Читать книгу Sonnenwarm und Regensanft - Band 1 - Agnes M. Holdborg - Страница 14

Quizstunde

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»Warte, Anna, du hast da noch ein paar Blätter im Haar.« Viktor zupfte ihr sorgfältig die Spuren von Moos, Birkenblättern und Wald von Haar und Kleidung. Dann musterte er sie lächelnd.

Amüsiert entdeckte sie den Glanz in seinen Augen und wusste, dass er genau diesen Glanz auch bei ihr sehen konnte. Allerdings hoffte sie inständig, niemand aus der Familie würde eben diesen verräterischen Schimmer bei ihr bemerken.

Sie standen am Waldrand und küssten sich noch einmal zum Abschied.

»Hast du morgen ein wenig mehr Zeit für mich?«, erkundigte er sich und sah sie herausfordernd an, wobei seine Hände immer noch fest an ihrer Taille lagen und sie die Arme um seinen Nacken geschlungen hielt.

Ihr Herz stockte und ihre Wangen glühten bei seinem Anblick – schon wieder!

»Tja, morgen ist Samstag. Mama kommt erst am Montag aus der Klinik. Papa und Jens werden den ganzen Nachmittag Bundesliga gucken. Die bestellen sich dann immer Pizza. Also brauch ich nicht zu kochen. Ich müsste nur morgens eben ein paar Besorgungen machen für übermorgen und kurz bei Mama vorbei und … Ach, was quassele ich denn da?« Anna grinste. »Aber ja, ich könnte mir schon ein kleines bisschen mehr Zeit für dich nehmen. Wieso?«

»Na ja, ich würde dir halt gern mein Zuhause zeigen. Ich könnte dir bei dieser Gelegenheit auch meine Schwester vorstellen. Die ist nämlich schon ganz wild darauf, dich kennenzulernen.« Er schaute verlegen. »Außerdem war ich bisher ganz schön unfair zu dir.«

»Unfair? Wie meinst du das?« Mit hochgezogenen Brauen blickte Anna erwartungsvoll zu ihm auf.

»Jaa, also, vielleicht hättest du mir ja gerne mal hier und da ein paar Fragen gestellt.« Trotz seines Lächelns räusperte er sich. »Wenn wir nicht gerade, hhm, beschäftigt waren.«

Während er mit dem Finger einer Hand leicht über ihre Unterlippe strich, glitt seine andere Hand einmal ihre Wirbelsäule hinauf und dann wieder hinunter, was Anna eine Schnappatmung bescherte.

Dann umfasste er wieder brav ihre Taille und sprach weiter: »Also, weißt du? Ich hab da manchmal ein bisschen geschummelt und dich emphatisch ein ganz klein wenig beeinflusst. Ich wollte keine Fragen beantworten. Die Zeit mit dir war mir einfach zu kostbar, um sie mit einem Quiz-Spiel zu vergeuden. Deswegen habe ich bei dir, nun ja, sozusagen Gehirnwäsche betrieben.«

»Ich bin gar nicht verrückt! Ha! Das erklärt so einiges!«

»Tut mir leid«, fügte er noch zerknirscht hinzu. »Bitte, nicht sauer sein.«

Anna kramte in ihrem Inneren nach so etwas wie Verärgerung. Schließlich hatte sie ja tatsächlich ab und zu an sich gezweifelt, weil sie ihn und sein »Halbelfentum« so fraglos, geradezu bedingungslos, akzeptiert hatte. Doch seine Begründung, die kostbare Zeit mit ihr nicht mit Fragen vergeuden zu wollen, legte sich zärtlich auf jedes ärgerliche Gefühl.

»Tztztz!« Sie schüttelte langsam den Kopf und machte ein gespielt empörtes Gesicht. »Tja, dann machen wir also morgen eine kleine Quizstunde. Und ich darf dir alle möglichen Fragen stellen?«

Er lachte erleichtert auf. »Alle Fragen, die dir einfallen. Obwohl das wohl ein taktischer Fehler von mir war, es dir schon heute zu erzählen. Jetzt hast du die ganze Nacht zum Überlegen. Deshalb habe ich eine Bedingung: kein Papier, keine Liste oder so etwas. Nur spontane Fragen aus deinem hübschen Köpfchen, ja?«

Anna tat so, als würde sie angestrengt überlegen und machte dazu ein möglichst dümmliches Gesicht.

»Dann wird ja wohl nicht viel draus werden, bei meinem winzigen Verstand, hihi.« Sie sprach normal weiter: »Das wird toll. Ich freu mich drauf. Ich bin um halb zwölf hier, ist das okay?«

»Perfekt. Nun geh schnell, sonst behalte ich dich nämlich einfach hier. Bis morgen. Ach ja, Tschö.«

Er strich über ihre Schultern und hauchte ihr noch einen letzten Kuss aufs Haar, drehte sich um und ging anmutig über den verschlungenen Weg zurück in den Wald.

