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Elsas Tagebuch
Hallo, ich bin Elsa.
Das hier ist das erste Tagebuch, das ich schreibe, und ich habe keine Ahnung, wie man so was macht. Während ich die Worte niederschreibe, bin ich eine reife Frau, habe zwei wunderbare Töchter und einen fabelhaften Mann.
Warum schreibe ich dieses Buch überhaupt?
Schlimme Dinge sind geschehen und das Tagebuch soll mir dabei helfen, sie zu verarbeiten. Sie sind vor einer halben Ewigkeit passiert und ich habe das Gefühl, dass sie immer tiefer in der Vergangenheit versinken. Wenn ich mich nicht beeile und sie aufschreibe, werden sie für immer verschwinden. Das wäre schlimm, denn so werden die Menschen nie mein Geheimnis erfahren. Sie werden nie erfahren, dass ich in Auschwitz war. Ich brauche Aufzeichnungen darüber, was dort mit den Menschen geschah. Nur so kann ich die Erfahrungen und das Geheimnis zu einem späteren Zeitpunkt an meine Kinder weitergeben. Und an die Welt.
Ich werde nur das schreiben, an das ich mich besonders gut erinnere, denn ich will bei der Wahrheit bleiben. Verschwommene Erinnerungen könnten nur die Wahrheit trüben.
Vielleicht wäre es gut, wenn ich mit dem Juli 1944 beginne. Unser Leben wurde zwar schon Jahre zuvor auf den Kopf gestellt, doch dazu müsste ich in das Jahr 1933 zurückschweifen – zu der Machtergreifung der Nationalsozialisten unter Adolf Hitler. Ich will niemanden mit Einzelheiten aus meiner Jugend langweilen. In dieser Zeit ist so viel passiert, dass ein Leben nicht ausreichen würde, um alles niederzuschreiben.
Der Judenhass schlug wie ein Virus um sich. Er drang in die Köpfe der Menschen und vergiftete sie. Der Juli 1944 war von einer besonderen Bedeutung für meine Familie. Bis dahin war es uns wie durch ein Wunder gelungen, uns vor den Nazis zu verstecken. Nicht alle Menschen wurden vom Judenhass-Virus angesteckt. Manche waren dagegen immun und wir waren von Glück gesegnet, solche Menschen wie Klaus von Bergmann zu kennen. Er war ein ehemaliger Kriegskamerad meines Vaters, der uns bei sich aufnahm. Von Bergmann hatte alles, was man sich wünschen konnte: ein prächtiges Anwesen in einem Waldstück, Geld, Einfluss und ein Kind – die zwanzigjährige Paula, die in Wien studierte.
Während fast unsere gesamte Verwandtschaft bereits deportiert worden war, sorgte er für uns, wie ein Vater für seine Kinder. Mit uns meine ich meinen Vater Samuel Goldberg, meine Mutter Auguste und meine jüngere Schwester Hanna. Im Juli 1944, als sich das alles zugetragen hat, war ich achtzehn Jahre alt und versteckte mich mit meiner Familie bereits seit über einem Jahr vor den Nazis. In diesem Sommer trafen meine Eltern eine folgenschwere Entscheidung.
Am besten fange ich jetzt einfach mal an.
Sonntag, 16. Juli 1944: Elsa spürte, dass etwas Schicksalhaftes in der Luft lag. Kaum hatte sie das Wohnzimmer betreten, fühlte sie die Veränderung wie einen kalten Windhauch. Eine düstere Vorahnung überkam sie.
„Die Nazis sind gefährlich“, hörte sie ihren Vater sagen. „Ich sehe keinen Sinn darin, länger zu warten.“
Samuel Goldberg war fünfzig Jahre alt und ein großer, drahtiger Mann mit einem energischen, kantigen Gesicht, das von seinem dunklen, kaum zu bändigenden Haar noch betont wurde. Hier und da war sein Haar von grauen Strähnen durchzogen, was Elsa zu früh erschien, viel zu früh. Er war ein jung gebliebener Mann voller Elan und Enthusiasmus. Willensstark. Und er hatte einen wunderbaren Humor. Er war das Gegenteil von Elsas Mutter, die eher nüchtern und prüde war. Doch wie hieß es so schön: „Gegensätze ziehen sich an“.
