Читать книгу Elsas Stern. Ein Holocaust-Drama - Agnes Christofferson - Страница 7
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Seit Stunden hatte ich das Krankenzimmer nicht mehr verlassen. Obwohl der Arzt mir kaum Hoffnungen machte, dass meine Mum heute Nacht noch einmal zu klarem Bewusstsein kommen würde, rührte ich mich nicht vom Fleck. Das sei sehr unwahrscheinlich, hatte er mir erklärt, aufgrund des Schockzustandes und den Beruhigungsmitteln. Ich konnte mich nicht mit dem Gedanken abfinden, dass sich meine Mum in dieser Lage befand. Der Arzt diagnostizierte einen seelischen Zusammenbruch infolge einer extremen psychischen Belastung.
Ein seelischer Zusammenbruch!
Die Vorstellung war unerträglich!
Meine Tränen unterdrückte ich, denn ich musste stark bleiben. So saß ich sprachlos neben Mum am Bett und beobachtete ihr kreideweißes Gesicht.
Als die Nachtschwester mit einem Infusionsbeutel auftauchte, blickte ich überrascht auf. „Machen Sie sich keine Sorgen. Diese Infusion sorgt dafür, dass sie genug Flüssigkeit bekommt“, sagte sie. Lange Minuten vergingen, während sie die Infusion vorbereitete. „Am Ende des Korridors steht ein Automat. Da können Sie sich einen Kaffee holen“, meinte sie freundlich.
Draußen hatte es angefangen zu regnen und zu stürmen. „Danke, aber ich warte erst auf meine Schwester. Sie müsste jede Sekunde auftauchen“, erwiderte ich. Es war nach zehn Uhr und der Mondschein ergoss sich durch die Fenster. Ich wusste nicht genau, wann ich Salome angerufen hatte. Seit der Geschichte mit Mum hatte ich jegliches Zeitgefühl verloren. Sekunden vergingen wie Minuten. Minuten vergingen wie Stunden. Ich hatte das Gefühl, dass die Welt aufgehört hatte, sich zu drehen.
Ich war nicht ausgesprochen abergläubisch und auch nicht religiös, denn Mum hielt sich nicht besonders an die Traditionen und Gebote des jüdischen Glaubens. Nun fragte ich mich, ob ich anfangen sollte zu beten. Obgleich, wie ich ironisch feststellte, es gar nicht funktioniert hätte. Vom Beten verstand ich nichts.
Als die Schwester gegangen war, entdeckte ich Salome auf dem Flur. Wie immer war ich von ihrer Andersartigkeit beeindruckt. Mit ihrem hoch toupierten blonden Haar, den blauen Augen und dem herzförmigen Gesicht hätte sie sich nicht stärker von mir unterscheiden können. Inmitten unserer Familie wirkte Salome wie ein Exot. Sie schlug scheinbar nach ihrem Vater, dem mysteriösen Mann, von dem Mum nie sprach. Sie trug ein sündhaft teures maßgeschneidertes Kostüm, das ihrer Figur schmeichelte. In ihrem Schrank hing nur exklusive Garderobe, die eine schöne Stange Geld gekostet haben musste.
Als Salome Mum und mich im Zimmer entdeckte, kam sie sofort angerannt. „Oh Gott! Wie geht es ihr?“, erkundigte sie sich. Sie streichelte über Mums Stirn und strich ihr ein paar Strähnen aus dem Gesicht.
Ich ließ die Schultern hängen. „Im Moment schläft sie. Sie hat ein leichtes Beruhigungsmittel bekommen.“
Salome zuckte zusammen. Ängstlich musterte sie mein Gesicht. „Wird sie wieder?“
Während dröhnender Donner den Himmel erschütterte und die Reflexion der Blitze durch die Fenster zuckte, versuchte ich, mich an das Gespräch mit dem Arzt zu erinnern. „Das kann keiner wirklich sagen“, sagte ich. „Wir müssen bis morgen warten.“
Salome reagierte mit tröstendem und mitfühlendem Kopfnicken. „Und das alles wegen des Mannes im Lokal?“, fragte sie heiser.
Ich blickte zu dem regennassen Fenster rüber. „Ja. Es ist passiert, nachdem sie ihn gesehen hatte. Zuerst ist sie zusammengebrochen. Als ich sie danach nach Hause fahren wollte, fing sie an zu zittern und wirres Zeug zu reden, da habe ich beschlossen, sie ins Krankenhaus zu fahren. Ich … ich dachte, sie hätte vielleicht einen Schlaganfall.“ In der Scheibe sah ich, wie Salomes Augen vor Interesse aufflackerten.
„Wer zum Teufel war der Kerl?“, fragte sie eine Spur zu laut.
