Читать книгу Sonnenwarm und Regensanft - Band 1 - Agnes M. Holdborg - Страница 8
Himmel und Hölle
Оглавление»Setz dich, Anna«, befahl Johannes.
Es war noch früher Nachmittag und sie wunderte sich darüber, dass ihr Vater seine Arbeit in der Schreinerei so zeitig abgebrochen hatte. Anna wusste, dass er das höchst selten und noch dazu sehr ungern tat. Anscheinend war es ihm wichtig, mit seinen Kindern zu sprechen.
Auch Jens und Lena hatten offenbar früher Feierabend gemacht. Sie saßen bereits auf dem Sofa im Wohnzimmer und warteten mit ungeduldiger Miene darauf, dass Anna sich dazusetzte.
Johannes dagegen war augenscheinlich viel zu unruhig. Er lief zunächst vor seinen Kindern hin und her. Dann blieb er endlich stehen, nahm im Sessel gegenüber Platz und sah sie ernst an.
»Okay, hört zu. Also, ihr wisst, dass es Mama nicht gut geht«, begann er, nachdem er einmal tief Luft geholt hatte.
»Ja«, erwiderte Lena, »deswegen hat sie sich hingelegt. Ich bringe ihr gleich noch eine Tasse Tee und dann …«
»Lena«, unterbrach Johannes seine Tochter gereizt, »das ist lieb von dir. Aber es geht leider nicht nur um heute, um jetzt. Es geht um mehr.« Er rieb sich das Kinn. »Nun, Mama ist ernsthaft krank. Deshalb muss sie für ein paar Tage ins Krankenhaus.«
»Was? Krankenhaus!« – »Wieso? Was hat sie?« – »Wann?«
Alle drei fragten wild durcheinander.
Aufgrund der Aufregung seiner Kinder sprach Johannes in beruhigendem Ton weiter: »Eigentlich ist es keine große Sache – wirklich. Aber Mama ist in den letzten Tagen so schwach geworden, dass die Ärzte das lieber im Krankenhaus beobachten möchten. Sie hat, hhm, das ist so eine – na ja, so eine Frauengeschichte.«
Anna und auch ihre Geschwister bemerkten, dass es ihm sichtlich unangenehm war, über die Krankheit der Mutter zu reden, und schwiegen daher. Dennoch, unter Annas Sorge mischte sich Unmut, weil sie wieder nicht erfahren würde, was nun genau mit ihrer Mutter los war.
»Also, eigentlich wollten wir ja am Freitag auf die Insel fahren. Alles ist gebucht. – Ja, Lena, ich weiß«, warf er ein, als sie den Mund öffnete. »Du fliegst mit Steffi nach Mallorca. Das ist auch in Ordnung, mein Schatz. Mach dir bitte keinen Kopf, hörst du? Und ich möchte, dass auch ihr beiden …«, er nahm zuerst Jens ins Visier, dann Anna, »… wegfahrt. Auf unsere Insel. Wie gesagt, alles ist gebucht: die Fähre, das Haus. Tja, und ohne Reiserücktrittsversicherung. Wäre doch schade. Bitte macht euch eine schöne Woche. Mama möchte das auch. Ihr sollt euch keine Sorgen machen und eure Ferien genießen. Für ein paar Tage komme ich durchaus allein zurecht.«
Anna hatte ihre Augen ab einem gewissen Abschnitt der Ansprache ihres Vaters weit aufgerissen.
»Papa, nein! Ich soll … Ich soll mit dem … Alleine?«
»Pah!«, schaltete sich Jens, offenbar stinksauer, ein. »Was soll ich denn sagen? Wenn Silvi wenigstens Urlaub bekäme und mitkommen könnte. Aber ihr blöder Chef lässt sie ja nicht weg.« Er sah seinen Vater an. »Papa, echt, das ist echt keine gute Idee, mich mit der Transuse in Urlaub zu schicken.«
Anna wurde furchtbar wütend. Sie setzte gerade zu einer üblen Schimpftirade an, als Johannes aufsprang.
