Читать книгу Sonnenwarm und Regensanft - Band 1 - Agnes M. Holdborg - Страница 6
Halbe Sachen
ОглавлениеZum Glück war es vom Wald nicht weit bis nach Hause. Dort angekommen meldete sich gleich Annas Vater und ließ ihr damit keine Zeit, über die seltsam aufregende Begegnung weiter nachzudenken. Er roch nach Sägemehl und war schlecht gelaunt, wie eigentlich immer in den letzten Wochen.
»Wo warst du? Was hat du so lange gemacht?«, fragte er mürrisch.
»Nichts Besonderes«, erwiderte sie spontan.
»Ja, war klar«, gab Johannes resigniert von sich. Diese Antwort kannte er von ihr zur Genüge, was Anna zwar wusste, aber nicht daran hinderte, sie immer mal wieder zu benutzen. »Deine Mutter hat sich übrigens schon hingelegt. Sie war ziemlich erschöpft und fühlte sich wieder schlecht.«
»Oh, das tut mir leid. Heute Mittag ging es ihr doch noch einigermaßen gut.«
»Ja«, meinte er nur matt. »Könntest du mir wohl was zu essen machen? Ich bin hundekaputt.«
Johannes war äußerst genügsam, was sein Abendessen und überhaupt seinen Feierabend betraf. Er machte sich dann meist selbst einen Toast mit Käse, einen mit Tomaten und eine Scheibe Rosinenstuten mit Honig zurecht, dazu ein Glas Milch und eine Tasse Pfefferminztee. Danach ging er unter die Dusche und krönte den Abend mit einem Feierabendbierchen, einer Plauderei mit Theresa und den Kindern und zuletzt dem Fernsehprogramm, manchmal auch mit guten Freunden. Damit war er meist zufrieden, fast jeden Tag.
Heute aber machte Annas Vater einen wirklich abgespannten und niedergeschlagenen Eindruck, weshalb sie kurzerhand beschloss, ihn einmal zu verwöhnen. Sie wusste ja um seine Sorgen, auch wenn er sie nicht aussprach.
»Klar, Papa. Essen wie immer?«
»Mmh.« Johannes nickte zustimmend.
Also bereitete sie ihm das Abendbrot zu und brachte auch ihrer Mutter noch eine Tasse Tee ans Bett.
Später setzte sie sich zu Johannes ins Wohnzimmer und schaute fern. Lieber hätte sie mit ihm über die Mutter gesprochen, doch er war wieder derart einsilbig und zurückgezogen wie schon so oft in den vergangenen Tagen. Da hatte es einfach keinen Sinn. Deshalb starrte sie weiter auf den Fernseher. Es drangen zwar sowohl Worte als auch Bilder in Ton und Farbe zu ihr durch, so richtig jedoch nahm sie die nicht wahr.
Ihre Gedanken schweiften ganz woanders hin – zu ihm!
Weil sie an diesem Abend ohnehin nichts Neues von Johannes erfahren würde und sie sich auf den Krimi so gar nicht konzentrieren konnte, streckte und reckte sie sich ein paarmal, stand dann auf und gab ihrem Vater einen kleinen Kuss. »Nacht, Papa. Grüß Jens und Lena, wenn sie kommen.«
»Mach ich. Nacht, Engelchen. Schlaf schön.«
»Ja, du auch.«
***
Obwohl sie todmüde war, fand sie in dieser Nacht keinen Schlaf.
Auch als Lena am späten Abend von ihrer Verabredung heimkam und leise das gemeinsame Zimmer betrat, um sich schlafen zu legen, war Anna immer noch wach.
Ständig schwirrte ihr dieser mysteriöse Viktor im Kopf herum. Er hatte einen tiefen Eindruck bei ihr hinterlassen. Trotzdem beschlichen sie Zweifel. Fast war ihr so, als hätte sie sich das alles nur eingebildet. Sein Gesicht tauchte zwar vor ihrem geistigen Auge auf, dennoch fragte sie sich, ob es vielleicht lediglich ihrer regen Fantasie entsprang. Schließlich hatte sie ja schon des Öfteren, gerade auf ihrer Lichtung Feen und Elfen tanzen gesehen.
Sie seufzte schwer und wälzte sich unentwegt hin und her.
»Kannst du nicht schlafen?«, fragte Lena im Bett nebenan.
»Nein, ja, ich … Hhm, ich bin wohl irgendwie ein bisschen aufgedreht.«
Gerne hätte sie ihrer Schwester von der Begegnung im Wald erzählt. Aber sie wusste, Lena hätte sie nicht verstanden. Wie auch? Sollte sie ihr sagen, manchmal, na ja, eigentlich sehr oft, im Wald laut vor sich hin zu faseln und dabei von einem äußerst attraktiven Jungen überrascht worden zu sein? Wohl kaum!
Und da sie das wusste, ließ sie es auch besser bleiben. Stattdessen sagte sie, dass sie noch ein Glas Milch trinken wollte, und stand wieder auf.
In der Wohnung war es still. Alle schliefen. Sie nicht. Die ganze Nacht.
***
Am nächsten frühen Morgen war sie zwar weiterhin todmüde, dennoch voller Tatendrang. Die Sonne strahlte wie am Tag zuvor, weshalb Anna am liebsten sofort in den Wald gelaufen wäre. Doch ihrer Mutter ging es nach wie vor schlecht. Außerdem hatte sie Anna ja gebeten, ihr ein wenig zur Hand zu gehen.
