Читать книгу Sonnenwarm und Regensanft - Band 1 - Agnes M. Holdborg - Страница 4
Wo ist deine Brille?
Оглавление»Jaja, Jens, du mich auch, verdammt noch mal!«
»Mann, stell dich doch nicht immer so blöde an. Geh einfach zum Optiker und lass dir ’ne Neue verpassen. Die kann ja nur besser aussehen als die, die du jetzt trägst.«
»Weißt du was? Du kannst mich echt mal kreuzweise!«
»Typisch, was Besseres fällt dir mal wieder nicht ein, was?« Jens schüttelte missbilligend den Kopf, grinste dann aber schon wieder. »Mensch, Anna, ernsthaft, man wird doch wohl noch seine Meinung sagen dürfen.«
Sie schnaubte laut. »Pah, verzieh dich einfach! Warum bist du eigentlich immer noch hier?«
… Anna Nell hatte sich so auf ihren ersten Sommerferientag gefreut. Sie hatte lange geschlafen und nach dem späten Aufstehen, weil die beiden Geschwister und der Vater arbeiten gehen mussten, himmlische Ruhe und Einsamkeit erwartet. Ihre Mutter hatte außerdem an diesem Vormittag einen Arzttermin, der bis zum Mittag dauern könnte. Also sollte dieser erste Ferienvormittag eigentlich ganz und gar ihr gehören.
So war sie im ausgeleierten XXL-Shirt, mit ausgetretenen Filzpuschen, verschlafenem Gähnen und völlig verstrubbelten, blonden langen Haaren gemütlich in die Küche geschlurft, um sich erst einmal Kaffee zu kochen. Und wer saß da? Ihr drei Jahre älterer Bruder, ausgerechnet dieser Meckerblödmann!
Im ersten Moment hatte sie ihre schief sitzende Brille auf der Nase zurechtgerückt, weil sie glaubte, sich zu täuschen. Aber nein! Da saß er, der ihr so verhasste Jens, und prostete ihr provokant grinsend mit seiner Kaffeetasse zu.
Jetzt, wo sie darüber nachdachte, fiel ihr auch wieder ein, dass er neulich erwähnt hatte, er müsste an irgendeinem Tag erst kurz vor Mittag nach Düsseldorf zur Messe, um dort seinen Kollegen für die Spätschicht am Stand abzulösen. »Irgendein Tag« war dann wohl offensichtlich der heutige Tag. Ihr Tag! Mist, das hatte sie vergessen!
Nun saß er also am Küchentisch, schlürfte den Kaffee, den sie noch nicht hatte, und nervte sie wie so häufig mit unglaublich öden Besserwissereien und noch dazu üblen Beleidigungen.
Besonders wenn es um ihre Brille ging, konnte er in ihren Augen richtig fies werden. Da ließ er keine Gelegenheit aus, ihr Gemeinheiten an den Kopf zu werfen. Offenbar machte ihm das so richtig Spaß.
Dabei war gerade die Brille Annas wunder Punkt, würde sie doch liebend gerne darauf verzichten. Doch das ging leider nicht, zumal sie keine Kontaktlinsen vertrug. Demnach hatte sie sich mit dem lästigen Fremdkörper in ihrem Gesicht abzufinden, ob sie nun wollte oder nicht. Das fiel ihr allerdings unsagbar schwer, fand sie sich doch schon ohne das Ding nicht sonderlich hübsch.
Dummerweise ließ sie sich ständig in einen Streit mit Jens verwickeln. Der Kerl hatte einfach etwas an sich, das sie regelmäßig auf die Palme brachte. …
»Ich hab noch massig Zeit.« Und schon setzte er seinen Angriff auf Annas Nerven gnadenlos fort: »Weißt du was? Wenn du dir schon keine neue Brille anschaffen willst, dann benimm dich doch wenigstens mal gescheit. Es wundert mich nicht, dass dich die Jungen und Mädchen aus der Nachbarschaft meiden und für seltsam halten.«
Jens hatte sich jetzt so richtig in Rage geredet, unterließ es allerdings nicht, sein höhnisches Grinsen beizubehalten.