»Ruhe!«, brüllte er und fuhr sich fahrig mit der Hand durchs Haar. »Sagt mal, spinnt ihr? Merkt ihr denn nicht, dass mir im Moment ganz andere Dinge durch den Kopf gehen?« Er atmete einmal kräftig durch, bevor er weiterhin ungehalten sprach: »Ich möchte, dass ihr ein paar unbeschwerte Tage habt, während Mama im Krankenhaus ist, verflucht noch mal!«
Nach diesem Wutausbruch nahm er wieder Platz und fuhr mit nun väterlich sanfter Stimme fort: »Ich, nein, Mama und ich, wir würden uns besser fühlen, wenn wir euch in dieser Zeit ein wenig mit etwas anderem beschäftigt sehen könnten.«
Er zögerte, blickte allen nacheinander in die Augen und setzte liebevoll hinzu: »Sie wird wieder gesund, ganz bestimmt. Aber sie macht sich so viel Sorgen um euch. Deswegen täte es ihr ganz sicher gut, wenn sie wüsste, dass ihr ein bisschen Spaß und Ablenkung habt.«
»Spaß? Spaß mit Jens? Ha, ha!«
»Ach, Papa, ich weiß nicht«, meinte Jens matt.
Offensichtlich war sein Kampfgeist bereits verebbt, registrierte Anna zornig, wusste sie doch, dass ihr Bruder normalerweise nicht so schnell aufgab. Deshalb wurde ihr jetzt bitter bewusst, dass ihr Vater gewonnen hatte und sie sich ihrem Schicksal ergeben musste.
Die Aussicht, eine Woche allein mit Jens verbringen zu müssen – morgens, mittags, abends! – versetzte sie in Panik. Eine komplette Jens-Woche wäre ihrer Meinung nach die Hölle!
Ohne ein weiteres Wort stand sie mit Wuttränen in den Augen auf und trottete gesenkten Hauptes hinaus in Richtung Badezimmer. Sie musste etwas tun. Frustriert und tief versunken in üblen, finsteren Mordgedanken stopfte sie Wäsche in die Waschmaschine und stellte diese ohne Waschmittel an. Als die Maschine Wasser zog, tauchte sie erschrocken aus ihrem Gefühlssumpf auf.
Die Luft wurde ihr knapp. Sie gewann zusehends den Eindruck, verrückt zu werden, wenn sie nicht noch irgendetwas anderes täte. Noch dazu übermannte sie die Sehnsucht.
… An jedem einzelnen Tag der letzten Woche hatte Anna sich mit Viktor auf ihrer Lichtung getroffen. Manchmal nur ganz kurz, nur für eine halbe Stunde. Es tat so gut, ihn zu sehen, mit ihm zu reden oder ihm auch nur zuzuhören. Sein »halbes Problem« war bislang nicht mehr zur Sprache gebracht worden. Sie wollte Viktor nicht bedrängen, obwohl sich natürlich zahllose Fragen in ihrem Kopf auftürmten.
Die Krankheit der Mutter bedrückte, ja, ängstigte sie sehr. Auch ihr gestriger Anruf beim Arzt hatte nichts gebracht. Man hatte ihr einfach keine Auskunft über Theresas Zustand geben wollen.
Trotz alledem war diese letzte Woche die glücklichste gewesen, die sie jemals erlebt hatte. So unwirklich und doch real, so aufregend und schön zugleich. …
Sie musste zu ihm! Jetzt sofort! Hastig nahm sie ihre leichte Strickjacke vom Garderobenhaken, lief schnell zur Tür und rief: »Bin noch mal eben weg! Komm gleich wieder! Tschö!«
Mit klopfendem Herzen rannte sie über die Straße zum nahegelegenen Wald. Heute interessierte sie nicht, ob man sie rennen sah oder sich über ihr Verhalten das Maul zerriss. Sollten sie doch! Es war ihr egal, wenn man sie für einen Psycho hielt. Sie hatte nur einen Gedanken, ein Ziel. Sie sprang über den Graben und lief eilig den schmalen Weg entlang zur Lichtung.
»Viktor!«, rief sie atemlos. »Viktor, bist du da? Bitte, komm her, falls du mich hören kannst!«
Es dauerte nicht lange, da registrierte Anna erleichtert, wie es, trotz des trüben Himmels, hell und warm um sie herum und auch in ihr wurde.