„Diese Frage kann ich nicht beantworten. Sie hat es mir nicht gesagt.“
Salome berührte das goldene Medaillon an ihrem Hals und nestelte an der Kette. Diese Kette hatte ich in Harper’s Bazaar gesehen. Sie kostete fast eintausend Dollar. „Bist du sicher, dass sie nichts erwähnt hat?“
Ich drehte mich um und betrachtete Salomes Gesicht. Die Blitze spiegelten sich in ihren Augen und schienen in ihnen aufzuflammen. „Natürlich bin ich mir sicher.“
Salome dachte einen Moment lang nach. Sie war wie benommen.
„Wie viel weißt du über Mums Vergangenheit?“, fragte ich.
Salomes trübe Augen huschten prüfend über mein Gesicht. „Nicht viel. Weshalb fragst du?“
„Vielleicht hat der Mann aus dem Lokal etwas damit zu tun?“ Mir wurde fast übel bei dem Gedanken. „Er war schon älter. Hat sie dir etwas über ihre Kindheit erzählt?“
„Nicht viel. Ich weiß ganz sicher nicht mehr als du.“ Ihr schönes Gesicht zog sich in Falten.
„Hat sie jemals über deinen leiblichen Vater gesprochen?“
„Ich habe nie nach ihm gefragt, Leni. Ich habe unseren Vater geliebt, das weißt du.“
Ich nickte. Natürlich. Das hatte sie.
„Du glaubst doch nicht etwa, dass der Mann aus dem Lokal etwas mit meinem leiblichen Vater zu tun hatte?!“ Salome klang entsetzt. Ich stellte fest, dass sich ihre Hände zu Fäusten ballten. Diese Reaktion legte mir nahe, dass Salome nicht gut auf das Thema zu sprechen war.
War das nicht typisch für unsere Familie? Scheinbar war Schweigen die beste Medizin!
„Nein. Doch vielleicht besteht ein Bezug zu Mums Vergangenheit. Du weißt ja selber, wie geheimnisvoll sie immer tut“, bemerkte ich leise.
Es herrschte auf einmal eine Totenstille. Salomes Augen wurden groß. „Das ist nicht dein Ernst!“, sagte sie.
„Überleg doch! Das alles ergibt durchaus einen Sinn“, setzte ich an. „Hast du dir denn nie Gedanken darüber gemacht, weshalb sie immer so beharrlich schweigt …“
„Jetzt spinnst du aber! Du bist genauso paranoid wie Mum!“
Ich starrte sie bockig an. „Hat Mum dir etwas von ihrer Flucht aus Deutschland erzählt?“
Salome zog eine ihrer dünnen, akkurat gezupften Augenbrauen hoch. „Sie spricht nicht gerne über dieses Thema. Das weißt du. Bei mir hat sie keine Ausnahme gemacht.“
Ich schwieg. Es war eine unausgesprochene Abmachung in unserer Familie, nicht in der Vergangenheit zu rühren. Mums Kindheit war tabu. Wie die Büchse der Pandora, die man nicht öffnen durfte.
Ein gellender Donner dröhnte laut in den Krankenhausfluren und den Zimmern. Das Licht flackerte kurz auf und dann stellte ich zu meiner Überraschung fest, dass Mum in ihrem Bett aufrecht saß und uns anstarrte. Ihr Atem ging laut.
„Mum?“, fragte Salome und setzte sich auf die Bettkante.
„Wer bist du?“ Ihre Stimme, so dünn, drohte jeden Augenblick zu zerreißen.
Salome schossen Tränen in die Augen.
„Ich bin Salome.“
Verwirrung. „Kenne ich dich?“
„Ich bin Salome. Deine älteste Tochter.“
Im gedämpften Licht wirkten Mums Augen glasig und trüb wie die Augen einer uralten Frau. „Du bist nicht meine Tochter.“
Salome blinzelte verblüfft. „Aber natürlich bin ich deine Tochter.“ Sie senkte traurig den Blick. „Sag so etwas nicht.“
„Du bist nicht mein Kind“, beharrte Mum. „Ich kann keine Kinder bekommen.“
Ängstlich musterte ich Mums Gesicht. „Was redest du da für einen Unsinn? Natürlich kannst du Kinder bekommen. Du hast doch Salome und mich. Es gibt Fotos, auf denen du mit mir schwanger bist.“ Ich spürte einen riesigen Kloß im Hals und Tränen in den Augen. „Mum?“, sagte ich sanft und nahm ihre Hand. „Es wird dir bald besser gehen.“
Mums Lippen zitterten. Sie konzentrierte sich und versuchte, den Sinn der Worte zu verstehen. „Leni. Meine Leni“, sagte Mum dünn. „Wo ist Elli? Ist sie hier?“
Ich blinzelte verblüfft. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Salome zusammenzuckte. „Wer ist Elli?“, fragte ich, da ich den Eindruck bekam, dass Salome etwas wusste. Sie schüttelte den Kopf. Anscheinend hatte sie doch keine Ahnung, wer Elli war. „Nein, Mum. Sie ist nicht hier“, sagte ich leise. „Elli ist nicht hier.“
„Nein. Nein. Natürlich nicht. Ich erinnere mich wieder. Sie hat sich für das Frauenkommando entschieden.“
„Ja. Natürlich“, meinte ich verständnisvoll. Trotz ihres wirren Geredes wollte ich ihr nicht widersprechen oder nachhaken, um sie nicht aufzuregen.