»So, wie du rumläufst und dich verhältst, wirst du niemals Freunde in der Schule finden, klar? Rede mal mit den Leuten, anstatt deine Nase ständig in irgendwelche Bücher zu stecken. Und weil wir schon mal dabei sind: Wenn du über die Straße gehst oder mit dem Fahrrad unterwegs bist, könntest du unsere Bekannten zumindest grüßen.«
»Was?«
»Ja, da siehst du’s mal. Du kriegst das alles gar nicht mit, so verpeilt, wie du bist und dich wie eine Schlafwandlerin durch die Gegend träumst. Kessi von nebenan hat mir sogar erzählt, du hättest letztens am Straßenrand gestanden und Löcher in die Luft gestarrt, wärst aber gar nicht rübergegangen. Kannst du mir mal sagen, wieso du das tust?«
Scheinbar erwartete er keine Antwort. Er unterbrach sich nur kurz, um sich neuen Kaffee einzugießen. »Gott, Anna, du bist so was von peinlich. Es reicht doch wohl, dass du niemanden grüßt, wenn du auf dem Fahrrad sitzt. Aber das ist nun echt das Letzte. Musst du denn am helllichten Tag ständig und überall träumen? Kannst du nicht wenigstens so tun, als würdest du in diese Welt gehören? Und besorg dir endlich eine Brille, die ein bisschen in unsere Zeit passt.«
»Womit wir wieder beim Thema wären.«
Anna fragte sich, weshalb Jens immer nur sie nervte. Weshalb konnte er nicht einfach ihrer zwei Jahre älteren Schwester Lena oder besser noch seiner Freundin Silvi mit diesen ätzenden Nörgeleien auf den Geist gehen? Sie selbst jedenfalls hatte seine Bosheiten und nie enden wollenden Sticheleien lang genug aushalten müssen. Mittlerweile fast siebzehn Jahre lang! Spätestens jetzt waren die anderen doch wohl auch mal dran!
Sie murrte missmutig, weil sie einen Kaffee brauchte. Der würde sie eventuell über den Schlag hinwegtrösten, dass der erste Vormittag ihrer Ferien wider Erwarten nicht ihr allein gehörte. Ausgerechnet Jens! Ja, sie brauchte dringend einen Kaffee!
Hoffnungsfroh schlappte sie zur Kaffeekanne, um dann enttäuscht festzustellen, dass die leer war. Bis auf den letzten Tropfen! Kein Kaffee! Eigentlich kein Problem, wäre sie halt allein. Aber, dass Jens tatsächlich nur welchen für sich selbst gekocht hatte, ohne sie zu bedenken, das schlug dem morgendlichen Übellaune-Fass endgültig den Boden aus.
»Scheiße, Jens! Kein Kaffee?«
»Natürlich nicht, Anna. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Da musst du dir wohl selber welchen kochen.«
Jens grinste wieder oder aber immer noch, Anna wusste es nicht. Sie befand in diesem Augenblick einzig und allein, dass jeder, der imstande wäre, so dämlich wie ihr Bruder zu grinsen, gevierteilt gehörte.
Es brodelte in ihr. Erst der Fehlschlag, weil sie nicht alleine war, dann die immerwährende Brillen- und Benimm-Diskussion mit Jens und zur Krönung keinen Kaffee. Und das am ersten Ferientag. Am liebsten hätte sie geschrien.
Stattdessen beschloss sie, dass sie eben heute mal ohne Kaffee auskommen müsste, und stürmte wutentbrannt aus der Küche in ihr Zimmer. Auf dem Weg dorthin schlug sie sämtliche Türen laut zu und warf sich dann schmollend aufs Bett.
Würde ihre Mutter nicht bald heimkommen, hätte sie dem Blödmann so richtig die Meinung gegeigt. Jawohl! Dann hätte sie ihrem doofen Bruder gezeigt, wer hier eigentlich der Dumme war. Da es allerdings nicht mehr lange dauern würde, bis ihre Mutter zurückkehrte, hatte Anna sich für ihre Verhältnisse im Zaum gehalten. Sie seufzte schwer. Nein, im Beisein der kränkelnden Theresa wollte sie lieber nicht mit Jens streiten.
Endlich hörte sie, wie Jens die Wohnungstür hinter sich schloss. Das war für sie das Startzeichen, ihr Zimmer wieder zu verlassen. Anna schniefte noch einmal kräftig und ging ins Bad, um sich ein bisschen frischzumachen.