»Anna, was ist denn los? Meine Güte, du bist ja leichenblass.«
Scheinbar aus einem Impuls heraus nahm er sie zärtlich in den Arm. Das hatte er noch nie getan, stellte Anna glücklich fest, bevor dann allerdings eine gewaltige, geradezu überschäumend wohlige Welle ihr Herz so schnell und heftig überflutete, dass sie schlichtweg umgefallen wäre, hätte er sie nicht festgehalten. Dann wurde ihr schwarz vor Augen.
Als sie wieder zu sich kam, lag sie im weichen Moos, ihr Kopf in Viktors Händen. Seine sorgenvollen Augen hielten ihren Blick gefangen.
»Hey, da bist du ja wieder. Du hast mir einen riesigen Schrecken eingejagt.« Er zog sie etwas hoch. »Komm her, Liebes. Halt, nicht so hastig.« Viktor hielt sie auf, als sie sich übereilt aufzurichten versuchte. »Vorsichtig. Ja, so.«
Er setzte sich und nahm sie, nun mit Bedacht, wieder in den Arm. Wie selbstverständlich lehnte Anna den Kopf an seine Brust, sog seinen Duft nach Gras und Wald tief ein. Sie würde ihn niemals wieder vergessen.
»Hhm! Hat er mich eben Liebes genannt?«
»So, jetzt leg mal los. Was ist passiert, Anna?«
»Weißt du, eigentlich ist das Schlimmste daran, dass es Mama so schlecht geht, dass sie ins Krankenhaus muss«, begann sie.
»Oh, das tut mir sehr leid. Das ist …«
»Ja, aber … Ach, Viktor, ich bin ein solches Scheusal«, stieß sie verzweifelt aus. »Das ist doch wirklich schlimm, oder? Aber ich, ich bin so ein Egoist und denke nur an mich. Es ist nur so, ich bin nun mal total sauer, weißt du? Ich soll am Freitag für eine Woche an die Nordsee fahren. Mit Jens! Stell dir das mal vor! Nur Jens und ich, für eine ganze Woche! Das ist die Hölle, die absolute Ober-Hölle!«
So viel hatte sie gegenüber Viktor bislang selten an einem Stück gesprochen. Selbst am Tag von Viktors »Elfengeständnis« war sie nicht so aufgewühlt gewesen wie jetzt. Anna war sich deswegen sicher, dass Viktor bemerken müsste, wie erschüttert sie war. Doch er schien das gar nicht zu registrieren und schwieg.
»Hast du mir zugehört?«
»Hhm? Was?«
Er wirkte auf Anna nicht nur abwesend, er war außerdem ziemlich blass geworden.
»Viktor, was ist los?«
»Nichts, gar nichts.« Er räusperte sich kurz. »Ich finde es nur schade, dass ich dich dann eine ganze Woche nicht zu sehen bekomme. Das ist alles.«
»Das ist mehr als schade. Ich weiß gar nicht, wie ich das aushalten soll. Oh Mann, und dann auch noch mit meinem blöden Bruder.«
Viktor räusperte sich noch einmal. Auch wenn er sich in ihren Augen noch so viel Mühe gab, erschien er Anna weiterhin blass und irgendwie abwesend, als er sprach: »Also, dein Bruder scheint ja nicht gerade ein Lämmchen zu sein, aber er ist immerhin dein Bruder. Vielleicht wird es ja doch ganz nett. Meinst du nicht, dass …«
»Ganz nett?«, fiel sie ihm ins Wort. »Sag mal, geht’s noch? Hast du mir nicht zugehört? Jens und ich, für längere Zeit allein in einem Raum! Oh mein Gott, Jens und ich, für Stunden allein in einem Auto! Das überlebe ich nicht!«
»Ach was, Anna, das wird schon«, erwiderte er leichthin.
»Sag mal«, fragte sie ihn düster, »willst du mich loswerden?«
Nun verlor Viktor auch den Rest an Farbe. Außerdem erschien seine Stirnfalte, aber keine kleine! Das war jetzt eine tiefe, senkrechte Furche. Die dunklen geraden Brauen zu einer vereinten Linie zusammengezogen funkelte er sie zornig an.
