Читать книгу Elsas Stern. Ein Holocaust-Drama - Agnes Christofferson - Страница 13
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New York, Frühjahr 1979 Montag
Als ich den letzten Kunden bedient hatte, waren nur noch wenige Leute im Lesesaal. Ich ließ den Blick über die übrigen Bibliotheksbesucher schweifen. Drei standen in der Schlange, fünf weitere standen an den Regalen. Meine Kollegin Joanne war soeben reingekommen, und ich konnte pünktlich Feierabend machen. Die Bibliothek befand sich in einem unscheinbaren zwanzigstöckigen Bürogebäude. Es war nie besonders viel los. An manchen Tagen war es geradezu geisterhaft still. Tagsüber war es nicht so schlimm. Abends allerdings herrschte im großen Lesesaal eine gruselige Atmosphäre. Die Bodendielen quietschten und der Wind pfiff zwischen den Wänden wie in einem Geisterhaus.
Ich sah auf die Uhr.
Zehn vor fünf. Zeit zum Gehen.
Ich fing an, den Schalter aufzuräumen und meine Sachen einzupacken.
„Hi, hast du einen Moment Zeit?“, hörte ich plötzlich eine Stimme irgendwo über mir. Ich erschrak dermaßen, dass ich leise aufschrie und das Tagebuch meiner Mum fallen ließ, welches ich gerade in meine Tasche packen wollte. Ich hatte es mitgenommen, um in der Pause darin zu lesen.
Mit vor Schreck geweiteten Augen blickte ich auf und sah einen unverschämt attraktiven jungen Mann mit dichtem schwarzem Haar, das in seine beinahe schwarzen Augen fiel. Ich brauchte ein paar Sekunden, um ihn als meinen neuen Kollegen Jules Stiles zu identifizieren. Er war seit einer Woche bei uns und bis jetzt hatten wir nur vier Sätze gewechselt. Der große, stets gut gekleidete Mann hatte von Anfang an einen sympathischen Eindruck gemacht.
Er lächelte vorsichtig, schob sich seine etwas zu langen, dunklen Locken aus der Stirn und holte einen dicken Stapel Magazine hervor. Ich hatte absolut keine Ahnung, wie lange er schon an meinem Schalter stand, denn ich hatte ihn nicht kommen hören. Dieser unglaubliche Anblick verblüffte mich derart, dass ich wie angewurzelt stehen blieb.
„Sorry, ich wollte dich nicht erschrecken. Weißt du, wo ich die hier einsortieren muss?“, fragte er. Bevor ich antworten konnte, bückte er sich nach dem runtergefallenen Tagebuch und übergab es mir. Ich sah, wie er den Blick rasch auf den Einband richtete und dann wieder abwandte.
Ein leises Schluchzen stieg in meiner Kehle auf und ich konnte nicht verhindern, dass mir ein erstickter Laut entfuhr. „Danke“, murmelte ich. Als sich unsere Blicke begegneten, fielen mir seine dichten Wimpern auf. Das waren wahrscheinlich die längsten, dichtesten und dunkelsten Wimpern, die ich je gesehen hatte. Ich schob eine Haarsträhne hinters Ohr und bemühte mich, nicht zu verwirrt auszusehen. „Die Magazine kannst du ruhig auf den Lesetischen verteilen“, sagte ich freundlich und lächelte etwas bemüht.
„Alles klar! Danke.“
Ich ließ den Blick zum Fenster schweifen. Was sich darin spiegelte, gefiel mir nicht. Ich wirkte nun wirklich nicht wie eine Top-Businessfrau. Eine junge Frau mit dunklen Schatten unter den Augen blickte mir entgegen. Ich war nicht besonders groß, dafür schlank und trug anstatt eines Kostüms ein weit geschnittenes Tunikakleid, das meinen schmächtigen Körper noch magerer wirken ließ. Die braunen Kniestiefel ließen meine Beine ein wenig zu kurz erscheinen. Ich fand, dass ich heute mehr als sonst wie ein Kind und nicht wie eine fünfundzwanzigjährige Frau aussah.
Ich spürte Jules Blicke auf mich gerichtet und mein Mund wurde trocken, meine Handflächen feucht.
