Читать книгу Elsas Stern. Ein Holocaust-Drama - Agnes Christofferson - Страница 12
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Donnerstag, 20. September 1944: Elsa wurde aus dem Schlaf gerissen. „Wach auf“, ertönte ein dringliches Flüstern. „Wach auf, Elsa! Es ist so weit!“ Die Stimme gehörte ihrer Mutter.
Ach ja, fiel Elsa ein, etwas Wichtiges passiert heute. Es war der Tag ihrer Flucht nach Amerika. Sie öffnete die Augen, rieb sich über das Gesicht und gähnte. Das Zimmer war noch dunkel, aber sie konnte trotzdem ihre Mutter erkennen, die über sie gebeugt auf sie heruntersah. Sie war angezogen und ihr Haar frisiert. Der zarte Duft ihres Parfüms strömte Elsa in die Nase.
„Zieh dich an und pack deine restlichen Sachen. Nach dem Frühstück brechen wir auf“, ordnete sie an.
Elsa gähnte noch einmal. „Wie spät ist es eigentlich?“
„Viertel nach vier.“
„Himmel!“, sagte Elsa, obwohl sie wusste, weshalb sie so früh aufbrechen mussten. Gestern Abend hatten sie alles besprochen.
„Der direkte Weg zur dänischen Grenze ist zu gefährlich. Zu viel Staatspolizei und Soldaten. Ohne die gültigen Papiere ist es aussichtslos“, hatte Klaus beim Abendessen erklärt. „Wir werden Schleichwege nehmen müssen, doch das wird uns einige Stunden kosten. Wir müssen so früh wie möglich aufbrechen.“ Vor ihnen auf dem Tisch lag eine ausgebreitete Landkarte mit Markierungen.
„Ja. Ist gut“, murmelte ihr Vater, während er die Karte studierte. Er hatte sich entschieden, über Dänemark zu fliehen.
Klaus tippte mit dem Finger auf einen bestimmten Punkt. „Kurz vor der Grenze werde ich euch an Hans Weber übergeben. Er kennt einen wenig bewachten Übergang. Er bringt euch zu einem verlassenen Bauernhof. Dort wird euch ein Mittelsmann die Papiere übergeben. Die Papiere ermöglichen euch den Übergang über die dänische Grenze und eine Überfahrt nach England. Von dort aus sollte es leicht für euch sein, nach Amerika …“
„Kann man Weber wirklich trauen?“, fiel ihre Mutter ihm ins Wort. Elsa nippte an ihrem Tee und beobachtete die Erwachsenen wachsam. Der Plan klang ja ziemlich einfach und recht unspektakulär.
Klaus nickte nur: „Ja. Weber macht das nicht zum ersten Mal. Er hat noch einen Juden dabei, Jakob Braun, einen jungen Studenten. Er wird mit euch reisen und sich als eurer Neffe ausgeben.“
„Wir nehmen einen Fremden mit?“, hörte sich Elsa entsetzt fragen und schämte sich dessen gleich wieder. Warum musste sie nur immer so ruppig sein? Sie bemerkte, dass ihre Mutter noch besorgter aussah. Es war unverkennbar: ihr gefiel die Idee auch nicht.
Ihr Vater sah seine Frau und Tochter ernst an. „Wir müssen uns gegenseitig helfen. Nur so können wir den Krieg überleben.“
„Natürlich Papa … “, begann Elsa, hielt dann aber inne. Da gab es nichts zu diskutieren. Wenn Klaus von Bergmann nicht da gewesen wäre … Himmel … sie wollte gar nicht darüber nachdenken, was aus ihnen geworden wäre.
Hanna biss genüsslich in ihr Brot. „Nun mal ehrlich, Schwesterherz, manchmal bist du ziemlich egoistisch“, sagte sie, doch dann spürte sie den missmutigen Blick ihrer Mutter auf sich ruhen und senkte beschämt den Blick.
Für einen Moment schwiegen alle.