»Danach wird’s mir schon besser gehen und bis Mama wieder da ist, hab ich mich bestimmt vom letzten Jens-Angriff erholt.«
***
Annas Mutter wirkte ganz blass und durchsichtig, als sie vom Arzt zurückkam. Bei diesem Anblick wurde Anna das Herz schwer. Es war nicht das erste Mal, dass Theresa so angegriffen und krank aussah. Aber auch diesmal reagierte sie auf Annas besorgte Fragen lediglich mit einem warmen Lächeln.
»Alles in Ordnung, Engelchen. Mir fehlen nur ein paar Vitamine und etwas frische Luft.«
Da sie wusste, dass ihre Mutter kein weiteres Wort über ihre Krankheit verlieren würde, beließ Anna es dabei und schlug ihr stattdessen vor:
»Wie wär’s, wenn du dich erst mal ein bisschen hinlegst, Mama? Du solltest dich ausruhen. Vielleicht magst du ja was lesen und ich mache das Mittagessen warm. Dann ist alles fertig, wenn Papa und Lena kommen.«
»Lass nur, Anna. Danke, aber mir geht’s ganz gut. Ich möchte lieber was tun und zum Lesen fehlt mir momentan einfach die Muße. Außerdem ist das Essen ja schon vorbereitet und Lena kommt doch donnerstags sowieso nicht. Da ist ihre Mittagspause immer viel zu kurz, um vom Salon herzukommen. Ich würde mich allerdings freuen, wenn du nach dem Essen noch schnell einkaufen gehen könntest. Die Milch ist fast alle und der Toast auch.«
»Klar, kein Problem.«
»Das ist nett von dir. Ich könnte auch ab und zu ein wenig Hilfe im Haushalt gebrauchen, beim Waschen und Putzen und so. Falls du vielleicht mal Zeit dazu hättest«, meinte Theresa müde.
»Mal Zeit?«, wiederholte Anna irritiert. »Ich hab doch immer Zeit.«
»Na ja, du bist schon sehr oft unterwegs, wenn du mit deinen Hausarbeiten fertig bist. Was machst du dann eigentlich so?«
»Hhm, eigentlich nichts Besonderes.«
»Tja, das sagst du immer, wenn man dich fragt. Was ist denn: Eigentlich nichts Besonderes?«
»Ach, Mama, das ist völlig unspektakulär. Ich fahre mit dem Rad rum oder gehe spazieren. Das ist alles, wirklich.«
»Und wohin fährst oder gehst du dann so?«, hakte Theresa nach.
Anna seufzte schwer. Alles war anders gekommen, als sie geplant hatte. Aus ihrem schönen Gammelvormittag war ein kaffeeloser Streit mit Grinse-Heini Jens und eine Verhörrunde mit ihrer Mutter geworden. Aber es nützte ja nichts, dann würde sie halt erzählen, was sie so in ihrer freien Zeit machte.
»Ich schau mich nur ein bisschen um oder setze mich irgendwohin, wo ich es schön finde, und dann lese ich was oder mache einfach gar nichts.«
»Wo ist denn Irgendwo?« Bei dieser Frage schmunzelte Theresa und zog die Brauen hoch.
»Irgendwo ist zum Beispiel im kleinen Park am Denkmal. Da kann man prima in der Sonne sitzen«, antwortete Anna geduldig, obwohl Theresas Fragerei sie ziemlich nervte. »Und Irgendwo ist auch im Wald nebenan. Den mag ich nämlich sehr.«
… Annas Gedanken schweiften ab, als sie den Wald erwähnte – ihren Wald. Jetzt im Sommer, bei schönem Wetter fand sie ihn besonders reizvoll. So auffallend hell, fast lichtdurchflutet. Mit den Sonnenstrahlen, die wie Silber- und Goldstreifen durch die Blätter der Laubbäume, Büsche und Sträucher glitten und so die Blätter, Farne und Moose in ein geheimnisvoll anmutendes, hauchzartes und grünschimmerndes Licht tauchten. Diese faszinierende Umgebung lud sie regelmäßig zum Nachdenken und Träumen ein.