„Was ist das für ein Buch?“, fragte er und sah auf den Einband. „Darf ich mal sehen?“
Ich atmete tief ein und setzte ein gezwungenes Lächeln auf. „Es ist ziemlich persönlich. Das ist das Tagebuch meiner Mutter.“
Er zögerte, wenn auch nur kurz, ehe er sagte: „Und der Davidstern?“
Mein Magen fühlte sich an, als wäre er eine Klippe runtergestoßen worden. Ich atmete tief aus. Meine Wangen und Lippen blähten sich auf. „Das Ganze ist irgendwie kompliziert.“
Er nickte, ohne den Blick vom Buch zu nehmen. Meine Schultern verspannten sich sofort und ich musste wohl eine Grimasse geschnitten haben, denn Jules entschuldigte sich augenblicklich. „Aha. Also … Tut mir leid.“ Er verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. „Manchmal bin ich ein Idiot.“
Ich errötete. „Nein!“, platzte es aus mir heraus. „Du bist doch kein Idiot! Deine Frage ist berechtigt. Meine Mutter war in Auschwitz.“
Seine Augen wurden groß wie Untertassen. „Auschwitz? Das ist ein dickes Ding!“
„Bis vor ein paar Tagen wusste ich nichts davon“, sagte ich betrübt.
„Sie ist also in Europa aufgewachsen?“
„Ja. In Deutschland. Viel mehr weiß ich auch nicht …“
„Viele Holocaustopfer erzählen nicht gerne davon.“
„Du scheinst dich damit auszukennen“, bemerkte ich interessiert.
„Ein guter Freund meines Vaters hat so einiges durchgemacht.“
„Meiner Mum geht es nicht so gut. Sie hatte einen Nervenzusammenbruch“, brach es aus mir heraus.
„Das tut mir leid“, hörte ich Jules sagen und es klang sehr aufrichtig.
„Und sie hatte ein Geheimnis.“ Die Worte ließen sich nicht mehr bremsen.
„Wir alle haben Geheimnisse.“
„Es ist aber ein verwirrendes Geheimnis.“ Ich verspürte so ein unbehagliches Gefühl in der Magengrube. „Ich habe eine zehn Jahre ältere Schwester. Doch nun habe ich erfahren, dass sie gar nicht meine Schwester ist. Das ist so konfus“, hörte ich mich plötzlich sagen, ohne zu wissen, was über mich gekommen war.
Wie kam ich dazu, einem Fremden solche privaten Dinge anzuvertrauen? Und einem neuen Arbeitskollegen dazu. Das ging ihn ja wohl gar nichts an!
Jules blickte mich nachdenklich an. „Das ist wirklich ein verwirrendes Geheimnis. Wurde deine Schwester adoptiert?“
„Das weiß ich nicht“, gestand ich.
Er presste die Lippen aufeinander. Seine Mundwinkel zuckten, dann beugte er sich vor, als hätte er etwas Wichtiges mitzuteilen. „Lass deiner Mutter Zeit“, sagte er.
Ich biss mir auf die Zunge. „Ja. Das wird wohl das Beste sein.“ Ich warf einen Blick auf seine Uhr. Mist! Ich hatte gar nicht gemerkt, wie schnell die Zeit verflogen war. Ich wollte noch ins Elektrics, um dort weitere Nachforschungen anzustellen. Ich hoffte nämlich, dass der mysteriöse unbekannte Mann ein Stammgast war. Vielleicht begegnete ich ihm wieder. „Tja, ich muss los“, stammelte ich und lächelte gezwungen.
„Selbstverständlich“, antworte er. „Es war nett, dich besser kennengelernt zu haben.“ Er lächelte. Dabei ließ er eine Reihe weißer, ebenmäßiger Zähne sehen. Keine Frage, er hatte das Lächeln eines Filmstars. „Ich muss dann weiter. Magazine einsortieren und so.“ Und schon war er weg. Er sah nicht mehr, wie ich errötete. Ich packte meine Sachen zu Ende und verließ zehn Minuten später die Bibliothek.