„Jeder nimmt nur einen Koffer mit und ihr dürft nicht zu viele Sachen übereinander tragen. Ihr müsst so gewöhnlich wie möglich wirken.
„Wer ist der Mittelsmann, der uns die Papiere besorgt?“, erkundigte sich ihr Vater.
Klaus sah ihn ernst an. „Das weiß ich leider nicht. Er ist ein Kontaktmann von Hans Weber. Er soll gut und sogar in der Lage sein, euch amerikanische Papiere zu besorgen. Jakob Braun wird euch eine große Unterstützung sein. Seine Eltern sind bereits seit 1939 in Amerika und er spricht fließend Englisch.“
Ihr Vater nickte nur. „Ist klar“, sagte er dann. „Wir müssen darauf vertrauen, dass alles gut geht.“
„Nein“, Klaus schaute nachdenklich auf die Karte, „beten wäre angebrachter.“
Elsas Vater blieb reglos sitzen. „Ich bete nicht.“
Jetzt runzelte Klaus von Bergmann die Stirn. „Du bist ein komischer Jude.“
Elsa sah, wie es in dem Gesicht ihres Vaters arbeitete. Seine Stimme klang belegt, als er sagte: „Die komischen Juden mögen Nazis ganz besonders nicht.“
Klaus lachte. „Vermutlich hast du recht, alter Freund.“
Währenddessen schickte Elsas Mutter die Mädchen ins Bad. „Wascht euch ja gründlich“, ermahnte sie. „Wer weiß, wann ihr das nächste Mal Seife und Wasser zu Gesicht bekommt.“ Obwohl sie es lapidar dahergesagt hatte, blieb der Satz Elsa lange in Erinnerung. Er erschien wie eine düstere Prophezeiung. Als hätte ihre Mutter damit ihr Schicksal heraufbeschworen.
Selbst jetzt, nachdem sie sich müde aus dem Bett gekämpft hatte, wusch sie sich noch einmal gründlich. Danach zog sie ihre besten Sachen an: ein figurbetontes Kleid, braune, glänzende Schuhe und eine Strickjacke.
Ihr Koffer lag offen auf dem Bett. Sie faltete gerade die letzten Kleidungsstücke zusammen, als ihre Mutter wieder ins Zimmer kam und sie zum Frühstück bat. In der Küche herrschte gespenstische Stille. Die Sorge und Anspannung war allen ins Gesicht geschrieben.
„Alles wird gut“, hatte Samuel Goldberg gemurmelt, dabei konnte er keinem in die Augen sehen. Da wusste Elsa schon, dass nicht alles gut gehen würde.
Nach dem Frühstück sah Elsa zu, wie ihr Vater alles, was sie für die Reise benötigten, in Klaus’ Wagen verstaute. Ihre ganze Existenz bestand aus nur vier Koffern!
Die Fahrt nach Dänemark war kein großes Abenteuer, denn alles verlief nach Plan. Nur zwei Mal mussten sie von der Straße in ein Waldstück ausweichen, weil sich ein verdächtiges Fahrzeug genähert hatte. Die Stunden vergingen in einem trüben Dunst. Die Mädchen waren müde und dösten immer wieder ein. Die Fahrt wurde nur durch kurze Essens- und Pinkelpausen unterbrochen.
Gegen Mittag schlief Elsa tief ein und wurde erst wach, als das Auto zwei Stunden später zum Stehen kam und ihre Mutter sie unsanft weckte. Im hellen Licht der Sonne erkannte sie einen Wagen und zwei fremde Gestalten. Eine trug einen altmodisch geschnittenen dunklen Anzug und gab, wie sie sich so schief zur Seite neigte, eine finstere Erscheinung ab. Die andere Gestalt war hochgewachsen, spindeldürr und trug einen Koffer in der Hand.
