Читать книгу Sonnenwarm und Regensanft - Band 1 - Agnes M. Holdborg - Страница 10
Insel mal drei
ОглавлениеEigentlich war Anna immer wieder gern hier auf der Insel. Sie liebte den speziellen Geschmack der Luft, so süß und salzig. Und den Wind. Die See, egal ob rau oder sanft. Den fast weißen breiten Strand. Einfach herrlich.
Die Dünen glänzten auf eine ganz eigene Art und Weise in der Sonne, weil sich das harte Gras im Wind wellenförmig bewegte und dadurch in ständig wechselnden Grünschattierungen schimmerte.
Der helle Sand, dieses Grün und das intensive Blau der Nordsee ergaben ein derart faszinierendes Gesamtbild, das Anna regelmäßig ins Schwärmen versetzte.
Es war zudem die Vielfalt dieser Insel, die sie so mochte. Zum Beispiel die zahlreichen Vogelarten. Nicht weit vom Ort entfernt lag ein Binnensee. Der schwappte fast über von Federvieh aller Arten. Schon oft war Anna dort gewesen, hatte sich mit ihrem Vater in den hölzernen Ausguck gehockt und stundenlang hinausgeschaut.
Die Vögel an sich waren ihr dabei gar nicht so wichtig gewesen wie Johannes. Nein, sie liebte auch hier das Gesamtbild:
Das schillernd tiefe Blau des Sees mit den funkelnden Sonnenlichtspuren darin und den sich kräuselnden Wellen bei leisem Wind. Die wogenden Schilfwälder rundherum.
Streicheleinheiten für sämtliche Sinne. Balsam für die Seele. Und wie geschaffen zum Träumen.
Selbstverständlich hatte Anna beinahe täglich ausgedehnte Strandspaziergänge unternommen, ob alleine oder mit der Familie. Schließlich war auch das die Gelegenheit, ihren fantastischen Schwärmereien freien Lauf zu lassen.
Ab und an schaute ihr ein Seehund dabei zu, streckte den Kopf aus dem Wasser und glotzte sie aus großen schwarzen Knopfaugen neugierig an.
Je nach Tide durchpflügten ein paar Fischkutter das Wasser nahe dem Strand und wurden unterdessen von einer quirligen Schar Möwen mit wildem Geschrei verfolgt.
Immer wieder sah die Insel anders aus. Jeden Tag, Stunde um Stunde, je nach Licht und Wetterlage.
Es war allezeit traumhaft schön. Auch bei dem nahegelegenen rot-weiß-gestreiften Leuchtturm, der nachts so beruhigend und regelmäßig wiederkehrend durchs Fenster schien.
Und in dem hübschen kleinen Dorf, wo das Ferienhaus stand. In dem ursprünglichen und geheimnisvoll anmutenden Örtchen standen jahrhundertealte Häuschen aus rotem Backstein. Einige davon waren efeubewachsen, manche moosbesetzt und reetgedeckt.
Anna besaß zwar nicht das Talent, die faszinierenden Bilder mit Farbe und Pinsel auf eine Leinwand zu bannen. Dafür hielt sie so manche Stimmung auf Handyfotos fest oder aber in ihrem Notizbuch. Außerdem spielte die Insel häufig eine große Rolle in ihren Träumen.
Sie fühlte sich stets wohl, hier bei den Menschen, deren wohlklingende, melodische Sprache sie immer zu verstehen glaubte und doch daran verzweifelte. Ihre kläglichen Versuche, wie »bedankt«, »tot ziens« oder kurz »duii« oder ein kleinlautes »alstublief«, wurden mit einem dankbaren Lächeln belohnt und meist mit einem recht guten Deutsch beantwortet. Jedenfalls klappte die Verständigung »ächt prrrima«.
Während der vielen Sommer auf dieser Insel hatte Anna nie ein unfreundliches Wort gehört – außer von Jens! Und mit dem war sie nun hier!
… Schon die Anreise war nach Annas Dafürhalten einfach schrecklich:
Nur seine Musik durfte abgespielt werden. Immer musste alles nach seiner Nase gehen. Allerdings verschwieg sie ihm und der ganzen Welt, dass sie seine Musik eigentlich ziemlich cool fand.