Als ich mich auf den Weg machte, war auf den Straßen, Gott sei Dank, noch nicht viel los. Zum Glück streikte meine alte Klapperkiste nicht und so stieß ich die schwere Glastür des Restaurants pünktlich um halb sechs auf. Es war ziemlich voll. Unzählige Kellner huschten über den polierten Boden und trugen Essen an die voll besetzten Tische. Junge Leute umringten die Bar und die Musik spielte lauter als sonst.
Ich bahnte mir einen Weg durch die Menge und stellte mich an die Theke. Neben mir standen drei junge Frauen in leichten, todschicken Kleidchen. Sie sahen aus wie Models: groß, blond und wie aus dem Ei gepellt. Sie tranken Cocktails, lachten und versuchten, sich bei der lauten Musik zu unterhalten. Ich bestellte ein Glas Wasser, und während ich an meinem Glas nippte, suchte ich den Raum immer wieder nach dem Mann ab. Dabei ließ ich die Begegnung noch einmal gedanklich Revue passieren. Er war mit einer attraktiven Blondine unterwegs gewesen. Einer sehr jungen Blondine. Er schien reich zu sein. Für sein Alter war er attraktiv. Am meisten sind mir seine stechend blauen Augen in Erinnerung geblieben.
Was würde ich sagen, wenn er vor mir stünde?
Unwillkürlich bekam ich eine Gänsehaut. Was sollte ich ihm für Fragen stellen? Sollte ich einen wildfremden Mann nach Auschwitz fragen?
Eine halbe Stunde verstrich.
Eine Dreiviertelstunde verging.
Die ganze Idee war doch Blödsinn, gestand ich mir. Das Restaurant war viel zu voll. Mit Warten und Hoffen würde ich ganz sicher nichts erreichen.
Ich strich mir mein Kleid glatt und drehte mich zu der Barfrau um, wobei ich mir eine Haarsträhne hinters Ohr strich. „Kann ich Ihnen eine Frage stellen?“, schrie ich zu ihr rüber.
„Klar. Nur zu.“ Sie lächelte mich freundlich und auch ein wenig belustigt an.
„Waren Sie Samstagabend auch hier? Hatten Sie Dienst?“
Sie taxierte mich und hob die Augenbrauen. „Nein. Tut mir leid. Worum geht es denn?“, fragte sie interessiert.
Ich überlegte fieberhaft, wie ich mein Anliegen am besten formulieren konnte, ohne wie ein Stalker zu klingen: „Ähm … offen gestanden suche ich jemanden.“
„Aha“, lautete ihr Kommentar.
„Es ist ein älterer Mann …“ Ganz ruhig und sachlich beschrieb ich ihn. „Vielleicht ist er ja ein Stammgast und Sie kennen ihn?“, erklärte ich.
Sie stutzte, dann schrie sie zurück: „Nein. Ich kenne ihn leider nicht. Selbst wenn ich ihn kennen würde, könnte ich Ihnen keine Informationen geben.“ Sie hielt kurz inne und musterte mich. „Sind Sie von der Polizei?“, fragte sie so kühl, dass ich rot wurde.
Ich schüttelte den Kopf und schlucke nervös.
„Aha“, lautete wieder ihr Kommentar. Diesmal umspielte ein Lächeln ihre Mundwinkel. „Das habe ich mir schon gedacht. Wie ein Bulle sehen Sie nämlich nicht aus.“
Ich griff in meine Tasche, holte eine Visitenkarte heraus und drückte sie der Kellnerin in die Hand. „Nur für den Fall, dass Ihnen doch noch etwas einfallen sollte. Sie scheinen wirklich sehr nett zu sein“, sagte ich aufrichtig.
Sie schaute auf die Karte. „Ok. Ich kann Ihnen aber nichts versprechen.“
„Ist nicht schlimm.“
„Wieso suchen Sie diesen Mann?“, fragte sie mit zusammengekniffenen Augen.
Ich errötete. Eine Hitzewelle durchflutete mich. „Das ist eine lange Geschichte.“
„Es geht mich ja auch nichts an.“ Sie drehte sich wieder ihrer Arbeit zu. Ich beschloss, mir noch etwas zu essen zu bestellen und dann zu meiner Mutter ins Krankenhaus zu fahren. So blieb ich noch eine Weile sitzen. Meine Augen wanderten immer wieder zu der Eingangstür. Doch der Mann tauchte an diesem Abend nicht auf.