„Dir ist doch klar, dass es nicht so einfach ist …“, erwiderte Klaus von Bergmann. Er verstummte augenblicklich, als er Elsa bemerkte. Er behandelte sie immer noch wie ein Kind. Elsa zögerte einen Augenblick. Sie betrachtete ihren Vater, ihre Mutter und Bergmann.
Klaus von Bergmann war wie immer adrett gekleidet: gestärktes, weißes Hemd, Seidenkrawatte und Weste. Er wirkte nicht mehr so jung, da sein Haar schütter und grauer und sein Gesicht faltiger wurde. Von Bergmann war geschieden, und Elsa fragte sich, ob er je wieder eine Frau finden würde.
Von Bergmanns Gesicht zeigte einen Ausdruck erzwungener Freundlichkeit. Was er wohl zu bedeuten hatte? Elsa kannte Klaus von Bergmann nicht besonders gut. Obwohl er ihre Familie vor der Deportation gerettet hatte und sie sich seit knapp einem Jahr auf seinem Anwesen versteckten, sind sie sich nie besonders nahegekommen. Das Haus war so riesig, dass sie sich kaum über den Weg liefen.
Elsa wusste es noch, als wäre es gestern gewesen. Als sie von einer Freundin nach Hause kam, wunderte sie sich, als ihre Mutter im Wohnzimmer stand und Sachen aus dem Schrank in große Koffer packte.
„Was machst du da?“, fragte sie. Ihre Mutter schüttelte den Kopf. Sie sah aus, als wollte sie etwas sagen, überlegte es sich dann aber anders. „Was ist los?“, hakte Elsa nach.
„Wir verlassen Berlin“, sagte sie kurz angebunden.
„Wir verlassen Berlin? Und wohin gehen wir?“
Ihre Mutter schaute auf. Ihre Augen waren geröteter als sonst; sie hatte geweint.
„Du weißt, wie gefährlich es für uns Juden mittlerweile ist?“
„Ja, natürlich“, sagte Elsa und nickte. Juden mussten den gelben Stern auf der Kleidung tragen. Es gab Unterrichtsverbot für jüdische Schüler. Juden erhielten keine Fleisch- und Milchmarken. Juden mussten ihre Wohnungen kennzeichnen. Juden wurde die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen. Juden durften keine Straßenbahn und kein Auto fahren. Und die Liste der Regeln und Verbote ging endlos so weiter.
„Wir können nicht mehr länger hierbleiben.“
Elsa wollte zu einer Antwort ansetzen, aber dann wurde ihr klar, dass sie nichts entgegenzusetzen hatte. Immer mehr Familien wurden „ausgesiedelt“. Sogar ihre halbe Verwandtschaft: Großeltern, Tanten und Cousinen. Seit der Ausweisung vor einem halben Jahr fehlte jegliches Lebenszeichen. Ganz sicher waren auch sie bald an der Reihe.
„Verstehe. Und wohin gehen wir?“
Elsas Mutter seufzte und schaute sich im Zimmer um. Sie ahnte, dass sie es nie wiedersehen würde. „Kennst du noch die Familie von Bergmann?“
Elsa musste kurz nachdenken. Klaus von Bergmann war ein alter Freund ihres Vaters. Er hatte mit ihm im Ersten Weltkrieg gedient; ihr Vater hatte ihm das Leben gerettet. Elsa erinnerte sich, dass er aus einer sehr einflussreichen und wohlhabenden Familie stammte.