Die Autotür wurde geöffnet und die dürre Gestalt musterte Elsa in aller Ruhe. Das Gesicht unter dem seitlich gescheitelten, kurzen braunen Haar war eher unscheinbar. „Hallo. Ich bin Jakob. Du musst Elsa sein.“
Ohne mit der Wimper zu zucken, nickte Elsa. Jakob?, fragte sie sich verwirrt. Dann mussten sie schon in Grenznähe sein. Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Elsa beschattete ihre Augen gegen die Sonne. Der andere Mann war demnach Hans Weber. Jetzt sah Elsa auch, weshalb er gekrümmt lief: er hatte einen Buckel. Scheinbar behinderte ihn dieser stark beim Laufen, denn sein Gesicht war hochrot und der Haaransatz über seiner Stirn glänzte feucht.
Dann wurde es hektisch. Weber befahl ihnen, das Fahrzeug zu wechseln, und in Windeseile wurden die Koffer umgepackt. Webers Wagen war zwar etwas geräumiger, aber schließlich mussten sie jetzt zu sechst reinpassen. Der Abschied von Klaus war kurz, aber herzlich. Viel zu kurz, dachte Elsa, letztendlich hatte der Mann ihnen das Leben gerettet und dabei sein eigenes aufs Spiel gesetzt. Zum Schluss versprach ihr Vater, ihm aus Amerika zu schreiben.
Als Klaus kehrtmachte, fuhren sie Richtung Dänemark. Während der Fahrt erklärte Weber den Plan. Er wollte Elsas Familie in einer Scheune verstecken. Sie wurde als Lager für Weinfässer genutzt und bot ein perfektes Versteck. Dort würden sie verharren, bis der Mittelsmann mit den gefälschten Pässen kam. Nach der Übergabe stand ihnen der Weg über die dänische Grenze offen.
„Wird die Passkontrolle keinen Ärger machen?“, erkundigte sich Elsas Vater.
„Nein“, sagte Hans Weber. „Heute Abend ist nur ein Bursche an der Schranke. Er mag Juden zwar nicht, aber ihm ist egal, ob sie mit Gewalt oder freiwillig aus dem Land verschwinden. Er wird also keine Fragen stellen. Dafür habe ich schon gesorgt.“
„Danke“, sagte ihre Mutter aufrichtig.
Wie zwei gedämpfte Scheinwerfer richteten sich Hans Webers Augen auf sie. „Danken Sie nicht mir. Danken Sie Ihrem großzügigen Mann. Euch Juden mag ich auch nicht. Euer Geld ist mir aber willkommen.“ Er grinste breit, sodass eine Reihe fleckiger und schiefer Zähne sichtbar wurde. „Des einen Leid ist des anderen Freud. So sagt man doch?“
„Dennoch riskieren Sie Ihr Leben für uns“, bemerkte Auguste Goldberg.
Weber schüttelte in gespielter Verwunderung den Kopf. „Tatsächlich? Sie wissen wohl nicht, was man sich im Krieg für Geld alles kaufen kann.“
„Sie riskieren sehr viel“, wiederholte Auguste.
„Ich denke, ich habe keine andere Wahl. Ich bin ein buckliger Krüppel. Wer gibt mir schon eine Anstellung? Mit euch Juden kann man schnelle Geschäfte machen. Ich meine, einmal abgesehen von der Tatsache, dass ich mich fast genauso darauf freue, euch loszuwerden wie unser Herr Hitler.“
Eine dumpfe, aber hartnäckige Unruhe übermannte Elsa. Bisher hatte sie sich nie darüber Gedanken gemacht, wie viel ihr Vater für die Flucht bezahlt hatte. Es musste ein Vermögen sein! Es wäre doch gut möglich, dass Weber seine Abmachung gar nicht einhielt.
Doch das tat er.
Knapp eine Stunde später erreichten sie auf Schleichwegen, teils zu Fuß durchs Dickicht, den Bauernhof. Nachdem sie ein sicheres Versteck zwischen den Fässern bezogen hatten, verabschiedete sich Hans Weber und überließ sie ihrem Schicksal.