»Ja, Tschö«, flüsterte sie und schaute ihm gedankenverloren nach.

***

Zu Hause angekommen machte sie die Wohnungstür hinter sich zu, lehnte sich noch einen Moment dagegen und dachte mit versonnenem Lächeln an die vergangenen Ereignisse. Bei dem Gedanken daran lief ihr augenblicklich ein wohliger Schauer über den Rücken, sodass sie genießerisch die Augen schloss.

»Anna? Alles in Ordnung?«, wurde sie überraschend von Jens aus ihren Träumen geholt.

»Ja, alles klar«, erwiderte sie hastig. »Ist Papa da?«

»Nein, er war nur ganz kurz hier. Hat ein paar Toasts verdrückt und ist dann sofort zu Mama ins Krankenhaus gefahren.« Seine Augen verengten sich. »Anna, du siehst so anders aus. Ernsthaft, ist alles okay?«

Das konnte sie jetzt nicht gebrauchen. Sie wollte an Viktor denken, weshalb sie ihren Bruder ungehalten anfuhr: »Alles in Ordnung, Jens! Lass mich einfach in Ruhe, ja?«

»Hey, so nicht! Ich sehe dir doch an, dass da was nicht stimmt!« Er räusperte sich und schaute in Richtung seiner Zimmertür. »Also, pass auf, jetzt habe ich sowieso keine Zeit, weil ich mich noch um Silvi kümmern muss. Aber ich will wissen, was da los ist. Morgen reden wir noch mal.«

»Pphh! Ich habe dir nix zum Sagen!«

»Tja, ich kann ja auch mit Mama darüber sprechen, was meinst du? Das wird sie brennend interessieren.«

Annas Augen weiteten sich. »Menno, Jens, du bist ein echt fieses Ar…! So miese Tricks hast auch nur du drauf!« Sie überlegte fieberhaft. »Also gut, hör zu. Du hast jetzt keine Zeit und ich morgen nicht. Lass uns am Sonntag drüber reden, okay? Versprochen. Aber nur unter einer Bedingung: Du sagst keinem was, hörst du, keinem. Nicht Mama, Papa, Lena und auch nicht Silvi.«

Sie drehte sich um, lief schnurstracks in ihr Zimmer und beachtete Jens nicht mehr, der ihr immer noch mit gerunzelter Stirn hinterherstarrte.

***

Silvi musste schon am frühen Morgen zu ihren Eltern, weil sie im Garten helfen sollte. Also saß Johannes allein mit seinen beiden Kindern am Frühstückstisch und bombardierte sie mit ungewohnt vielen Fragen, wovon sich die meisten einzig auf die Insel bezogen. Weil sowohl Anna als auch Jens klar war, wie sehr Johannes »seine oder unsere Insel«, wie er sie gerne nannte, liebte und wie schwer es ihm gefallen war, diesen Sommer nicht dorthin zu fahren, gaben sie geduldig Antwort. Bei der Erwähnung von Violas Namen murrte er und brummelte ein bisschen herum, sagte aber nichts weiter dazu.

»Schön, dass ihr Spaß hattet und auch das Wetter mitgespielt hat. Mama hat sich übrigens riesig darüber gefreut, dass ihr noch bei ihr vorbeigefahren seid. War ’ne prima Idee von euch.«

Seine Augen hatten sich leicht gerötet und glänzten verdächtig, so, als wäre er den Tränen nah. Augenblicklich sprang Anna zu ihm, schlang die Arme von hinten um seine Schultern und drückte ihre Wange an seine. Sie sagte nichts. Sie wusste, das brauchte sie nicht. Johannes erwiderte ihre Geste, indem er seine rechte Hand zärtlich auf ihren Unterarm legte. Nach ein paar Sekunden löste er sich von ihr und sah sie liebevoll an.

»Danke, Engelchen«, meinte er nur, stand auf und ging ins Wohnzimmer.

Sie sah ihrem Vater noch kurz nach und drehte sich dann wieder zu Jens.

Der hatte die Szene mit offenem Mund und verständnislosem Blick beobachtet, weshalb sie die Brauen zusammenzog.

»Was?«, fuhr sie ihn an.