Und dann seine ständigen Befehle: »Anna, gib mir mal die Sonnenbrille!«; »Anna, gib mir was zu Trinken!«; »Anna, haben wir noch Sandwiches?« – Anna, Anna, Anna!
Jens war zwar der Fahrer, okay. Trotzdem, er könnte ja auch mal nett fragen und eben nicht so »Jens-mäßig«, oder?
Andauernd nörgelte er an ihr herum:
»Ich hoffe, du hast dir einen gescheiten Bikini gekauft, damit man sich hier mit dir blicken lassen kann. Schwimmanzüge sind nämlich für die Olympiade gedacht und nicht für den Strand.« …
»Hast du dir ein gescheites Sonnennasenfahrrad angeschafft? Sonst siehst du wieder aus, wie ein Kleinkind mit Mamis Brille.« …
»Du hättest dir wenigstens die Haare ein bisschen schneiden lassen können.« …
Blablabla! Allmählich bedauerte sie es von ganzem Herzen, ihrer Mutter versprochen zu haben, ihn nicht zu zerfleischen.
Auf der Fähre änderte er seine Taktik.
Sie saßen unter Deck im großen Aufenthaltsraum an einem Tisch, da fing er an, sie auszufragen:
»Lena sagt, du strolchst viel alleine rum. Was machst du dann? Wo gehst du hin? Du weißt schon, dass du noch ein bisschen zu jung zum Rumhängen bist, Anna?« …
»Hast du dir endlich überlegt, wie es nach der Schule weitergehen soll?« …
Anna versuchte es mit Aussitzen. Sie verweigerte ihm schlicht die Aussage und starrte stattdessen stur zum Fenster aufs Meer hinaus.
Doch dann folgte aus heiterem Himmel seine Schlussattacke:
»Schminkst du dich eigentlich auch mal? Nicht, dass mich das überhaupt interessieren würde, aber es könnte vielleicht von Vorteil sein und von der Brille ablenken.«
»Das reicht! Ich muss hier raus, bevor ich ihn abmurkse!«
Wortlos sprang sie auf, ohne ihre Chocomel angerührt zu haben, und stürmte zurück aufs Autodeck. Sie schlängelte sich zwischen den Wagen hindurch bis zum Bug der Fähre, lehnte sich an die Reling und ließ sich den Wind um die Nase, besonders um ihre Tränen wehen.
Anna hatte ernsthaft überlegt, zu Fuß an Land zu gehen. Das war ihr dann doch zu blöd. Als die Fähre anlegte, kehrte sie gemächlich zum Auto zurück und stieg stillschweigend ein. Jens wartete schon auf sie, doch sie bedachte ihn einzig mit eisiger Nichtachtung.
Ihr Schweigen wurde durch ein Klopfen an der Seitenscheibe jäh unterbrochen. Ein ausgesprochen hübsches rothaariges Mädchen lächelte sie freundlich an. Anna ließ die Scheibe herunter.
»Hi, ich störe hoffentlich nicht.« Das Mädchen strahlte sie aus grünen Augen an und entblößte dabei perfekte weiße Zähne. »Mir ist euer deutsches Kennzeichen aufgefallen und da dachte ich mir, ich könnte euch mal was fragen.«
Anna stutzte. Sie hatte bereits weitaus mehr deutsche als niederländische Kennzeichen auf der Fähre entdeckt. Deswegen wunderte sie sich, dass dieses Mädchen ausgerechnet Jens und sie ansprach.
»Was möchtest du denn wissen?«, erkundigte sie sich dennoch höflich.
»Tja, ich hab mich spontan entschieden, diese Insel zu besuchen, und wollte fragen, ob ihr mir helfen könntet, einen günstigen Schlafplatz zu finden.«
Wieder wunderte sich Anna. Das Mädchen sah eher nicht wie eine Schnorrerin aus.
Sie überlegte kurz, ehe sie antwortete: »An Land brauchst du nur ein kleines Stückchen hochzugehen. Was weiß ich, einen halben Kilometer vielleicht. Da ist dann auf der rechten Seite ein VVV und da kannst du fragen«
»VVV? Brauch ich dazu nicht ein Intanetz? Gibt es das hier?« Sie klang verzweifelt und kaute auf der Unterlippe.