Es gab dort eine winzig kleine Lichtung, rechts ab von einem schmalen, verschlungenen Weg. Hier schien die Sonne fast ungehindert hinein und wärmte den moosbewachsenen Boden. Das war Annas absoluter Lieblingsplatz. Dort, am Rande der Lichtung, ließ sie sich gern nieder, verharrte oft stundenlang in einer bequemen Haltung zwischen Sitzen und Liegen, angelehnt an einer großen Birke und träumte. …
»Mutter an Anna! Hörst du mich?«
»Hhm? Was?«
»Du hast mal wieder geträumt, Engelchen.«
***
Nach dem Einkauf wollte Anna gerade ihr Fahrrad in den Keller bringen, als sie einem Nachbarsjungen begegnete. Sie erinnerte sich an Jens’ Worte und grüßte ihn deshalb freundlich. Doch der griente sie nur frech an, nannte sie eine »blöde Brillenschlangenkuh«, streckte ihr danach die Zunge raus und rannte weg. Das hatte sie nun davon, den Ratschlag ihres doofen Bruders zu befolgen.
Missmutig stieg sie mit ihren Einkäufen in den Aufzug und wollte den Vorfall am liebsten vergessen. Doch das gelang ihr einfach nicht. Der Groll darüber machte sich unaufhaltsam in ihr breit. So hatte sie sich ihren Ferienbeginn ganz bestimmt nicht vorgestellt.
Am meisten war Anna sauer auf sich selbst, weil sie sich über einen kleinen dummen Jungen ärgerte. Der ging sie ja überhaupt nichts an. Und von Jens war sie weitaus Schlimmeres gewohnt. Trotzdem schossen ihr heiße Tränen in die Augen, so frustriert war sie.
Hastig legte sie Milch und Toast in den Kühlschrank. Dann lief sie in ihr Zimmer, in der Hoffnung, sich bei einem Buch zu beruhigen. Aber als sie dort ihrem verheulten Gesicht samt Brille im runden Spiegel begegnete, kroch der ganze Ärger des Tages wie eine Schlange in ihr hoch und strebte zielsicher nach Freiheit. Wutschnaubend riss sie sich die Brille von der Nase, schleuderte sie aufs Bett und stürmte, ohne ein Wort zu sagen, schnurstracks aus dem Haus hinaus in ihren Wald.
»Phhff! Ich kann auch ohne Brille ganz gut sehen und den Weg kenne ich ja sowieso im Schlaf.«
Erst blickte sie sich unsicher um, obgleich eigentlich von vornherein klar war, was sie tun würde. Also steuerte sie ihren Lieblingsplatz an, ließ sich dort nieder und verdrückte noch ein paar Tränchen, die den Wuttränen gefolgt waren. Allmählich legte sich der innere Sturm. Die Schlange verkroch sich. Anna konnte wieder frei atmen – wie immer, wenn sie hier war. Die Sonne wärmte sie angenehm wie ein tröstender Arm.
Schon bald war sämtlicher Kummer vergessen. So saß sie mit geschlossenen Augen da, die Beine angewinkelt, den blonden Kopf an die Birke gelehnt und hing ihren Gedanken nach, die sie unbewusst laut aussprach:
»Wo ist denn nur der Prinz auf seinem weißen Pferd und befreit mich aus meiner Mittelmäßigkeit? Oder der Zauberer, der mich verwandelt, mich groß und schlank und atemberaubend schön macht? – Oder, oder, oder! So ein Schwachsinn!« Na ja, so ganz hatte sie sich wohl doch noch nicht erholt. Dafür saß der Stachel aus Frust und Zorn einfach zu tief. »Mensch, Anna, hör doch auf mit dem Mist! Du solltest lieber über was Vernünftiges nachdenken!«
Anna schüttelte den Kopf und seufzte. Sie wollte ihre Lichtung genießen und nicht über irgendwelchen Ärger wegen irgendwelcher dummer Nachbarsjungen, blöder Brüder oder sonst was brüten. Sie machte die Augen wieder zu. »Ja, so ein Prinz wäre jetzt echt nicht schlecht.« Endlich fand Anna zur Ruhe. Die Spannung ließ nach und sie versank watteweich in ihren Träumereien.