»Jetzt sag mir doch mal, was eigentlich mit dir los ist? Du bist so anders als sonst. Früher wärst du bei so was laut schluchzend rausgelaufen und hättest selber Trost gebraucht. Du warst ja schon Vieles, Anna: ein Schreier, Heuler, Treter und Stampfer, aber niemals ein Tröster. Alles an dir scheint sich irgendwie verändert zu haben. Du bist wie verwandelt.« Er sah sie ratlos an. »Allmählich machst du mir echt Angst.«

»So’n Quatsch, Jens, also wirklich!«

Achselzuckend versuchte sie, seine prüfenden Blicke zu ignorieren, und begann damit, den Tisch abzuräumen. Jens stand auf, um ihr zu helfen.

»Musst du noch einkaufen?« Anna sah ihn verblüfft an. Mit dieser Frage hatte sie nicht gerechnet. Sie nickte.

»Wir könnten das doch zusammen machen und meinen Golf nehmen. Dann musst du nicht alles ans Fahrrad hängen. Und vorher könnten wir noch eben bei Mama vorbei. Was meinst du?«

Nur allzu gern nahm Anna das Angebot ihres Bruders an. Sie wunderte sich zwar über Jens’ ungewohnte Freundlichkeit, fand aber seinen Vorschlag viel zu verlockend, um ihn abzulehnen.

***

So kam es, dass sie bereits um Viertel nach elf auf der Lichtung an ihrer Birke saß.

Sie hatte sich geschminkt, nur ganz dezent. Das Make-Up hatte sie sich am Morgen beim Einkauf besorgt und dabei Jens’ Stirnrunzeln nicht übersehen.

Bei der Erinnerung daran lächelte sie heiter in sich hinein. Sie hatte in der Drogerie-Abteilung des Supermarktes nicht nur Kosmetik gekauft, sondern auch heimlich zu den Kondomen geschielt. Doch das ginge ihrer Meinung nach eindeutig zu weit. Jedenfalls in Gegenwart von Jens. Der Gedanke, wie ihr Bruder wohl geglotzt hätte, wenn sie ein Päckchen Kondome auf das Einkaufsband gelegt hätte, ließ sie kichern.

Ein Hauch Rosa legte sich auf ihre Wangen, als sie an Viktors zärtliche Berührungen dachte und wie die sie in Wallung gebracht hatten. Sie war nicht so naiv, ihre Beziehung lediglich als ein kleines unschuldiges Techtelmechtel anzusehen. Deshalb hatte sie sich schon vor dem Inselurlaub die Pille verschreiben lassen. Nur nahm sie die noch nicht lange genug, um sich ihrer Wirkung sicher zu sein, meinte sie.

Da sie sich ihrer Röte im Gesicht bewusst wurde, strich sie die begehrlichen Gefühle aus ihrem Sinn, lehnte den Kopf an die Birke und träumte vor sich hin.

Sie fühlte sich wohl in ihrer hellblauen Lieblingsbluse und der dunklen Röhrenjeans, die sie sich auf der Insel geleistet hatte. Die dünne weiße Strickjacke hatte sie sich um die Schultern gelegt und darüber ergoss sich ihr glänzend blondes Haar. Sie senkte die Lider. Ja, sie fühlte sich wohl! Mit diesem erhebenden Gefühl saß sie lächelnd da und wartete.

Als sie spürte, wie jemand auf die Lichtung trat, schaute sie nicht auf, sondern sprach stattdessen träge: »Wer stört mich da in meinen Träumen? Ich hoffe, es ist kein Wolf, denn ich habe mein Körbchen für die Großmutter vergessen.«

»Tja«, erwiderte eine Stimme, die ihr zwar vertraut war, aber eindeutig nicht zu Viktor gehörte. »Ohne Körbchen werde ich dich natürlich auch nicht fressen. Wer würde das schon?«

»Was? Wie? – Viola?«

Irgendjemand – war das etwa Viola? – gluckste fröhlich, als sie erschrocken aufsprang, hielt aber sofort inne, weil Anna sich heftig den Kopf an der Birke stieß.

»Au, verflixt! Was ist denn hier bloß los?« Sie rieb sich die schmerzende Stelle und blinzelte verdutzt, da ihre Vermutung sich bestätigte. »Mensch, Viola, bist du das? Was machst du denn hier? Ich warte auf … Ich versteh das nicht!«

Der Schreck war ihr gehörig in die Glieder gefahren. Außerdem war sie viel zu schnell aufgesprungen und der Kopf tat ihr vom Stoß weh. Sie fühlte regelrecht die Farbe aus sich heraussickern.

»Oh, Anna, tut mir leid.« Bevor Anna einknickte, hielten sie blitzschnell zwei schlanke Arme fest. »Das war meine Idee. Aber ich sehe jetzt ein, dass Viktor recht hatte. Das war echt keine gute Idee. Oh je, der wird ganz schön böse auf mich sein.«

Viola biss sich verlegen auf die Unterlippe und schaute Anna mit dunkelblauen Augen unter einem tiefbraunen Fransenpony an. Dann lächelte sie warm.