»Loswerden?«, brüllte er. »Du sollst doch wegfahren! Ich will das ganz sicher nicht, Anna! Aber du sollst nicht unglücklich sein, hörst du? Ich will das nicht! Also fahre gefälligst mit deinem Bruder an die blöde Nordsee und mach dir dort ein paar schöne Tage! Ich warte hier auf dich, auch wenn ich im Moment ganz schön wütend auf dich bin!« Viktor schüttelte den Kopf. »Loswerden, te! So was aber auch!«
Sein Wutausbruch hatte Anna merkwürdigerweise beeindruckt. Sie wunderte sich darüber, dass ihr dieser aufbrausende Wesenszug an ihm gefiel.
»Ich dachte halt, du könntest vielleicht auch dorthin kommen. Ich weiß nicht, hast du ein Auto oder kannst du dich beamen, oder so?« Während ihrer kleinlauten Frage sah sie ihn hoffungsvoll an.
Mit einem Mal hellte sich Viktors Miene deutlich auf, als wäre all sein Zorn von ihm abgefallen. Sein ganzer Körper schüttelte sich, so brach das Lachen aus ihm heraus.
Wieder mit deutlich mehr Farbe im Gesicht prustete er: »Beamen? So wie in euren komischen Sendungen im Fernsehen?« Ein wenig ernster fuhr er fort: »Nein, Anna. Beamen geht leider nicht.«
Als sie ihn enttäuscht ansah, meinte er traurig: »Ich kann hier zwar weg, aber nicht an die Nordsee. Unmöglich. Das geht einfach nicht. Ist kompliziert und sehr persönlich. Irgendwann erkläre ich es dir, ja?«
Sie fragte sich, warum er es ihr nicht jetzt gleich erklären wollte. Das Ganze war einfach zu viel für sie. Anna fühlte sich, als hätten sich alles und jeder gegen sie verschworen.
Erst hatte sie die Nachricht von dem Inselurlaub mit Jens überrumpelt. Jetzt benahm sich auch noch Viktor so eigenartig. Und ihre Mutter … Diese Mischung aus Frust, Sorge und schlechtem Gewissen ließen sie den Tränen bedrohlich nahekommen. Doch da regte sich noch ein anderes Gefühl in ihr: Stolz. Auf keinen Fall wollte Viktor etwas vorheulen.
»Ich gehe dann mal.«
»Anna, nein. Bitte.«
»Lass nur, Viktor. Es ist besser so. Ich muss mich auf diese Situation, nun sagen wir mal, einlassen. Ich glaube, sonst platze ich.«
Einige Tränen waren wohl doch entkommenen. Eilig wischte Anna sie fort, stand dann auf und ging.
Ohne ihn anzuschauen. Ohne ein weiteres Wort.
Auf dem Heimweg wurde Anna das Herz schwer. Sie war betrübt und deprimiert über Viktors befremdliches Benehmen, über den anstehenden Krankenhausaufenthalt der Mutter und über das, was ihr selbst bevorstand: eine grausame Woche, sieben schier endlose Höllentage. Ohne Viktor! Aber dafür mit Jens!
Doch am meisten davon machte ihr Viktors seltsames Verhalten zu schaffen. Sie quälte sich deswegen mit unzähligen Fragen und Zweifeln und weinte bitterlich, als sie wieder zu Hause war. Als sie allerdings feststellte, dass ihr das überhaupt nicht weiterhalf, hörte sie einfach auf.
»Schluss damit«, flüsterte sie. »Er wird mir schon noch sagen, warum er so komisch war. Und nächsten Freitag mache ich Urlaub mit Jens. Hurra.«
***
In den nächsten drei Tagen lenkte Anna sich mit den Vorbereitungen sowohl für den Inselurlaub als auch für den Klinikaufenthalt ihrer Mutter ab: Nachthemden, Jogginganzug und Sonstiges für Theresa und Sommerkleidung für sich und sogar Jens waschen, bügeln und einpacken. Vom Taschengeld kaufte sie ein paar neue Sachen, wie zum Beispiel einen Bikini und eine Sonnenbrille. Bei den Einkäufen für den Haushalt zu Hause besorgte sie sich auch gleich noch ein paar Kosmetikartikel und, und, und.