„Wir werden auf dem Landsitz der von Bergmanns untertauchen. Du musst dir wirklich keine Gedanken machen, Elsa. Dort sind wir vor der Staatspolizei sicher.“
Elsa dachte darüber nach und runzelte die Stirn. Das Ganze wird sicher ein großes Desaster, dachte sie. Was sollte sie schon auf dem Land? Dort stank es nach Mist und Vieh.
„Was denn?“, fragte ihre Mutter, die in Elsas Gesicht wie in einem Buch lesen konnte.
„Ich hab nichts“, log Elsa. „Es kommt alles nur so plötzlich.“
„Ja. Natürlich“, sagte sie und nickte. „Pack jetzt deine Sachen! Fürs Erste nimm nur das, was du wirklich brauchst.“
Elsa war in eine mittelständische Kaufmannsfamilie hineingeboren worden und hatte in einem Haus in einer schicken Gegend Berlins gewohnt. Elsas Mutter hatte lediglich die Aufgabe, alle Rädchen des Familienlebens gut zu schmieren – und ihrer Mutter waren gut geölte Rädchen heilig. Sie war sehr bodenständig und eher einfach gestrickt. Obwohl Elsas Familie nicht besonders religiös war, hatte es sich ihre Mutter zur Aufgabe gemacht, die Töchter zu Tugend und Keuschheit zu erziehen. Es schien ihr eine Offenbarung zu sein, ihren Töchtern eine anständige Erziehung zuteilwerden zu lassen.
Elsa war unsicher, was sie damit anfangen sollte. Von einem war sie überzeugt: Das Leben hatte mehr zu bieten als Tugend und Keuschheit. So behielt sie mit klopfendem Herzen für sich, dass sie sich mit Jungs traf und Zigaretten rauchte. Gott bewahre, hätte ihre Mutter davon erfahren!
Konnte das Leben nicht so weitergehen?
Ihrem anfänglichen Widerwillen zum Trotz entpuppte sich der Landsitz von Klaus Bergmann als kleines Paradies. Sie lebten abgeschottet von dem Krieg und Elsa merkte, dass sie Zigaretten und Jungs gar nicht so doll vermisste. Hier konnte sie ohne den gelben Stern rumlaufen, und wegen ihrer roten Haare und der grünen Augen ahnte niemand von ihrer Herkunft. Früher hatte sie sich über das rote Haar geärgert, doch nun war sie froh, dass ihre Mutter ihr die Haarfarbe vererbt hatte. Auch wenn Auguste Golbderg nicht ganz so rotes Haar hatte – eher Kastanienbraun –, war auf den ersten Blick zu erkennen, woher Elsas Haarfarbe kam.
Auguste Goldberg nippte an ihrem Kaffee und schaute aus dem Fenster, als Elsa das Wohnzimmer betrat. Ein blasses, ungeschminktes Gesicht, nicht schön, nicht hässlich. Die großen haselnussbraunen Augen wirkten verträumt. Die widerspenstigen braunroten Locken waren hochgesteckt und gebändigt. Das Sommerkleid war nicht modern aber adrett. Sie gab sich kühl, als ob sie das Gespräch nicht interessierte.
„Störe ich?“, fragte Elsa.
„Nein. Es ist sogar gut, dass du hier bist“, erwiderte ihr Vater. Er schaute zu Klaus und seine Züge wurden weicher. „Es gibt etwas, was du wissen musst.“
Solche Sätze machten Elsa jedes Mal Angst. Meist hatten sie nichts Gutes zu bedeuten. Die Vorstellung, ihre Familie könne erneut in Gefahr sein, war ihr unerträglich.
„Die Nazis werden immer gefährlicher und wir werden uns nicht ewig vor ihnen verstecken können.“
Elsa nickte, obwohl sie sich nicht besonders für politische Diskussionen interessierte. Sie glaubte, nur vage zu verstehen, was die Nazis taten und wie sie Deutschland zu einem besseren Land machen wollten. Sie wollten Juden umsiedeln, um mehr Arbeitsplätze zu schaffen.