Anna kniff die Augen zusammen, als sie wahrnahm, dass Violas Haar nun eine andere Farbe hatte. Und auch die Augenfarbe war eine andere. Sie konnte nicht glauben, was sie da sah, denn in diesem Moment erkannte sie Viktors Augen und auch sein Lächeln – mitsamt den Grübchen. Langsam ging ihr ein Licht auf, auch wenn sie überhaupt nicht verstand, wohin sie dieses Licht denn nun eigentlich führte.

»Was meinst du, Anna?«, raunte Viola ihr verschwörerisch ins Ohr und unterbrach damit Annas angestrengte Überlegungen. »Könntest du ein wenig flunkern, was unsere Begegnung hier betrifft? Ich wollte dich doch nicht erschrecken.« Flehend fügte sie hinzu: »Viktor bringt mich um, wenn er erfährt, wie durcheinander ich dich gebracht habe. Bitte, bitte, Anna!«

»Moment mal!« So richtig konnte Anna immer noch nicht begreifen, was hier gespielt wurde. »Du kennst Viktor? Und wo sind deine grünen Augen und roten Haare? Du hast mich verarscht, Viola!«

»Also, das ist kein schönes Wort, findest du nicht auch? Außerdem heiße ich Viktoria und habe nur mein Aussehen etwas ›entviktorisiert‹, damit du mir nicht auf die Schliche kommst. Das war alles nur zu deinem Schutz gedacht, Anna, und nicht böse gemeint. Bitte, ich …«

»Schutz? Schutz!«, fuhr Anna aufgebracht dazwischen, presste sich eine Hand an die Stirn und stemmte die andere in die Hüfte.

Nach einer kurzen Verschnaufpause sprach sie weiter: »Okay. Ja klar. Du bist also Viktors Schwester, ja? Du bist Viktoria. Und du wolltest mich beschützen. Ähm, wovor denn, wenn ich fragen darf? Vor den Monsterwellen, den Holländern und den Frikandeln? Echt, Viola … Viktoria … Wer auch immer … Das ist doch Stuss!«

»Hey, jetzt werd doch nicht gleich so sauer. Viktor hat gesagt, dass du heute drei Fragen frei hast.« Viktoria grinste verschmitzt. »Das wäre doch schon mal eine. Komm, ich bring dich zu ihm. Oder hast du es dir jetzt anders überlegt?«

»Nein, auf gar keinen Fall. Bist du verrückt?«

Anna atmete noch einmal kräftig durch, warf Viktoria einen gekonnt bitterbösen Blick zu, deutete ihr dann aber, dass sie mitkommen würde.

Die nickte erleichtert und gab an, dass es nicht weit wäre.

Sie gingen in die Richtung, in welche Anna damals mit Viktor zu der Elfenlichtung spaziert war. Viktoria murmelte etwas Unverständliches und plötzlich wurde wieder alles fremd und geheimnisvoll. Kurz darauf hörte Anna, wie Viktoria ein weiteres Mal in dieser eigenartigen Sprache flüsterte.

Anna folgte ihr durch ein paar dichte Büsche hindurch und spürte mit einem Mal anstatt des weichen Waldbodens knirschenden Kies unter ihren Füßen. Dieser Kiesweg führte sie zu einem Haus, das beinahe wie aus dem Nichts vor ihren Augen auftauchte. Gerade eben war sie noch im dichten Wald gewesen und jetzt bot sich ihr dieser Anblick:

Rechts und links vom Weg blühten in einem liebevoll angelegten Vorgarten farbenfrohe Sommerblumen. Doch Annas Augenmerk wurde wie magisch auf das zweigeschossige rote Backsteinhaus gelenkt. Die zahlreichen, teils sehr großen Sprossenfenster ließen dieses Haus modern erscheinen, während das Reetdach, in das sich etwas Moos gesetzt hatte, ihm etwas Altehrwürdiges verlieh. Anna musste unwillkürlich an ihre Insel und die dortigen Häuser denken, wobei allerdings dieses Gebäude sicherlich nicht so alt und dafür erheblich größer war.

Als sie an einem wuchtigen Haselnussstrauch vorbeilugte, entdeckte sie zur rechten Seite noch andere, weitaus weniger hübsche Häuser, getrennt durch weitläufige Grundstücke, und eine ruhige Straße, an deren Seiten vereinzelt ein paar Autos parkten. Das Reetdachhaus befand sich demnach in einem normalen Wohngebiet, und zwar am Ende einer Sackgasse.

