Читать книгу Elsas Stern. Ein Holocaust-Drama - Agnes Christofferson - Страница 10
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Dienstag, 8. August 1944: Als Elsa an diesem Morgen aufwachte, spürte sie augenblicklich, dass dicke Luft zwischen ihren Eltern herrschte. Normalerweise stritten sich ihre Eltern nur selten, doch in den letzten Wochen krachte es immer öfter zwischen den beiden. Besonders peinlich war es, wenn Klaus dabei war.
Elsa kannte den Grund für die neu aufgetretenen Streitigkeiten: die Flucht nach Amerika. Es erwies sich als äußerst schwierig, an gefälschte Papiere zu kommen. Ihre Mutter hielt das ganze Unterfangen für zu gefährlich, doch ihr Vater sah keine andere Lösung. Elsas Mutter war der Ansicht, dass es klüger wäre, bis zum Kriegsende bei Klaus zu verharren. Sie hielt es für sicherer. Bis jetzt schöpfte keiner Verdacht. Viele Großstädter flohen vor den Bomben zu ihrer Verwandtschaft aufs Land. Neue Gesichter im Dorf waren nichts Ungewöhnliches. Zudem waren Klaus’ Hausangestellte verschwiegen und überhaupt froh darüber, eine gut bezahlte und sichere Arbeitsstelle zu haben.
Ihrem Vater dagegen machte die exzessive Säuberung durch die Nazis Sorgen. Immer mehr versteckte Juden wurden verraten oder flogen durch Unachtsamkeit auf. Die Bevölkerung war wachsam und überaus aufmerksam. „Ich wache jeden Tag auf und frage mich, ob es heute vorbei sein kann!“, brummte ihr Vater. Er stand am Küchenfenster und seine nachdrückliche, angespannte Miene sagte mehr als Worte.
„Der Krieg ist bald vorbei“, wandte ihre Mutter ein. Sie war dabei, den Frühstückstisch zu decken. Dabei stellte sie das Geschirr so energisch ab, dass es bei jeder Bewegung laut krachte.
„Was macht das schon, wenn uns die Nazis finden!“, konterte ihr Vater, wobei seine Miene immer düsterer wurde.
Elsa seufzte. Das war jetzt schon das zweite Mal in dieser Woche, dass ihre Eltern sich stritten. Da sie keine Lust hatte, zwischen die Fronten zu geraten, schlich sie leise die Treppe herunter und stahl sich hinaus.
Draußen begrüßte sie die Sonne. Sie war allein. Hanna schlief noch, die Hausangestellten hatten an diesem Tag frei und Klaus war unterwegs. Sein Auto stand nicht in der Einfahrt, und das Tor war weit geöffnet. Die angenehme Stille, die sie umgab, wurde nur von den Wortfetzen ihrer Eltern durchbrochen.
Elsa war der Appetit auf Frühstück vergangen und sie beschloss, zum Bach zu gehen. In letzter Zeit hielt sie sich dort oft auf. Dort konnte sie in Ruhe nachdenken oder Bilder malen. Sie malte so viel, dass Klaus Probleme hatte, neues Zeichenpapier zu besorgen.
Am Bach war es schattig. Erst gegen Mittag drang die Sonne durch die Bäume. Es war jedoch warm genug, um das Wetter zu genießen. Elsa setzte sich auf den weichen Rasen und lehnte sich gegen den Baum. Sie holte tief Luft und blickte auf das Wasser hinaus, auf dem in der Ferne Blätter tanzten. Die verschwommenen Umrisse hochgewachsener, in Reih und Glied stehender graugrüner Tannen ragten auf dem Hügel in die Höhe. Ob es in Amerika auch solche schönen Orte gab?, fragte sie sich.
Sie schloss die Augen und spürte eine zarte Brise auf der Haut. Sie wusste, dass dieses Wetter nicht lange anhalten würde; im Radio haben sie Regen angesagt. Das würde bedeuten, dass sie mit Hanna und ihren Eltern im Haus hocken müsste. Dazu hatte sie allerdings keine besondere Lust. In letzter Zeit waren alle schlecht gelaunt. Sie öffnete grimmig die Augen und sah sich plötzlich Auge in Auge mit einem jungen Schäferhund. Elsa zuckte zusammen und rutschte zurück. Mit dem Kopf stieß sie gegen den Baum. Sie mochte kaum ihren Augen trauen. Wo kam der Hund so plötzlich her?
„Hallo.“ Die Stimme kam von hinten.
Elsa drehte sich panisch um und sah einen attraktiven jungen Mann geschmeidig in großen Sätzen den Abhang hinunterstürmen. Sie war wie gelähmt. Ihr Kopf befahl ihr zu fliehen, doch ihre Beine wollten nicht gehorchen. Sie starrte ihn an, unfähig, etwas zu sagen. Der junge Mann mochte Anfang zwanzig sein. Seine Züge wirkten weich und freundlich; ein schönes Gesicht mit himmelblauen Augen. Unter der Mütze stahlen sich einige blonde Haare hervor. Er trug eine hochgekrempelte Hose und ein lockeres Hemd. Offensichtlich hatte Elsa einen Bauernjungen vor sich.