„Deine Schwester Hanna muss wieder zur Schule. Du musst weiterstudieren“, fuhr ihr Vater mit seinen Ausführungen fort.
„Gehen wir zurück nach Berlin?“, fragte Elsa verwundert.
Mutter lächelte kühl. „Das hat er nicht gemeint.“ Elsa spürte, dass sie etwas ganz Dummes gefragt hatte und errötete auf der Stelle. „Was dann?“
Ihre Mutter betrachtete sie mit diesem rätselhaften, kühlen Lächeln. „Er meint eine Ausreise nach Amerika.“
Elsa runzelte die Stirn und fragte: „Nach Amerika? Sind wir denn wirklich in solch einer Gefahr?“
Ihr Vater blickte sie seltsam an. Nach längerem Schweigen sagte er: „In einer größeren, als du dir vorstellen kannst.“
„Wir müssen fliehen!“, meinte ihre Mutter.
Erst langsam nahmen die Sätze Gestalt in Elsas Kopf an. „Fliehen?“, wiederholte sie.
„Hitler gibt nicht eher Ruhe, bis Deutschland judenrein ist“, hörte sie Klaus sagen. „Mit den Nazis kann man nicht verhandeln.“
„In Amerika können wir neu anfangen. Ich habe einen Cousin in New York und er hat uns seine Unterstützung angeboten“, erwiderte ihr Vater geduldig.
„Aber wir können nicht nach Amerika reisen. Wir haben doch keine Papiere!“, rutschte es Elsa heraus. Und wieder merkte sie, dass sie etwas Dummes gesagt hatte. Die Erwachsenen versteiften sich unwillkürlich.
In diesem Augenblick kam Hanna nach unten. Sie war vierzehn, wirkte aber älter. Sie hatte die kastanienbraunen Haare ihrer Mutter, bernsteinfarbene Augen und Sommersprossen auf der Nase. Sie war dürr und ohne vorzeigbare Rundungen. Zudem war sie ungewöhnlich groß und ihre Schritte erinnerten eher an einen Storch als an ein junges Mädchen.
Früher hatten die Schwestern oft miteinander gespielt, aber das war vorbei. In letzter Zeit tat Hanna so, als wäre sie total erwachsen und reif. Dabei war sie in Wirklichkeit total albern und kindisch. „Über was unterhaltet ihr euch?“, wollte Hanna von ihrer Mutter wissen.
„Über Politik, mein Schatz.“
„Politik?“ Hanna war ihre Abneigung deutlich anzuhören.
Ihr Vater blickte sie liebevoll an. „Das würde dich nur langweilen.“
Hanna tat so, als müsste sie gründlich nachdenken, dann nickte sie. Unterdessen gab Klaus Elsa zu verstehen, dass sie Hanna nichts erzählen sollte. Elsa hätte beinahe laut gejubelt; die Erwachsenen teilten ein Geheimnis mit ihr. Das konnte nur eines bedeuten: Sie war kein Kind mehr!
Samuel Goldberg sah seine beiden Töchter an. „Geht doch ein wenig schwimmen. Das Wetter ist doch so schön“, sagte er weich.
Das ist typisch Vater, dachte Elsa. Wenn es etwas Wichtiges zu besprechen gab, schickte er sie hinaus. Elsa hatte keine Lust, Hannas Babysitter zu spielen. Sie überlegte, ob sie etwas sagen sollte. Andererseits hatte der Tag so sonnig begonnen, da konnte sie eine Abkühlung gebrauchen.
Die Mädchen hatten sich umgezogen und trugen nun Badeanzüge unter ihren Kleidern. Elsa trug ebenso wie Hanna ein geblümtes Kleid, das ein ganzes Stück über dem Knie endete. Auguste hatte sie aus einem Stoff genäht und die beiden Mädchen wirkten wie Zwillinge. Vor dem Spiegel im Flur setzten sie ihre Sommerhüte auf. Elsa zog ihren so kess nach vorne, dass sie so fesch und mondän wie ein Filmstar aussah. In Hannas Augen sah sie richtig anmutig aus. Elsa war groß und besaß die Figur, Frisur und Ausstrahlung einer Rita Hayworth.