»Hä? Intanetz? Was meint die?«
»Ähm, VVV, das ist doch das Zeichen für, äh, Intanetz-Adressen, oder?«, fragte sie nach, und zwar mit einem ziemlich ratlosen Gesichtsausdruck, klatschte sich dann aber die Hand an die Stirn und rief: »Ach nein, stimmt ja gar nicht! VVV? Ähm, was ist das denn?«
»Ich werd nicht mehr! Die meinte ›www‹! Ha, ha! Die ist ja ganz schön verpeilt! Und die war mit Sicherheit noch nie in Holland!«
Offenbar versuchte Jens, ein Lachen zu unterdrücken, was ihm kläglich misslang. Anna fiel es ausgesprochen schwer, nicht auch in Gelächter auszubrechen, und biss sich stattdessen auf die Zunge.
»Nein, Internet brauchst du dafür nicht«, erwiderte sie trocken. »VVV ist so eine Art Touri-Info-Vermittlungsstelle.«
»Turi- was?« Der verständnislose Blick der Rothaarigen ließ Anna resigniert aufseufzen.
Sie schaute zu Jens, der zustimmend nickte, und wandte sich erneut an das Mädchen: »Okay, ich denke, du bist nicht mit dem Auto auf der Fähre, denn du hast dich ja spontan entschieden. Da wirst du jetzt in den Sommerferien wohl kaum einen Autoplatz ergattert haben.«
»Stimmt genau«, bestätigte sie Annas Vermutung.
»Also gut, steig ein. Wir fahren dich dorthin und helfen dir schnell.«
Nun strahlte das Mädchen oder doch eher die junge Frau. »Das ist richtig nett von euch. Ich heiße übrigens Vi… ähm … Viola.« Sie stieg ein und sagte vorerst kein Wort mehr.
Bei der VVV-Informatie konnte man Viola leider nicht helfen: Sommerferien. Alles ausgebucht.
Das war für Anna ein weiterer Grund, sich zu wundern, denn selbst in der Hochsaison war normalerweise für eine einzelne Person immer noch ein Plätzchen auf der Insel zu finden. Dementgegen war diesmal alles belegt.
Anna sah zu Jens. Offenbar dachte er das Gleiche wie sie. Schließlich hatten sie in ihrem Ferienhaus noch ein Zimmer übrig und diese Viola schien ganz nett zu sein. Aber das Beste daran wäre, dass sie dann nicht allein miteinander auskommen müssten.
»Na gut, wenn du möchtest, kannst du mit uns mitkommen«, bot Jens an. »Wir sind eine Woche hier und haben noch ein Zimmer frei.«
»Oh nein!«, entsetzte sich Viola. »Das kann ich doch nicht machen. Ich störe doch nicht euer junges Liebesglück. Das mache ich auf gar keinen Fall.«
Anna verzog angewidert ihr Gesicht, was Jens köstlich zu amüsieren schien.
»Keine Sorge«, erklärte er lachend, »wir sind Geschwister. Mit unserer Liebe und unserem Glück ist es nicht sonderlich weit her.«
»Warum fahrt ihr dann zusammen in Urlaub?«, wollte Viola nun wissen.
»Das«, gab Anna zurück, »ist eine sehr gute Frage und lässt sich nur schwer in kurzen Sätzen beantworten.«
»Okay, jetzt bin ich interessiert. Ich würde euer Angebot sehr gerne annehmen. Vorausgesetzt, ich kann mich angemessen an den Kosten beteiligen und ihr erzählt mir eure Geschwisterstory.«
Die nächsten dreizehn Kilometer gestalteten sich ausgesprochen kurzweilig, denn Viola erwies sich als eine spaßige Person. So unterhielten sie sich alle drei angeregt miteinander und lachten dabei fast während der gesamten Fahrt bis zum Haus.
Für Anna tat sich ein Silberstreif am Horizont auf. Sie hoffte inständig, dass die Woche mit Viola »im Gepäck« vielleicht doch ganz nett werden könnte.