Viktoria führte Anna hinein und rief dann mit heller Stimme nach ihrem Bruder.

Währenddessen schaute Anna sich mit großen Augen um und spähte neugierig durch die geöffneten Türen des Eingangsbereiches in die anliegenden Zimmer. Sie wirkten allesamt geräumig und irgendwie unbeschwert. An den Wänden hingen Bilder in warmen Farben. Unzählige Bücher reihten sich in breiten hohen Regalen. Im Wohnraum luden die beiden riesigen weißen Ledersofas samt zwei passenden Sesseln, auf denen Berge von bunten Kissen verteilt lagen, zum Verweilen ein. Zahlreiche Topfpflanzen und auch Vasen voller duftender Blumen standen auf schimmernd polierten Tischen, Fensterbänken und dunklen Holzdielen. Annas, nein, eigentlich Jens’ Lieblingsmusik tröpfelte an ihr Ohr.

Sie fand es hier einfach großartig!

Nicht einmal Viktors Hand, die sich von hinten sanft auf ihre Schulter legte, konnte sie sofort von ihrer Begeisterung ablenken. Erst seine Frage brachte sie zurück:

»Hat meine Schwester sich gut benommen? Ich wollte dich eigentlich abholen, aber sie kann sehr überzeugend sein.« Sein Lächeln erstarb, als er Anna zu sich umdrehte und in ihr wohl immer noch blasses Gesicht blickte. »Viktoria, was hast du gemacht?«

»Nichts«, antwortete Anna hastig an Viktorias Stelle und warf ihr einen flüchtigen Blick zu. »Alles okay, echt. Es ist nur so – überwältigend hier.«

Sichtlich erleichtert sah er Anna in die Augen, nahm ihre Hände und küsste jeden Finger einzeln.

»Willkommen, Anna«, begrüßte er sie in feierlichem Ton. »Schön, dass du hier bist. Komm mit, ich zeig dir das Haus.«

An seine Schwester gerichtet sprach reichlich kühler: »Danke, Viktoria, dass du sie hergebracht hast. Anna hat zwar nichts gesagt, aber ich sehe, dass ich recht hatte. Es war tatsächlich keine gute Idee. Wie wär’s, wenn du uns jetzt für ein Weilchen mit deinen Ideen verschonst? Wir können ja nachher gemeinsam zu Mittag essen.«

Bisher war Anna nur ein einziges Mal solch ein böse funkelndes Augenspiel bei Viktor aufgefallen. Als sie ihm von der bevorstehenden Nordseereise mit Jens berichtet hatte, war sie davon fasziniert gewesen – genau wie jetzt.

»Soll heißen: Verschwinde!«, gab Viktoria knapp zurück. »Bin schon weg.«

Wie ein geölter Blitz huschte Viktoria davon und Anna hörte nur noch das leise Klappen einer Zimmertür.

»Sie hat dich verschreckt, nicht wahr? Ich wusste es. Tut mir leid, Anna, das war dumm von mir.«

»Hör bitte auf, dich zu entschuldigen. Mir geht es gut, wirklich. Besonders bei der Aussicht, dass du mir gleich ein paar Fragen beantworten wirst«, beruhigte Anna ihn. »Können wir anfangen?«

»Ja, das können wir. Aber du hast doch nichts dagegen, wenn ich dir zuerst mein Zimmer zeige, oder? Dann könnten wir zusammen etwas essen. Ich hab nämlich gekocht und dann …«

»Moment mal, warte«, unterbrach sie ihn. »Das hört sich doch eher nach einem Ausweichmanöver an. Du hast es versprochen, Viktor. Wir können das doch alles machen, während ich halt frage und du antwortest.«

Lächelnd zog er sie zu sich heran. »Ja, das stimmt. Ich habe es versprochen.«

Er küsste sie ganz sanft und zärtlich.

»Oh nein, so wird das nichts.« Seufzend presste sie ihm ihre flache Hand gegen die Brust. »Wir machen das am besten ohne Körperkontakt. Sonst wird das keine Fragestunde, sondern artet eher in eine Schweigestunde mit Kuschelfaktor aus.«

Er hob ergeben seine Hände. »Dein Wunsch sei mir Befehl.«

Dann führte er sie die Treppe hinauf zu seinem Zimmer. Als sie eintraten, gab er, wie versprochen, ihre Hände frei.

Sie ließ ihren Blick schweifen. Der rechteckige Raum erschien Anna riesig, jedenfalls für ihre Verhältnisse. Er besaß an der gegenüberliegenden längeren Wand zwei große Fenster, an denen die schlichten weißen Gardinen und schweren dunklen Vorhänge zur Seite gezogen waren, sodass die strahlende Sonne das Zimmer mit warmem Licht anfüllte.