Als Elsa an ihrem Kleid rumzupfte, verdrehte Hanna die Augen. Wofür Elsa wohl so viel Aufwand betrieb, fragte sie sich. Weit und breit gab es keine Jungs und ins Dorf gingen sie so gut wie nie. Klaus hielt es für zu gefährlich; nur ab und zu gingen sie auch nach draußen – in den Wald oder zum Bach. Das Land war Klaus von Bergmanns Privatbesitz, nur selten verirrten sich Fremde hierhin.
Hanna war es jedenfalls egal, wie ihre Kleidung saß. Sie warf ihre dicken Zöpfe über die Schultern, schnappte sich Decke und Handtuch und eilte als Erste hinaus.
Nach einem zehnminütigen Fußmarsch erreichten sie den großen Bach. Klaus’ Anwesen war von dichtem Wald umringt. Mit mächtigen Laubbäumen und hohen Farnen. Von einem Hügel aus blickte man auf ein grünes, gedeihendes Tal und saftige Kuhweiden hinab.
Gute vier Kilometer weiter ragte ein kleines Dorf auf. Der Anblick war so friedlich und idyllisch, dass Elsa für einen Augenblick vergaß, dass da draußen ein Krieg tobte. Nichts hier deute auf Zerstörung und Vernichtung hin und der Ort sah nicht so aus, als würden dort Juden verschwinden. Elsa wusste jedoch, dass das nicht der Fall war. Im ganzen Land verschwanden Juden.
Am Bach leuchteten die Steine grüngolden im Sonnenlicht. Lachend riss Hanna sich die Schuhe von den Füßen und lief froh gestimmt auf den dichten, weichen Rasen. Das Wasser war selbstverständlich noch viel zu kalt und zum Schwimmen war es eigentlich zu flach. Um sich abzukühlen, reichte es jedoch allemal.
Elsa breitete ihre Decke aus, streifte ihr Kleid ab und legte sich in die Sonne. Sie schloss die Augen und versuchte, sich zu entspannen. Alles, was sie wollte, war, ein wenig ruhen und über die Reise nach Amerika nachzudenken. Sie genoss es, die Sonne im Gesicht zu spüren. Ein kräftiger Wind fegte über das Ufer und kühlte angenehm. Eigentlich mochte sie es, braun zu sein, musste aber bei ihrer sehr empfindlichen, zu Sonnenbrand neigenden Haut äußerst gut aufpassen. Wieso konnte sie nicht so eine Haut haben wie Papa? Er wurde braun wie ein Inder.
„Über was habt ihr euch wirklich unterhalten?“, erkundigte sich Hanna mit schneidender Stimme. „Es war etwas Wichtiges, nicht wahr?“ Elsa schlug augenblicklich die Augen auf. Hanna stand direkt über ihr und warf einen großen Schatten auf ihren Körper. Sie schnitt eine Grimasse und ihre Augen wirkten fast unnatürlich groß.
„Nicht jetzt, du Nervensäge“, sage Elsa, doch ihre Stimme klang weich. Die Hitze machte sie müde und träge. In Hannas Gesicht zeigte sich ein Ausdruck verkrampfter Ruhe. Elsa kannte diese Miene; das war typisch für Hanna, wenn sie sich über etwas ärgerte.
Sie kreuzte die Arme vor der Brust. „Erzähl schon!“
Elsa erwiderte nichts. Sie presste die Lippen so fest aufeinander, dass sie zu einem weißen Strich wurden. Sie kämpfte mit sich selbst. Einerseits wollte sie unbedingt von dem Gespräch erzählen. Anderseits wollte sie die Erwachsenen nicht enttäuschen.
„Ich habe Papa von Amerika reden hören“, sagte Hanna.
