wasser standen auf dem Tisch und der Mann mit den zwei Köpfen stritt erneut mit sich selbst, welcher Wein der Beste sei. Schmunzelnd schaute Magor zu ihnen hinüber.

Esther beugte sich zu Emma hinüber und sagte leise: „Die zwei sind wie ein altes, zänkisches Ehepaar. Sie waren einst zwei Brüder, die durch Magie und Wissenschaft miteinander verschmolzen wurden und jetzt Zeit ihres Lebens aneinander gekettet sind, denn Magor konnte keinen Umkehrzauber bei ihnen anwenden. Wie im Übrigen bei den anderen ebenfalls nicht. Wie gut, dass sie hier bei Magor ein neues Zuhause gefunden haben.“

Esthers Augen strahlten an diesem Abend, vielleicht war der Wein ein bisschen daran schuld. In ihrem Sommerkleid und mit ihrer neuen Frisur sah Esther entzückend aus. Fips lag zusammengerollt auf ihrem Schoß und schnarchte zufrieden, während die Ratten am Pool herum lungerten und sich ihre vollgefressenen Bäuche hielten.

Der Abend war wunderschön und die Atmosphäre verzauberte die Gäste, alle fühlten sich wohl und sie genossen jede Minute. Spät in der Nacht fiel die gesamte Schar müde, aber glücklich ins Bett und die Freude auf den nächsten Tag nahmen sie mit in den Schlaf.

Fanrea Band 2

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