Es war dunkel, feucht und kalt in der Ecke, aber sie taten, was Weber ihnen geraten hatte, und so blieben sie in ihrem Versteck hocken. Weber hatte gesagt, sie müssten nur einen Moment warten und sich bloß ein wenig gedulden. Aus einem Moment wurden viele; sie kauerten zu fünft in dem Labyrinth aus Weinfässern und lauschten.
Elsa hatte jegliches Zeitgefühl verloren und konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, wie lange sie schon warteten. Sie ging von zwei Stunden aus. Ihr taten vom vielen Hocken die Knie weh; sie fühlte sich wie zu Stein erstarrt, doch sie gab keinen Mucks von sich. Sie war ja kein kleines Kind mehr und sie wusste, dass es wichtig war, sich still zu verhalten. Der Mann mit den falschen Pässen würde ganz sicher gleich kommen, und dann würde der Reise nach Amerika nichts mehr im Weg stehen, hatte Elsas Mutter sie leise beruhigt.
Eine dumpfe, aber hartnäckige kleine Flamme der Unruhe loderte immer noch in ihrem Inneren. Die Befürchtung, etwas Unvorhersehbares würde sich ereignen, ließ Elsa nicht los. Sie fragte sich, ob dieses Gefühl ihrer eigenen Intuition entsprang oder ob es sein konnte, dass es durch die allgemeine Anspannung ausgelöst wurde. Sie alle waren hungrig und durstig, und die Warterei und Ungewissheit kratzten an ihren Nerven.
Jakob, der direkt hinter Elsa hockte, atmete schwer und sein Magen knurrte. Er hatte Beine wie eine Giraffe und sie waren ihm die ganze Zeit im Weg. Er versuchte, eine angenehmere Position einzunehmen, dabei gab er ihr einen Tritt. Daraufhin gab sie ihm einen leichten Stups. Dann spitzte sie die Ohren und wartete darauf, etwas zu hören. Jakob stupste zurück. Ihre Eltern hatten ihnen verboten, sich zu bewegen, aber das war ihm scheinbar egal. Ihre Mutter, die ein Stückchen vor ihr hockte, warf ihnen einen gereizten Blick zu, dabei presste sie Hanna an ihre Brust.
Ein Streifen Sonnenlicht, der zwischen zwei Fässern hindurchfiel, berührte Elsas Gesicht. Er fühlte sich warm und angenehm an und ließ sie den Hunger vergessen.
Die Geräusche in der Umgebung änderten sich schlagartig. Lautes Fußgetrappel durchbrach die Stille und brachte die Dielen zum Vibrieren. Elsa zauderte einen kurzen Augenblick und hielt den Atem an. Das Geräusch konnte unmöglich ein einzelner Mann verursachen. Auch ihr Vater schaute stutzig. Er runzelte die Stirn, dann gab er zu verstehen, dass sie ganz besonders still sein sollten.
„Da sind sie!“ Eine Stimme ertönte ganz in der Nähe. Es war die Stimme des Mannes mit den falschen Papieren. Da war sich Elsa ganz sicher.
Die Fässer wurden rüde zur Seite geschoben und sie blinzelte überrascht ins Licht. Der Schrei, der aus ihrer Kehle drang, klang so befremdlich wie das, was sie sah. Der Mann mit den falschen Papieren war nicht alleine gekommen. Ein kleiner Trupp SS-Männer begleitete ihn.
„Sofort aufstehen!“, brüllte einer der Soldaten. „Die Reise ist zu Ende.“ Gewehre und Pistolen wurden auf sie gerichtet. Hanna drückte sich ängstlich an ihre Mutter. Einer der Soldaten winkte Jakob zu. „Herkommen!“, befahl er. Jakob erhob sich wie ein Schlafwandler. „Schneller!“ Er packte Jakob am Oberarm, stieß ihn vor sich, setzte ihm die Pistole ins Genick und drückte ab.