Es war, als wäre ein Bann gebrochen. Elsa fragte vorsichtig: „Na gut, du Kröte, kannst du ein Geheimnis für dich behalten?“
„Aber natürlich!“, erwiderte Hanna ein wenig schroff.
„Hanna …“ Elsa bemühte sich, verständlich zu klingen. „Das Leben in Deutschland ist nicht mehr schön.“ Ihre Kiefer begannen zu mahlen. „Deswegen möchte Papa mit uns nach Amerika gehen. Nach New York.“
Hanna sah sie mit offenem Mund an. Das hatte sie nicht erwartet. „Amerika?“
„Du brauchst keine Angst zu haben …“, begann Elsa und straffte die Schultern.
„Angst?“, schrie Hanna. „Ich finde es wunderbar!“
Ein trüber Ausdruck trat in Elsas Augen und sie verzog verbittert den Mund. „Du findest es wunderbar? Dir ist wohl nicht klar, dass wir in Amerika komplett neu anfangen müssen!“
„Nein. Dir ist etwas nicht klar. Kein anderes Land besitzt die Macht, uns das zu ermöglichen, was Deutschland uns geraubt hat. Ich … ich werde Medizin studieren und du kannst weiter auf die Kunsthochschule gehen.“
Nun war es an Elsa Hanna mit offenem Mund anzustarren. Woher hatte ein vierzehnjähriges Mädchen bloß so viel Weisheit? Elsa unterdrückte ein Seufzen. War Hanna womöglich reifer und klüger, als sie dachte? Hatte sie sich so in ihr getäuscht?
Sie nickte und schloss die Augen. „Du willst Medizin studieren?“, fragte sie leise.
„Ja. Ich möchte Ärztin werden.“
„Das finde ich gut.“ Als Juden noch studieren durften, war Elsa auf eine Kunsthochschule gegangen. Sie hatte vorgehabt, Kunstlehrerin zu werden. Elsa hatte zwei Hobbys: Zeichnen und Tanzen. Ihre Eltern ließen für beides so viel Geld ausgeben, wie sie brauchte. Sie unterstützten sie, wo sie konnten. Bis der gelbe Stern kam. Die Aussicht, ein Studium abzuschließen, war, wie es ihr inzwischen schien, utopisch. „Du kannst Menschen helfen.“
„Ja. Und in Amerika gibt es sehr viele Menschen.“
„Stimmt.“
„Papa kann in Amerika wieder einen Laden eröffnen“, bemerkte Hanna klug.
Bevor die jüdischen Geschäfte boykottiert wurden, hatte ihr Vater einen florierenden Pelzladen besessen. Das Geschäft lief sehr gut. Damen aus ganz Deutschland pilgerten dahin, um die auserlesenen, extravaganten Pelzmäntel, Capes und Hüte zu kaufen. Die meisten Frauen waren Stammkundinnen, die Elsa und Hanna sehr gut kannten. Zum Missfallen der Familie hatten sich die Kundinnen zu glühenden Sympathisanten des Nationalsozialismus entwickelt und bald darauf blieb der Laden leer. Ihr Vater leistete dennoch hervorragende Arbeit und Hanna zweifelte nicht daran, dass er auch in Amerika Erfolg haben könnte.
Sie malte sich laut aus, dass sie in einer Villa am Meer wohnen würden. Kundinnen aus ganz Amerika würden ihren Vater kennen und Elsa hätte reiche Verehrer. „Vielleicht heiratest du sogar einen amerikanischen Filmstar.“ Es klang ein bisschen neidisch. Elsa guckte sie verblüfft an. Dann brachen sie in Gelächter aus. Vielleicht war die Abreise nach Amerika keine so schlechte Idee, dachte Elsa. Allmählich schien sie Gefallen an der Vorstellung zu finden.
Elsa und Hanna blieben noch lange am Wasser. Emsig schmiedeten sie Pläne für Amerika. Dabei ahnten sie nicht, dass es ihre letzten gemeinsamen, schönen Augenblicke sein sollten.