Zwischendurch flitzte sie immer wieder in den Wald. Und das, obwohl sie noch ein bisschen böse auf Viktor war, da er ihr nach wie vor seine rätselhafte Abneigung gegen die Nordsee nicht erklärt hatte. Sie schaffte es einfach nicht, für eine längere Zeit ohne ihn zu sein. Es graute ihr regelrecht davor, eine Woche lang von ihm getrennt sein zu müssen. So sehr hatte sie sich schon an ihn gewöhnt und brauchte ihn.
***
Am Donnerstagmorgen brachte Johannes seine Frau ins Krankenhaus. Ohne die Kinder, weil Theresa es rigoros abgelehnt hatte, dass die mitkamen.
Lena war ohnehin bereits am Tag zuvor mit ihrer Freundin nach Mallorca geflogen. Das war ein äußerst tränenreicher Abschied gewesen, auch für Anna.
Erneut standen ihr Tränen in den Augen, weil Theresa nach dem gemeinsamen Frühstück sowohl Jens als auch ihr einen liebevollen Kuss auf die Stirn drückte und sie beide ermahnte, sich zu benehmen. Außerdem versicherte sie, bald gesund zurück zu sein. Sie versäumte es natürlich auch nicht, Konsequenzen anzudrohen, falls Jens und Anna sich zerfleischen sollten, wobei sie ein bisschen zwinkerte.
Dann ging sie hinaus und schloss die Tür hinter sich. Traurig lehnte sich Anna von innen dagegen. Aus irgendeinem Grunde wusste sie, dass ihre Mutter in dieser Sekunde das Gleiche auf der anderen Seite tat und dann, nach einem Stoßseufzer, ihrem Mann zum Auto folgte.
Trotz oder vielleicht auch eher wegen ihrer tiefen Traurigkeit wollte Anna sich am heutigen Tage unbedingt mehr Zeit für Viktor nehmen. Denn sie würde nicht nur ihre Mutter, sondern auch ihn fürchterlich vermissen. Deswegen hoffte sie inständig, er könnte sie ein wenig aufmuntern.
Sie war schon fast zur Tür hinaus, da traf ihr Blick auf den Spiegel im Flur, was meist einen großen Fehler bedeutete, weil sie ständig mit sich und ihrem Aussehen haderte.
Mit ihren kleinen einen Meter und dreiundfünfzig kam sie eigentlich ganz gut zurecht. Nur fand sie sich trotz ihrer leichten einundfünfzig Kilo ein bisschen zu dick.
Das war allerdings beileibe nicht der einzige Kritikpunkt, der sie an sich selbst so störte. Sie hielt sich außerdem für ein eher durchschnittliches Mädchen, fand keinen Gefallen an sich. Sie sah sich nun einmal so. Alles an ihr schien nur allzu banal: Die blonden, spaghettiglatten langen Haare. Die hellblauen Augen. Die etwas schiefen Zähne. Na ja, die Brille stach hervor. Aber gerade auf die würde sie liebend gern verzichten.
Keineswegs hielt sie sich für fraulich und erwachsen, obwohl Lena ihr häufig erklärt hatte, dass sie durchaus so wirken würde und das bei der geringen Größe und einem zarten Alter von nicht einmal siebzehn Jahren: fraulich und erwachsen.
Nun also stand sie wieder einmal vorm Spiegel und fragte sich verwundert, was Viktor an so einer grauen Maus mit Brille finden könnte.
Obgleich sie verärgert darüber war, dass sie sich immer wieder selbst aus der Bahn warf und verunsicherte, gab sie ihren Selbstzweifeln achselzuckend nach und zog sich noch einmal komplett um. Dafür durchwühlte sie sogar den Koffer, den sie für den unsäglichen Urlaub bereits fertig gepackt hatte.
In einem geblümten Sommerkleid ging sie dann endlich zur Wohnungstür, hielt aber erneut inne und rannte wiederum Richtung Spiegel. Eilig öffnete sie ihren Pferdeschwanz, da sie glaubte, dass Viktor es mochte, wenn sie ihr Haar offen trug.