„Wotan hat dich wohl erschreckt“, bemerkte der Junge. Er steckte die Hände in seine Taschen und betrachtete sie prüfend.
Er sollte einfach nur gehen, aber er blieb stehen. Elsa schwieg und fühlte sich wie eine Idiotin.
„Du bist offensichtlich ziemlich verängstigt.“ Er blinzelte gegen die Sonne.
Elsa zögerte. Was sollte sie bloß sagen? „Ich habe nur niemanden erwartet. Das hier ist Privatbesitz“, hörte sie sich sagen.
Der Junge schenkte Elsa ein breites Lächeln „Sieh mal einer an. Du kannst also doch sprechen.“
Elsas Miene verfinsterte sich. „Du hast mich durchschaut.“ Sie schüttelte denn Kopf. „Natürlich kann ich sprechen.“
„Schön. Ich war mir nur nicht sicher. Du hast so komisch ausgesehen.“ Er musterte sie mit seinen hellen, lächelnden Augen. „Es tut mir leid, dass ich dich gestört habe. Wotan ist wieder abgehauen. Ich bin ihm nur nachgelaufen.“
Elsa begriff, dass der Junge den Hund meinte, der immer noch vor ihren Füßen saß. Sie nickte stumm.
„Der kleine Teufel“, sagte er mit einem grimmigen Lächeln.
Elsa entspannte sich etwas. Sie beugte sich vor, um den Hund zu streicheln. „Hallo Wotan“, sagte sie sanft. Sie kicherte, als der Hund ihr die Hand ableckte. „Er mag mich.“
„Im Grunde mag er jeden“, sagte der Junge. „Nur Juden nicht.“
Elsa musste sich beherrschen, nicht die Hand wegzuziehen. „Ach, wirklich?“ Sie versuchte, so ruhig wie möglich zu klingen.
Er zuckte die Achseln. „Ja, wirklich. Er ist auf Juden abgerichtet. Er kann sie riechen.“
„Ach so.“ Ihr Herz raste. Sie war sich sicher, dass sie kreidebleich geworden war. „Er kann Juden riechen? Wie?“ Sie war ernsthaft interessiert.
Rochen Juden anders?
Sie schwieg einen Augenblick und wartete ab, was er über den Hund noch zu berichten hatte.
Der Junge schüttelte den Kopf. „Das würdest du nicht verstehen.“
„Was macht er, wenn er einen Juden riecht?“
Der Junge räusperte sich, vielleicht weil er nicht wusste, was er darauf erwidern sollte. Doch dann sagte er: „Er knurrt. Dann geht er auf den Juden los.“
Mit leicht geöffnetem Mund und angehaltenem Atem beobachtete sie Wotan. Doch scheinbar hatte er nicht vor, sie zu zerfleischen. Wie beiläufig zog sie ihre Hand zurück, doch der Hund ließ nicht locker. Er sprang auf ihren Schoss und fing an, ihr das Gesicht abzulecken.
Der Junge schaute sie eine Weile sinnend und bewundernd an. „Mir scheint, als hättest du einen neuen Freund. Das macht er nicht bei jedem.“
Für einen winzigen Augenblick kam ihre Welt wieder ins Gleichgewicht. Aber die nächste Frage ließ sie erneut aus den Fugen geraten.
„Wie heißt du?“
Eiskalte Finger schienen Elsas Herz zu umklammern. Sie zögerte. „Elsa“, sagte sie ruhig. Sie senkte den Blick auf ihre Hände und bemerkte, wie ihre Finger zitterten.
Der Junge sah sie fragend an. „Wohnst du hier?“
„Ich wohne in Berlin, doch wir wurden ausgebombt und nun wohnen wir bei Onkel Klaus“, erklärte sie. Das alles hatten Klaus und ihre Eltern erfunden, aber in ihren Ohren klang es so überzeugend, dass sie es beinahe selbst geglaubt hätte.
Ein neugieriger Blick traf sie. „Klaus von Bergmann?“, fragte der Junge erstaunt.
Elsa begann zu schwitzen. Glaubte er ihr etwa nicht? Sie zwang sich, ihm in die Augen zu schauen. „Genau der Klaus“, sagte sie mit einem zuckersüßen Lächeln.
„Ich dachte, der wäre tot.“
„Ach! Wo denn!“ Stieß Elsa aus. Sie war erstaunt wie besonnen und gefasst sie klang.
„Dann lebt der alte Kauz noch?“
„Heute Morgen tat er es noch.“
Der Junge war zuerst sprachlos, musste dann aber lachen. „Ich heiße übrigens Erik.“
„Hallo Erik.“
„Ich bin auf Heimaturlaub hier.“
Es herrschte gespannte Stille. Elsa blinzelte. „Dann bist du Soldat?“
Es vergingen einige Sekunden, bevor Erik antwortete. „Ja . Aber kein gewöhnlicher Soldat.“
Erneutes Schweigen. „Wie meinst du das?“ Verwirrt wünschte sich Elsa, sie hätte den Jungen nie getroffen. Sie roch Ärger. Es stank bestialisch danach.