„Ja, das hat sie. Sie hat Hanna und mich einfach verlassen“, sagte sie mit qualvoll rauer Stimme, dann glitt ihr Oberkörper wieder nach hinten. Sie schloss die Augen und begann ruhig zu atmen.
Salome, welche die Szene in einer lautlosen Starre beobachtet hatte, schien die Situation nur mit Mühe auszuhalten. Ich bemerkte ihre Nervosität. Ihre Nasenflügel weiteten sich und ihr Körper war angespannt. „Ist sie schon den ganzen Abend so?“
Ich blickte Salome unglücklich an. „Ich habe ja gesagt, ihr geht es nicht gut. Sie redet schon den ganzen Abend solchen Unsinn.“
Schließlich hielt Salome es nicht mehr aus. „Es ist schlimmer, als ich dachte “, meinte sie. „Sie ist ja völlig verwirrt!“ Sie erhob sich energisch. „Ich muss einen Arzt sprechen. Bleib bei ihr“, wies sie mich an und eilte durch die Tür. In der Luft blieb nur noch der Duft ihres teuren Parfüms hängen.
Ich zog ein Taschentuch aus meiner Handtasche und wischte meiner Mum vorsichtig die Schweißperlen von der Stirn. „Wer war bloß der Mann im Lokal?“, fragte ich leise. Mit angespannter Miene versuchte ich, ihr abgezehrtes Antlitz zu ignorieren. Sie hatte blasse Wangen und Schatten unter ihren Augen. Ich konnte mich nicht daran erinnern, sie je so gesehen zu haben. Meine Mum war eine Frau, die stets die Fassung bewahrte. Sie weinte auch nicht leicht; selbst nach dem plötzlichen Tod meines Vaters, war sie die Ruhe selbst gewesen. „Tut mir leid, dass dir das passiert ist“, flüsterte ich. „Morgen, das wirst du sehen, wird alles besser.“ Ich krümmte die Finger und presste sie zu Fäusten zusammen, bis sich meine Fingernägel in die Handflächen bohrten. „Du wirst schon sehen. Alles wird gut.“
„Ich kenne ihn“, sagte Mum plötzlich.
Ich zuckte zusammen, denn ich hatte angenommen, dass sie wieder schlief. Ich zögerte. „Wie bitte?“
„Der Mann im Lokal. Sein Name ist Erich Hauser.“ Ihr Blick war total benommen.
Mir wurde schwindelig. „Woher kennst du ihn?“
„Aus Auschwitz.“
„Aus Auschwitz?“
Sie drehte ihr Gesicht dem Fenster zu und schaute eine Weile dem Gewitterlicht zu. „Da waren Stacheldrahtzäune, hohe Wachtürme und SS-Wachen, Sträflinge in schäbiger Kleidung, kahle Köpfe, Leichenberge, Gestank, Krankheit und Tod.“
„Schsch … du musst nicht weiterreden. Ruh dich aus.“
Sie packte mich plötzlich am Arm. Ihre Hand war klamm und kalt. „Sie haben mir alle meine Sachen genommen“, zischte sie.
„Nein. Deine Sachen sind noch hier.“
Meine Mum blickte mich mit starrem Blick an. „Sind sie nicht! Die haben sie gestohlen. Meine Fotos. Meinen Schmuck. Alles. Und dann haben sie mir so Zeug in den Bauch gespritzt. Lass nicht zu, dass sie es noch einmal tun. Versprich es mir.“
„Niemand wird dir irgendein Zeug in den Bauch spritzen“, erwiderte ich geduldig.
„Du musst auf mich aufpassen.“
„Das sind die Medikamente, Mum. Die machen dich benommen im Kopf.“
„Leni, ich bin so müde. Ich mache kurz die Augen zu. Sag Salome nichts“, flüsterte sie. „Erwähne Auschwitz nicht vor Salome.“
„Wie meinst du das?“
„Es regt sie nur unnötig auf. Sie wird weinen …“
„Sie wird weinen?“ Eiseskälte kroch mir den Rücken hinunter. Es stand wohl schlimmer um meine Mum, als ich dachte. „Hab keine Angst, Mum. Salome geht es gut“, beruhigte ich sie.
Ihr Griff löste sich und sie versank wieder in einen tiefen Schlaf.
Als Salome wieder zurückkehrte, war es still und friedlich im Zimmer. Mum lag entspannt da, ihre Gesichtszüge unverkrampft und die Wangen rosig.