Amüsiert kicherte sie über sich selbst, weil sie ihm so unbedingt gefallen wollte. Sorgfältig bürstete sie ihr Haar und trug zudem ein kleines bisschen Lipgloss aus dem reichhaltigen Kosmetikrepertoire der großen Schwester auf. Dann wandte sie sich hastig vom Spiegel ab, aus Furcht, sie könnte ein weiteres Mal etwas an sich ändern wollen.
In der Absicht, Viktor in ihrem Kopf einzuspeichern und sich jedes Detail von ihm zu verinnerlichen, verließ sie das Haus.
Als sie die Lichtung erreichte, saß er bereits an der Birke und blickte versonnen vor sich hin. Er wirkte tief in sich versunken, schien sie überhaupt nicht zu bemerken. Das sah ihm gar nicht ähnlich. Doch sie schob ihre Verwunderung beiseite und nutzte die Zeit, um ihn von oben bis unten zu mustern.
Viktor war ihr ja bereits sehr vertraut, aber als sie ihn in diesem Moment so aufmerksam betrachtete, bemerkte sie, dass sein attraktives Gesicht sie von all seinen vielen anderen schönen Attributen abgelenkt hatte:
Er war schlank und muskulös, hatte starke Arme, zudem eine ausgeprägte breite Brust. Seine Haut schimmerte gleichzeitig samten und glatt.
Auch seine Kleidung gefiel ihr, nur hatte sie der bisher halt nie viel Aufmerksamkeit geschenkt. Meist trug er schwarze Jeans mit eng anliegenden T-Shirts oder Hemden in dunklen Farben, wie anthrazit, mitternachtsblau, burgunderrot, moosgrün, fiel ihr nun ein.
Schuhe hingegen mochte er ganz offensichtlich nicht, registrierte sie wieder einmal und grinste belustigt. Er war stets barfuß erschienen. Dementsprechend sahen seine Füße stets ein wenig schmuddelig und schwielig aus.
Am Handgelenk trug er einen schmalen Goldreif, in dem hauchfein eine Art Ornament eingraviert war.
Als Viktor den Kopf hob, veränderte sich sein Blick und ließ sofort ein fröhliches Funkeln erkennen.
»Was schaust du mich so an, Anna? Willst du mich einscannen?«
Er grinste süffisant, von Nachdenklichkeit keine Spur mehr. Überrascht musste Anna einsehen, dass er ihre Absichten mühelos durchschaut hatte. Die Frage, warum er als Halbelfe etwas vom Scannen wusste, wollte sie sich für später aufsparen.
»Ja, da hast du völlig recht. Ich hoffe, ich kann dich komplett speichern und dann in den kommenden Tagen von dir träumen. Und das«, seufzte sie, »das ist nun echt oberpeinlich.«
Viktor schien das gar nicht oberpeinlich zu finden, so wie er bei Annas Geständnis angefangen hatte zu strahlen. Mit glücklicher Miene stand er auf, legte seine Arme um ihre schmale Taille, sah ihr in die Augen und raunte ihr mit seiner dunklen Samtstimme ganz leise zu: »So etwas Schönes hat noch nie jemand zu mir gesagt.«
Dann nahm er sie in einer Art und Weise, wie er es noch nie getan hatte, in seine Arme, so, als könnte er sich nicht mehr zurückhalten.
»Ach, was soll’s«, flüsterte er und zog sie noch näher zu sich heran.
Vorsichtig, ganz vorsichtig senkte er den Kopf und näherte sich ihrem Mund. Sie hielt gebannt still. Zart, ganz zart nur berührte er ihn mit seinen Lippen.
Er lächelte, als sie zusammenzuckte und wieder einmal weiche Knie bekam. Aber er legte seine Arme einfach noch enger um sie und hielt sie ganz fest. Dann versuchte er es noch einmal.
»Himmel noch eins!«
Das war alles, was ihr zunächst durch den Kopf schoss, als sich wieder alles um sie drehte und ihr Herz so heftig pochte, als wollte es ihr aus der Brust springen. Aber sie wollte diesen Kuss auf keinen Fall beenden. Sein Mund war viel zu köstlich.