»Wo ist denn deine Brille? Wieso trägst du sie heute nicht?«, fragte plötzlich eine dunkle sanfte Stimme.
»Hm, was iss los?« Annas Traum zerplatzte. Oder träumte sie immer noch? Überrascht riss sie die Augen auf.
»Der Zauberprinz!«
Sie musste wirklich träumen.
Vor lauter Schreck sprang sie auf. Aber auch neuer Ärger machte sich breit. Bisher hatte sich noch nie jemand zu der Lichtung verirrt. Anna hielt sie sozusagen für ihren Privatbesitz und fühlte sich nun empfindlich in ihrer Ruhe gestört.
Mit einer Hand schirmte sie das blendende Sonnenlicht ab und versuchte, auch ohne Brille so viel wie möglich zu erkennen.
Direkt vor ihr stand ein Junge umhüllt von goldenen Sonnenstrahlen. Er wirkte etwas älter als sie selbst und hatte wirres dunkles Haar, das in der Sonne braun, zugleich mahagonifarben schimmerte und sich fröhlich über Stirn und Ohren kringelte.
Groß und schlank, wie er war, stand er einfach da. Die Hände lässig in die Hüften gestemmt lächelte er Anna freundlich an. Dabei blitzten seine wunderschönen leuchtend dunkelblauen Augen. Außerdem zeigten sich hinreißende Grübchen auf seinen Wangen. Anna fand diesen Fremden ausgesprochen attraktiv und sein Lächeln einfach umwerfend.
Noch nie hatte sie sich einen Jungen genauer angeschaut, aber bei diesem konnte sie nicht widerstehen, obwohl sie befürchtete, ihr Glotzen könnte ihm unangenehm werden. Trotzdem musterte sie ihn weiterhin so intensiv und brauchte etwas, um ihrer Verwirrung Herr zu werden. Gerade wollte sie ihn fragen, was er hier auf ihrer Lichtung zu suchen hätte, als er einfach weitersprach:
»War doch nur eine kleine Frage. Entschuldige, wenn ich dich verschreckt habe. Aber sonst bist du nicht so sprachlos, wenn du hier sitzt. Du redest nämlich sehr viel. Und normalerweise trägst du eine Brille.«
»Ich rede sehr viel?«, brachte Anna immer noch verwirrt hervor. »Wie kommst du denn darauf?«
»Nun, ich habe dich hier schon oft beobachtet und deshalb weiß ich, dass du gerne hier sitzt und redest.«
»Stimmt, ich bin wirklich gerne hier. Aber ich rede doch nicht«, empörte sie sich.
Sein Lächeln veränderte sich zu einem breiten Grinsen, was Anna an Jens erinnerte und deswegen ziemlich verärgerte. »Du scheinst halt gerne zu träumen oder was du da auch immer tust. Tja, und dabei sprichst du.«
»Kann nicht sein«, widersprach sie noch einmal. »Und überhaupt, wer bist du eigentlich? Ich hab dich hier noch nie gesehen. Von wegen, beobachten. Das kann gar nicht sein.«
»Ich heiße Viktor und ich bin oft hier, sehr oft. Man muss sich nicht groß verstecken, um dich zu beobachten. Ich glaube, wenn du hier bist, siehst du ohnehin nichts mehr. Du bist dann irgendwie weggetreten oder so. Du sitzt hier, redest vor dich hin und bist halt trotzdem irgendwo anders. Ich wüsste nur zu gerne, wo?«
Ja, sie wohl auch, stellte Anna fest, ehe eine vage innere Unruhe sie erfasste und ins Grübeln brachte. Zuerst hatte sie gar nicht richtig begriffen, dass sie nicht mehr allein auf ihrer Lichtung war. Dann hatte sie sich darüber geärgert. Doch jetzt wurde ihr mit einem Male bewusst, dass dieser Viktor ihr total fremd, vielleicht sogar gefährlich war. Weil ihr die Knie weich wurden, setzte sie sich wieder hin. Eigentlich befand sie ihn ja für nett, nicht zu vergleichen mit den anderen, die sie meistens hänselten. Auch war er ja kaum älter als sie. Dieser Gedanke beruhigte sie ein wenig. Aber ein leicht mulmiges Gefühl blieb.