„Das kann ich dir nicht sagen. Wenn ich es täte, müsste ich dich umbringen.“ Elsa begriff erst Sekunden später, dass Erik scherzte. Verkrampft lächelte sie. Ihr war zum Heulen zumute. Sie wollte sich einfach nur noch in Luft auflösen.
Erik lächelte unwillkürlich. „Über meine Arbeit darf ich wirklich nicht reden. Sei mir nicht böse.“
„Vom Krieg habe ich eh die Schnauze voll“, sagte Elsa wahrheitsgemäß.
Lachend warf Erik den Kopf in den Nacken. „Ja, das glaube ich dir. Darüber musst du dir aber dein hübsches Köpfchen nicht zerbrechen. Krieg ist Männersache.“ Elsa zuckte innerlich ein bisschen zusammen. Hat er sie gerade hübsch genannt? Sie versuchte, es zu ignorieren. Es konnte unmöglich sein, dass ein Nazi mit einer Jüdin flirtete!
„Bald ist der Krieg gewonnen, dann wird alles gut.“ Es klang, als ob er wirklich daran glaubte.
„Sicher“, murmelte Elsa. Klaus von Bergmann hatte das Gegenteil behauptet, und Elsa glaubte ihm.
„Entschuldige, ich hab dich schon viel zu lange aufgehalten. Ich glaube, ich gehe jetzt besser“, sagte Erik. Er druckste herum und wusste nicht, was er sagen sollte. „Sollen wir uns, sagen wir, morgen treffen?“, fragte er rasch. Einen Moment machte Elsa einen verwirrten Eindruck. Dann räusperte sie sich und nahm sich zusammen. „Nein. Das geht leider nicht.“
Erik gab sich alle Mühe, nicht enttäuscht zu klingen. „Ach so“, murmelte er. „Tja. Das ist aber schade. Es gibt so wenige interessante Leute hier.“
Elsa dachte genauso und nickte.
„Wenn du willst, rede ich mit deinem Onkel. Ich kann sehr überzeugend sein.“
Elsa erstarrte. „Wie bitte?“
Plötzlich waren ihre Handflächen schweißfeucht. Sie wischte sie an ihrem Kleid ab und straffte den Rücken.
„Selbstverständlich verstehe ich deine Situation.“
Elsa begriff schlagartig und beinahe hätte sie laut gelacht. Ihre „Verwandtschaft“ mit Klaus von Bergmann machte sie zu einem Mädchen aus gutem Hause. Erik ging wohl davon aus, dass er sich Klaus und ihren Eltern förmlich vorstellen müsste. Er dachte, das sei der Grund für Elsas Befangenheit! Sie schüttelte sich innerlich. Die ganze Geschichte schien aus dem Ruder zu laufen! Natürlich durfte niemand erfahren, dass sie Erik getroffen hatte! Die Konsequenzen wären alles andere als schön. Die Ausflüge könnte sie vorerst vergessen.
Ihr Magen verkrampfte sich. Bei dem Gedanken, mit ihrer Familie im Haus festzusitzen, wurde ihr übel. Und so antwortete Elsa äußerst vorsichtig auf Eriks Vorschlag: „Das ist nicht nötig. Meine Eltern sind nicht streng.“
Erik strahlte. „Dann treffen wir uns morgen? Sagen wir, um die gleiche Zeit?“
„Nun, ich denke, das ist in Ordnung“, sagte Elsa leise.
Erik zwinkerte ihr zu. „Siehst du? Ich sagte es doch. Ich kann ziemlich überzeugend sein.“ Er pfiff Wotan zurück. Der Hund gehorchte brav und die beiden machten sich wieder auf den Weg. Elsa sah den beiden nach, unfähig, sich zu rühren. Und jetzt klopfte Elsas Herz plötzlich so heftig, als schlüge es direkt gegen ihre Rippen.
„Ist dir schlecht?“, fragte plötzlich eine Stimme. „Du bist ganz grün.“
Elsa, deren Nerven eh schon zum Zerreißen gespannt waren, fuhr zusammen. „Hanna?!“ Aus weit aufgerissenen Augen sah sie ihre Schwester an. Das kleine Gör hatte sich einfach so an sie herangeschlichen.
Hanna wirkte überrascht. „Ich wusste gar nicht, dass du so schreckhaft bist. Mutter schickt mich. Sie macht sich Sorgen, weil du nicht zum Frühstück erschienen bist.“
Mit angehaltenem Atem spähte Elsa in die Richtung, in die Erik verschwunden war und atmete erleichtert auf, als sie merkte, dass er nicht mehr in Sichtweite war. Sie unterdrückte einen Seufzer.
Hanna wirkte ungeduldig. „Kommst du? Ich möchte keinen Ärger bekommen.“
Träge erhob sich Elsa. Erst, als sie Hanna nach Hause folgte, wurde ihr ihre Dummheit bewusst.
Doch da war es schon zu spät.