»So schmeckt also die Sonne und der Wald – und er!«
Das waren ihre Gedanken, bevor sich daraufhin ihr Hirn vom restlichen Verstand verabschiedete.
Noch nie hatte Anna einen Jungen geküsst und schon gar nicht auf diese Weise. Sie hatte es eher als unangenehm, ja, beinahe eklig empfunden, wenn Jens mit Silvi in ihrer Gegenwart knutschte. Aber das hier, das fand sie einfach nur himmlisch und sollte am besten niemals aufhören.
Sie legte den Kopf ein wenig schräg, öffnete einladend die Lippen und er strich mit seiner Zunge sanft darüber.
Dann seufzte er auf, presste stöhnend seinen Mund derart fest auf ihren, dass ihr fast die Luft wegblieb. Sein Kuss verlor alle Unschuld, wurde drängend, fordernd und unendlich süß. Auch sie stöhnte leise auf.
Sie ließen sich auf das Moos sinken, verloren sich in leidenschaftlichen Umarmungen. Die Sonne wickelte Anna ein, drang in sie, war nun überall in ihr, überall. Sie streichelten und liebkosten sich, eine kleine Ewigkeit lang, die Anna viel zu kurz vorkam.
Als sie sich voneinander lösten, einander anblickten und dann Stirn an Stirn atemlos voreinander knieten, waren sie berauscht. Beide!
Etwas verlegen räusperte sie sich und lächelte dann. »Ja, ich glaube, ich habe dich schon ein bisschen eingespeichert. Ich werde von dir träumen. Das weiß ich.«
Viktor lächelte nicht minder verlegen. »Jaa, ich werde auch von dir träumen. Obwohl, das tue ich sowieso schon. Aber das darf ruhig noch mehr werden.«
Er schaute noch verschämter drein. »Anna, es tut mir leid. Vielleicht war ich zu stürmisch. Du bist ein Mensch und noch so jung. Du sollst wissen, dass dir nichts geschieht. Ähm …«
Er schlug die Augen nieder und sah sie dann unter dichten Wimpern hervor reuevoll an. Bei diesem Blick schluckte sie schwer.
»Verstehst du, was ich meine?«, fragte er nach.
Anstatt ihm zu antworten, packte sie ihn mit einer Hand am Nacken, griff dabei in seine Locken und riss ihn an sich. Und schon folgte ein weiterer intensiver Kuss, der nun auch Viktor die Luft abrang.
Als sie sich von ihm löste, war es an ihr, ihn warm anzulächeln.
»Zu jung? Soso. Hhm, das finde ich äußerst interessant, denn in meiner Klasse gelte ich eher als Spätzünder und Mauerblümchen. Außerdem, tu nicht immer so, als seist du so viel erwachsener als ich. Du bist doch selbst erst achtzehn.« Sie grinste frech. »Aber keine Bange, ich vertraue dir.«
Seufzend sah sie auf die Uhr. »Ich muss gehen, obwohl ich überhaupt nicht möchte.«
»Ich begleite dich, Anna.«
Bei dem Gedanken, er könnte sie bis nach Hause bringen, zuckte sie zusammen. Sie hatte einfach keine Lust auf einen Streit, weder mit Johannes noch mit Jens.
Als hätte er etwas von ihrer Befürchtung mitbekommen, lachte Viktor leise auf. »Ich bringe dich bis zum Waldrand, Anna, nur bis zum Waldrand. Aber im Moment musst du mich noch ein wenig stützen. Jetzt habe nämlich ich weiche Knie.«
Der Rückweg gestaltete sich sehr, sehr zeitraubend. Ständig blieben sie stehen für einen langen, innigen Kuss.
***
Als Anna später allein im Zimmer neben dem neu gepackten Koffer auf Lenas Bett saß, strich sie sich nachdenklich mit einem Finger über die Lippen, auf denen der Nachhall seiner Küsse immer noch angenehm prickelte. Allein bei der Erinnerung begann ihr Herz aufs Neue zu rasen und das bislang unbekannte Begehren stieg leise in ihr auf.
Dennoch weinte sie. Sie war glücklich, obwohl ihre Mutter so krank war. Und sie würde Viktor eine Ewigkeit – nein, eine Hölle lang! – nicht sehen.