Die allesamt schwarzen Möbel bildeten einen reizvollen Kontrast zum hellen Holzboden. Vor den Fenstern waren zwei rote Ledersessel rechts und links neben einem flachen Retro-Rauchglastisch platziert. Zur Linken standen ein breites, mit karmesinroten Laken bezogenes Bett, daneben ein Schreibtisch mit Laptop und ein großer Schrank. Die rechte Wand bestand schlichtweg aus Regalen, in denen neben einem überdimensionalen Flachbildfernseher weiteres technisches Spielzeug und die dazugehörigen CDs, DVDs, Blue-Rays, PC-Spiele und Sonstiges unterbracht waren.

»Wow, das nenn ich mal ein Zimmer. Ich teile mir meins mit meiner Schwester. Aber das würde glatt dreimal hier reinpassen. Es ist so groß und schön. Sehr schön. Seit wann wohnt ihr denn hier?«

»Oh, die erste Frage? Erst seit ein paar Monaten. Wir sind im Januar achtzehn geworden und haben uns dann dieses Haus gekauft, weil es erstens wunderschön ist und zweitens strategisch günstig liegt.«

»Strategisch günstig? Was bedeutet das? Und woher habt ihr so viel Geld?«

»Es liegt am Eingang, also am Eingang zur Elfenwelt. Das ist ein bisschen schwierig zu beschreiben. Ein klein wenig hast du das ja schon mitbekommen, als ich dich mit zur Elfenlichtung genommen habe oder auch heute mit Viktoria. Es wird am einfachsten sein, wenn ich dir das später einmal genauer zeige. Dann ist es leichter zu verstehen, glaub mir«, erklärte Viktor. »Tja, und das Geld, das haben wir geerbt.«

Er machte eine kurze Pause. »Unsere menschliche Mutter war sehr wohlhabend. Aber auch Vitus ist reich, ein König halt. Er und unser Onkel waren immer äußerst großzügig.«

Weil Anna ihn fragend anschaute, fügte er noch hinzu: »Gold und Edelsteine haben in jeder Welt den gleich hohen Wert, Anna.«

Das beantwortete ihre Frage nach elfischer Währung und Devisen.

»Aber, wie geht denn das? Wie könnt ihr einfach so in unserer menschlichen Welt leben? Fällt das denn nicht auf? Das hier ist Deutschland. Ihr braucht also so was wie Geburtsurkunde, Perso, Schulzeugnisse und was weiß ich noch. Hier ist doch alles mit bürokratischen Vorschriften zugepflastert. Ihr würdet bestimmt irgendwann auffallen.«

Viktor schmunzelte. »Wir sind ja halbe Menschen, Anna. Deshalb haben wir eine Geburtsurkunde: Mutter – Veronika Müller; Vater – unbekannt. Wenn man so eine Urkunde besitzt, ist der Rest zwar lästig, aber dennoch relativ einfach. Unser menschlicher Urgroßvater hatte diese ganzen Dinge bereits vor seinem Tod für uns geregelt. Offiziell sind wir nach unserer Geburt in Canada aufgewachsen und unseren Schulabschluss haben wir dann in den USA gemacht. Tja, wir sind echte High-School-Absolventen.«

Viktor lächelte. »Aber dieser ganze Papierkram für den Hauskauf war furchtbar anstrengend. Ich weiß nicht, ob wir das ohne Isinis’ Hilfe hinbekommen hätten. Das mit dem Grundbuch, Notar und dem anderen Zeug hat uns alle überfordert. Aber schließlich hatten wir’s.«

»Warte.« Sie zog nachdenklich die Stirn kraus. Dann schossen ihre Brauen regelrecht in die Höhe. »Müller?«, hakte sie amüsiert nach. »Sagtest du Müller? Das ist nicht dein Ernst, oder? Du bist ein halbes Fabelwesen und heißt …?« Sie sah Viktors Blick, brach ab und vermied ein Kichern.

»Das war nun mal der Name unserer Mutter, Anna. Wir hätten ihn spielend leicht ändern können. Aber ich finde, es ist ein guter Name, er …«

»Oh, entschuldige. Ich wollte dir nicht zu nahe treten. Natürlich ist das ein guter Name. Es ist ja nur … Na ja, das kommt schließlich nicht alle Tage vor, dass man einem Halbelfen begegnet und dann rechnet man halt nicht mit solch einem, sorry, banalen Allerweltsnamen.« Nun musste sie doch kichern.