Viktor schien ihre Stimmungsschwankung zu bemerken. Jedenfalls wich sein Grinsen einem schwachen Lächeln und verflüchtigte sich dann vollends. Stattdessen zog er seine geraden dunklen Brauen hoch. Wahrscheinlich weil sie ihn so blöde anstarrte, nahm Anna an.
»Nur heute bist du irgendwie anders. Du hast nicht viel gesagt. Und du bist so traurig. Ob das daran liegt, dass du deine Brille nicht aufhast?« Er sah ihr direkt in die Augen. »Ähm, geht’s dir nicht gut?«
»Was hast du nur andauernd mit meiner Brille?« Anna wartete eine Antwort nicht ab. »Es kommt mir halt sonderbar vor, dass du hier so plötzlich, wie aus dem Nichts auftauchst und mir solche Dinge sagst, so, als würdest du mich kennen. Das ist irgendwie, hhm, eigenartig. Du bist irgendwie …«
Weiter kam sie nicht, denn Viktor ging leise lachend vor ihr in die Hocke, was Anna zusätzlich verunsicherte, hatte sie doch das Gefühl, er würde den goldenen Sonnenstrahl mit sich nehmen.
»Hast du etwa Angst vor mir?«, fragte er sie. »Das brauchst du nicht. Tut mir leid, ich sollte natürlich nicht darüber lachen. Aber glaube mir, vor mir brauchst du dich nicht zu fürchten.«
Erstaunt überlegte Anna, vor wem sie denn hier im Wald sonst Angst haben sollte, wenn nicht vor einem Wildfremden wie ihm.
Als könnte er ihre Gedanken hören, wurde er ernst. »Du bist manchmal etwas unvorsichtig oder eigentlich immer. Dies ist schließlich ein Wald. Wer weiß, wer sich hier so alles rumtreibt. Das könnte gefährlich sein und ist deshalb eigentlich nichts für kleine Mädchen.«
Bei der Bezeichnung »Kleine Mädchen« funkelte sie ihn böse an. Doch er lachte schon wieder und nahm ihr damit den Wind aus den Segeln. Obwohl er offenbar über sie lachte und sie damit verärgerte, fand sie dieses Lachen ungeheuer anziehend.
Von diesen Empfindungen hin- und hergerissen, bemühte sie sich dennoch um eine gelassene Antwort: »Dies ist nun mal meine Lieblingsstelle in meinem Wald und hier gibt’s doch nichts zum Fürchten.« Und da sie ja gerade erst beschlossen hatte, sich nicht vor ihm zu fürchten, fügte sie rasch hinzu: »Und vor dir habe ich schon mal gar keine Angst.«
»Schon gut, Anna, ich hab’s ja nicht böse gemeint. Ich wollte nur …«
»Anna?«, hakte sie überrascht nach und wurde misstrauisch. »Woher weißt du meinen Namen? Hab ich den etwa auch vor mich hingeplappert? Was soll ich überhaupt erzählt haben? Sag’s mir.«
Nun schaute er etwas schuldbewusst drein. »Ich sage nur, was ich gesehen und gehört habe, wenn du hier sitzt, weißt du? Du kommst immer alleine und sprichst halt sehr oft.«
»He, alleine? Von wegen«, warf sie ein.
»Ja, entschuldige bitte, dass ich dich heimlich beobachtet habe. Aber es war so spannend, dir zuzuhören. Außerdem denke ich, dass du das gar nicht bemerkst, wenn du deine Gedanken und auch deinen Namen laut aussprichst. Du redest von deinen Wünschen und Träumen. Manchmal handeln sie von Prinzen und Zauberern, Elfen und Feen. Das ist alles sehr verwirrend für mich, weil ich nicht verstehe, warum du das tust und wo du dann bist.«
»Ich rede nicht!«
»Tust du doch!«
Er setzte sich einfach neben sie. Ganz nah, aber ohne sie zu berühren. Anna wollte protestieren. Dann jedoch stockte ihr der Atem, weil es sich beinahe so anfühlte, als würde er sie in sein eigenes Sonnenlicht tauchen. Sie dachte, dass sie sich eigentlich wünschte, von ihm berührt zu werden.