Viktor schaute bitterernst drein und Anna bekam ein schlechtes Gewissen, weil sie befürchtete, ihn gekränkt zu haben. Sie überlegte noch, wie sie ihren Fauxpas wiedergutmachen könnte, als er unvermittelt nach ihr griff, sie auf sein Bett schleuderte und sich auf sie warf.

»Umpf!«

»Wir machen uns also lustig, ja?«, rief er fröhlich aus. »Na warte, Miss Nell, jetzt wirst du Mister Müller kennenlernen!«

Er hielt ihre kleinen Hände mit seiner Rechten über ihrem Kopf fest und kitzelte sie mit der Linken gnadenlos aus. Anna hatte keine Chance zur Gegenwehr. Sie zappelte und wand sich unter ihm, lachte und schrie gleichzeitig verzweifelt nach Hilfe.

»Vergiss es!«, feixte er. »Es ist zu spät! Du hast es dir mit einem gefährlichen Elfenprinzen verscherzt! Nun bist du meine Gefangene und ich gebe dich nie mehr wieder frei!«

Weil Anna fast die Luft wegblieb, atmete sie nur noch ganz flach, bis sie die Augen verdrehte und sich auf einmal gar nicht mehr regte.

»Anna?«, hörte sie ihn beunruhigt ausrufen. »Alles in Ordnung? Verflucht, Anna!« Er schüttelte sie, scheinbar besorgt, und hielt dann kurz inne.

Diesen unbedachten Augenblick machte sie sich sofort zunutze, bäumte sich auf, warf ihn dabei um, sodass er jetzt unter ihr lag. Blitzschnell klemmte sie seine Hüften zwischen ihre Knie. Beide Hände auf seinen Armen beugte sie sich dicht über sein Gesicht.

»Tja, Mister Müller-Prinz, du machst vielleicht Gefangene, aber bei mir gibt’s so was erst gar nicht! Du bist verraten, verloren und verkauft! Sprich dein letztes Gebet!«

»Ich flehe um Gnade, meine Herrin. Ich lege meinen edlen Namen ab und bin für immer dein. Hab Erbarmen, bitte ich …«

Weiter kam er nicht, denn Anna konnte nicht widerstehen und legte ihre Lippen auf seine. Und dann kehrte die Leidenschaft mit einer gewaltigen Flutwelle zurück.

Es war, als würde es sie zerreißen. Sie wütete mit ihrer Zunge, mit ihren Händen und er wütete zurück. Schonungslos!

Anna überlegte verzweifelt, ob er vielleicht Kondome dahätte, denn sie befürchtete, sich diesmal nicht zurückhalten zu können.

Sie fingerte an den Knöpfen seines Hemdes herum und er tastete unter ihre Bluse, als …

»Essen ist fertig, ihr beiden. Kommt ihr runter? Macht schnell, sonst wird alles kalt.«

Die Stimme klang für Anna weit weg, wie durch einen dicken Wattenebel. Atemlos, als wäre sie gerade aus Wasser hervorgetaucht, sah sie Viktor an und gluckste mit einem Mal fröhlich, weil sein Haar völlig verwuschelt, seine Lippen geschwollen waren und seine Wangen glühten.

Er aber lachte laut bei ihrem Anblick. »Wow, ich glaube, wir müssen dich ein bisschen herrichten«, meinte er und half ihr auf die wackeligen Beine.

Vor dem großen Spiegel am Schrank fielen sie gemeinsam in weiteres Gelächter ein, gaben sie doch beide ein recht zerzaustes Bild ab.

»Okay.« Er reichte ihr eine Haarbürste. »Wir sollten uns wohl auf alle Fälle etwas zurechtmachen.«

Er griff nach einem Kamm und versuchte damit, seine wilde »Unfrisur« zu ordnen, während sich Anna hastig mit der Bürste durchs Haar strich.

Dann nahm sie ihre Brille ab und untersuchte sie. Verwundert darüber, was die so alles aushielt, putzte Anna sie mit einem Zipfel ihrer Bluse. Ihr Ansinnen, das ziemlich verschmierte Make-Up zu richten, zeigte allerdings nur mäßigen Erfolg. Resigniert ließ sie es bleiben und ging mit Viktor hinaus.

Anna gab sich die größte Mühe, möglichst würdevoll auszusehen, als sie am Esstisch Platz nahm. Aber aus dem Augenwinkel heraus nahm sie deutlich wahr, wie Viktoria sich hinter ihrem Rücken halb totlachte.

Dann trugen die Geschwister das köstlich duftende Essen auf: Lammkeule mit grünen Bohnen und gebackenen Rosmarinkartoffeln.

Nachdem sie mit großem Appetit gegessen und den Tisch abgeräumt hatten, setzten sie sich mit ihren Kaffeetassen ins Wohnzimmer.