Da ihre anfängliche Vorsicht und Skepsis allmählich einem regen Interesse gewichen waren, nahm ihre Verunsicherung noch zu. Wie konnte das sein? Der Drang, schnellstens das Weite suchen zu wollen, hatte sich in Wohlgefallen aufgelöst. Verwundert stellte Anna fest, dass ihr seine Nähe seltsam vertraut vorkam, obwohl sie ihr hätte fremd sein müssen. Ja, sie fühlte sich sogar wohl. Diese Vertrautheit verleitete sie dazu, sich weiterhin mit ihm unterhalten und überdies von sich erzählen.
»Okay, ich träume halt gerne, denke über mich nach und darüber, wie es wäre, in einem schönen Märchen zu leben, ohne Sorgen und so. Und dabei endlich einmal etwas, na ja, Besonderes zu sein. Ich weiß, das hört sich blöd an. Aber hier im Wald, genau an dieser Stelle, da fallen mir solche Dinge ein. Sie sind so klar und real.« Beschämt ließ sie den Kopf sinken. »Aber, dass ich sie laut ausspreche, wusste ich nicht. Das ist echt oberpeinlich.«
»Ist es gar nicht«, erwiderte er ruhig, wobei seine Stimme noch ein bisschen dunkler und sanfter klang.
Sie nahm nur noch wahr, wie er sie aufmerksam betrachtete und dabei den Blick aus seinen intensiven Augen in ihren versenkte. Diesem Blick standzuhalten bereitete ihr große Schwierigkeiten. Einen endlosen Moment lang starrten sie sich an, vergaßen, währenddessen Luft zu holen, bis Viktor die Stille beendete und weitersprach. Doch seine Augen wandte er nicht von ihr ab.
»Ich finde, dass du sehr wohl etwas Besonderes bist, Anna. Du sitzt hier ganz allein in deinem Wald und träumst. Andere Mädchen treffen sich mit ihren schwatzenden Freundinnen, gehen aus, shoppen oder machen sonst was. Aber du bist so oft hier. Warum? Das ist auf jeden Fall sehr besonders.«
Nun konnte sie seinem durchdringenden Blick nicht mehr standhalten und schaute wieder auf das grüne Moos. Aus Verlegenheit nahm sie ein kleines Birkenblatt vom Boden und fing an, es versonnen zu zerreiben. »Das hört sich für mich eher nach einem Freak an und nicht nach jemand Besonderem«, meinte sie leise und dachte unterdessen schmerzvoll an Jens und an den Nachbarsjungen. »Aber danke, ich gehe jetzt besser mal nach Hause, sonst vermissen sie mich vielleicht.«
»Warum? Bleib doch bitte noch ein bisschen. Du bist doch sonst auch länger hier. Lass uns noch eine Weile zusammen hier sitzen, ja? Du könntest mir mehr von dir erzählen.«
Insgeheim freute Anna sich riesig, dass er sie zum Bleiben aufforderte. Dennoch wunderte sie sich darüber, sich so schnell umstimmen zu lassen. »Okay, für ein Weilchen hätte ich noch Zeit. Es ist gerade so schön hell und warm hier. Aber eigentlich habe ich auch ein paar Fragen an dich.«
Erneut lächelte er auf seine anziehende Art. »Na, dann mal los, Anna. Zuerst möchte ich lieber mehr von dir wissen. Ich bin ein guter Zuhörer.«
Anna konnte es selbst kaum fassen, als sie anfing, völlig entgegen ihrer ursprünglichen Absicht, von sich und ihrer Familie zu berichten: Von dem Bruder, der sie ständig ärgerte und gängelte, sobald er sie sah. Von der Schwester, die zwar sehr lieb war, sie aber nicht richtig verstand. Vom Vater, seiner Fürsorge und seiner Liebe zu Holz. Und von der Mutter, mit ihrem feinen empathischen Gespür, die so gerne Bücher las, aber seit einiger Zeit zu müde dazu war, weil sie von Monat zu Monat kränker wurde. Von ihrem bevorstehenden Wechsel in die elfte Klasse, der sogenannten Oberstufe. Nur von ihren Wünschen und Sehnsüchten und auch Sorgen sprach sie nicht.