Anna stellte unzählige Fragen. Sowohl Viktor als auch Viktoria bemühten sich redlich, alle ausführlich zu beantworten. Sie erzählten von ihrem Onkel, ihrer Tante, den Cousins und der Cousine, aber auch von ihren Eltern, Vitus und Veronika.

Besonders die elfischen Gaben, wie zum Beispiel Viktors Sonne und das Beeinflussen von Gefühlen, interessierten Anna sehr. Doch so richtig verstand sie das Ganze immer noch nicht.

»Das fließt aus euch raus?«, wollte sie wissen. »Das muss ja toll sein. Könnt ihr das kontrollieren? Was könnt ihr sonst noch?«

»Dass die Kontrolle nicht immer so klappt, hast du doch im Wald schon mehrmals selbst erlebt, Anna.« Viktor wurde ein bisschen rot. Weil Viktoria dabei war, nahm Anna an.

»Oh, ja, ähm, ich verstehe.« Sie kratzte sich verlegen am Kopf.

Viktoria lachte kurz, fuhr dann aber ungerührt mit den Erklärungen fort: »Unsere übersinnlichen Fähigkeiten sind verschwindend gering gegen die unserer Verwandten und besonders gegen die unseres Vaters. Vitus ist wirklich ausgesprochen mächtig. Er kann ausgezeichnet fühlen, gestochen scharf. Vielleicht kann man das mit einem Adler vergleichen, der hoch oben in der Luft immer noch eine klitzekleine Maus auf dem Feld ausmachen kann.«

»Und er fühlt alles gleichzeitig, über große Entfernungen hinweg«, setzte Viktor fort. »Er fügt die Emotionen vieler verschiedener Kreaturen, egal ob von Menschen, Elfen oder sogar Tieren, in enormer Geschwindigkeit zu einem Gesamtbild zusammen, wie tausende kleine Puzzlesteinchen. Das macht es schwer, etwas vor ihm zu verbergen. Außerdem ist er ein perfekter Gedankenleser.«

Anna starrte nachdenklich vor sich hin. Es wurde ihr etwas unbehaglich zumute, denn sie hegte ja schon länger den Verdacht, dass Viktor mitbekam, was in ihrem Kopf vor sich ging. Aber im Moment brannte ihr etwas anderes auf der Seele:

»Eure Mutter war ein Mensch«, begann sie vorsichtig. »Vitus hat sie geliebt. Wie ist das denn jetzt? Mag er Menschen noch?«

Viktoria schwieg und Viktor zögerte, so, als überlegte er sich sorgfältig, was er sagen sollte. »Das wissen wir nicht so richtig. Wir sind ja schließlich halbe Menschen. Er scheint uns trotzdem zu lieben.«

Obwohl Viktoria leise schnaubte, fuhr er unbeirrt fort: »Er zeigt das zwar nie und hat uns auch nur selten besucht. Estra aber ist sich da ganz sicher. Dennoch hat Vitus ihm und Isinis verboten, dass wir vor unserem achtzehnten Lebensjahr mit Menschen in Kontakt kommen. Wir wissen nicht, warum er das unbedingt wollte. Wir befürchten allerdings, dass ihn seine Verbitterung eventuell zum Menschenhasser gemacht haben könnte.«

Anna sah Viktor in die Augen und schlagartig fiel der Groschen.

»Euer Vater, der ist zurzeit an der See, stimmt’s? An der Nordsee oder irgendwo dort in der Nähe. Hhm, ja, das passt.«

Nun richtete sie sich an Viktoria. »Und du hast auf mich aufgepasst. Du hast meine Gefühle sozusagen im Zaum gehalten. Deshalb habe ich so verdammt wenig von Viktor geträumt.«

Den letzten Satz hatte sie mehr zu sich selbst gesprochen und erhaschte daraufhin einen freudigen Blick von Viktor.

»Außerdem habe ich mich gut, jedenfalls relativ gut mit meinem Bruder verstanden«, überlegte sie. »Ihr wolltet mich quasi aus der Schusslinie nehmen, sehe ich das richtig?« Das war mehr eine Feststellung.

Sie schaute erneut zu Viktor. »Wieso konntest du nicht mitkommen?« Spontan beantwortete sie die Frage selbst: »Oh, hhm, ich verstehe: zu viele Emotionen.«

Jetzt war es an ihr, sich zu freuen.

Doch dann drehte sie den Kopf zu Viktors Schwester. »Nun, Viola, meine grünäugige Rothaar-Schlange, hast du noch etwas zu deiner Verteidigung vorzubringen?«

Sonnenwarm und Regensanft - Band 1

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