»Die kennt er ja schon. Megapeinlich!«
Viktor wirkte nachdenklich und konzentriert. Er schien interessiert zuzuhören, wobei seine Brauen sich etwas zusammenzogen und damit eine kleine senkrechte Stirnfalte formten. Dieses schöne, gedankenverlorene Gesicht zog Anna mit einem Mal derart an, dass sie ihm, beinahe wie aus einem Zwang heraus, mit den Fingern zart eine seiner Locken aus der Stirn strich. Dabei sah sie ihm tief in die Augen – und die verdunkelten sich augenblicklich. Hastig zog er sich ein Stückchen zurück.
Oh Gott, war sie denn komplett verrückt geworden? »T…t…ut mir l…leid! I…ich w…w…weiß nicht«, stotterte sie und holte einmal tief Luft. »Ich weiß nicht, wieso ich das getan habe. Entschuldige bitte. Ich fänd das auch nicht prickelnd, wenn du mich einfach anfassen würdest.«
Das war eine dicke, fette Lüge, jedoch hatte Anna das unbestimmte Gefühl, dass er auf keinen Fall berührt werden wollte. Zu ihrer Überraschung, aber auch zu ihrer großen Freude fing Viktor sich sofort wieder. Er lächelte und stellte, ohne einen Kommentar über die Berührung abzugeben, die nächste Frage: »Wieso erzählst du mir nur von deiner Familie und fast nichts von dir? Was ist? Ich wollte doch mehr von dir hören.«
»Von mir? Ganz sicher nicht!«
Aus irgendeinem Grund fiel es ihr immer schon unsagbar schwer, ihr Innerstes nach außen zu kehren. Deshalb würde sie ganz bestimmt nicht bei einem fremden Jungen damit anfangen, zumal dieser eigentlich schon viel mehr von ihr wusste, als er sollte. »Von mir gibt es nicht viel zu erzählen. Außerdem bin ich mal dran, dir Fragen zu stellen, meinst du nicht auch?«
»Nun ja, von mir gibt es eben auch nicht viel zu berichten.« Abrupt erhob er sich. »Es ist spät geworden, Anna. Ich glaube, jetzt musst du wirklich nach Hause gehen, ehe sie dich suchen.«
Etwas enttäuscht schaute Anna gedankenverloren auf die Uhr und erschrak, weil es bereits nach acht war.
»Oh, tatsächlich, ich muss dann wohl mal los. Sehe ich dich wieder? Kommst du öfter her?« Augenblicklich ärgerte sie sich über ihre dumme Frage, war er doch erwiesenermaßen schon öfter hier gewesen. Er hatte es ja selbst zugegeben.
»Boa, Anna, du bist sowas von blöd!«
Viktor lächelte wieder. Offenbar hielt er ihre Frage nicht für dumm und antwortete freundlich, ohne spöttischen Unterton: »Oh ja, ganz bestimmt. Mach es gut, Anna.«
»Ja, du auch, Viktor.«
Sie hatte ganz wackelige Knie, als sie aufstand, und das kam sicher nicht vom langen Sitzen. Als sie stolperte, hielt er sie blitzschnell fest.
So peinlich sie ihre Tollpatschigkeit auch fand, seine Berührung traf sie mitten ins Herz und überflutete all ihre schüchternen Gefühle. Es war, als öffnete es sich und ließe eine strahlend warme Mittagssonne hinein, und das trotz der Abenddämmerung.
Eilig löste er sich von ihr. Sie meinte, einen erschrockenen Blick zu erhaschen. Doch als sie blinzelte, da war dieser Ausdruck verschwunden und ein erneutes Lächeln überzog sein Gesicht.
»Geh, bevor du Ärger kriegst, Anna.«
»Ja, Tschö.«
»Tschö? Was meinst du damit?«
Sie schaute in verwundert an. »Wie, was meinst du damit? Kennst du das etwa nicht?« Als er den Kopf schüttelte, erklärte sie: »Das heißt hier in dieser Gegend nichts anderes als Tschüss oder Auf Wiedersehen. Du kommst wohl nicht von hier, oder?«
»Ach so, nein. Na, dann mal Tschö, Anna.«
»Ja, Tschö«, verabschiedete sie sich aufs Neue und wandte sich zum Gehen. Als sie sich noch einmal nach ihm umdrehte, war er bereits fort.