Da das eindeutig vorging, machte sich Anna zunächst an die Hausarbeit und begann danach, das Mittagessen für alle vorzubereiten. Sie versorgte die Mutter mit Kräutertee und versuchte vergeblich, sie dazu zu bewegen, eine Kleinigkeit zu frühstücken. Annas Besorgnis wuchs, wusste sie doch nicht, was Theresa fehlte. Sie nahm sich deswegen vor, alsbald beim Arzt anzurufen.
Entgegen diesen Sorgen musste sie ständig an den gestrigen Tag denken. Viktor – oder der Traum? – ging ihr einfach nicht aus dem Kopf.
»Sollte ich ihn wiedersehen, dann ist er mir so einige Antworten schuldig! Dann muss er mir allerhand erklären!«
Nach dem Mittagessen räumte sie eilig den Tisch ab. Langsam, aber sicher wurde sie nervös. Deshalb stellte sie das Geschirr auch nicht so ordentlich wie sonst, sondern mit viel Geklapper in die Spülmaschine und machte auch die Küche nur fahrig sauber. Trotz ihrer Ungeduld schaute sie aber noch einmal rasch nach der schlafenden Mutter. Anna legte ihr einen Zettel ans Bett, mit der Nachricht, sie auf dem Handy anzurufen, falls sie gebraucht würde. Dann schlich sie sich aufgeregt hinaus.
Als sie bemerkte, dass sie rannte, nahm sie sich zurück und ging in gemäßigtem Tempo zu ihrer Lichtung.
Dort herrschte wieder dies wundervolle grüngoldene Licht. Dieses Mal spielte zusätzlich eine sanfte Brise mit den Blättern. Sie zauberte tanzende Lichterpunkte in das flirrende Farbenspiel von Sonnenschein und Schatten und überzog Annas Lieblingsort mit mystischem Schimmer.
Wie leicht sie solch ein Sonnentanz im Wald in den Bann ziehen konnte. Als trüge dieser glanzvolle Tanz ihr Herz an ferne, unbekannte Orte. Fasziniert sah sie sich um, vergaß bei dem Anblick fast, warum sie so eilig hergekommen war, und setzte sich gedankenversunken an ihre Birke.
Und ehe sie sich versah, saß Viktor auch schon neben ihr. Einfach so! Nur einen Wimpernschlag zuvor hatte sie ein kurzes helles Blitzen im Augenwinkel vernommen. Anna hatte keine Zeit gehabt, sich zu erschrecken. Sie war mit Staunen beschäftigt und wollte ihren Augen nicht trauen.
»Das ist doch gar nicht möglich! Das ist ja viel zu verrückt, um wahr zu sein. Also träume ich wieder mal!«
»Schön, dass du gekommen bist, Anna«, holte er sie aus ihren gedanklichen Zweifeln und bedachte sie auch heute wieder mit einem warmen, freundlichen Lächeln.
Obschon verwirrt, war sie daneben hingerissen von ihm, genau wie am Tag zuvor. Es gelang ihr nur eine zögerliche Antwort: »Ja, mit Brille, hhm, schön.«
»Mit Brille? Mensch, Anna, blöder geht’s wohl nicht!«
Viktor sah verdächtig danach aus, als müsste er sich ein Lachen verkneifen. Dann schmunzelte er. Allem Anschein nach amüsierte er sich köstlich über ihre Erwiderung, was sie aus irgendeinem unerfindlichen Grund maßlos ärgerte.
»Was?«, fragte sie daher etwas zu laut.
Er schien unbeeindruckt. »Nichts«, gab er zurück. »Du siehst heute nur wieder so hübsch aus, besonders mit deiner Brille. Die steht dir wirklich gut.«
»Na, wenn du meinst.« Sie glaubte ihm kein Wort, schon gar nicht das mit der Brille.
Viktor neigte den Kopf zur Seite und musterte sie. »Du klingst ziemlich gereizt. Habe ich was Falsches gesagt? Bist du wieder traurig?«
Ja, da gab es so einige Punkte, die ihrer Gereiztheit Schwung gaben, dachte Anna: Die Sorge um Theresa. Der immerwährende und anstrengende Streit mit Jens. Der derzeit missmutige Vater. Die stets sorglos anmutende Schwester. Noch dazu nannte Viktor Anna hübsch. So ein Stuss! Und schlussendlich hatte sie in der vergangenen Nacht kein Auge zugetan. Aus all diesen Gründen war sie tatsächlich ein wenig gereizt.
Ohne weiter zu überlegen, sprudelte es einfach aus ihr heraus: »Nein … Ja …« Sie räusperte sich. »Okay, pass auf: Meine Mutter, die ist krank. – Und wer soll hübsch sein, ich? Ach, und was hast du nur andauernd mit meiner Brille? Wieso interessiert dich das überhaupt? Wieso interessierst du dich überhaupt für mich? Ich verstehe das einfach nicht!«
Ihre Müdigkeit war wie weggeblasen. Jetzt war sie einfach nur aufgebracht, so sehr, dass sie wusste, ihre Augen würden funkeln. Diese ganze Situation zu Hause und Viktor, seine geheimnisvolle Art, seine Worte, aber auch ihre unglaubliche Freude über eben genau diese Worte – all das, all dieses Hin und Her machten sie noch verrückt.
»Hey, nicht.« In Viktors Stimme schwang ein mitfühlender Unterton. Dabei überraschte er sie, indem er mit einer sehr schnellen Bewegung näher an sie heranrückte und ihre Hand nahm.
Sofort spürte Anna wieder diese eigenartig wohlige innere Sonne: hell, warm, tröstend. Ihre Zweifel daran, er würde sie für hübsch halten und sogar mögen, milderten sich, was sie wiederum verunsicherte. Auch die Frage, wie das alles überhaupt sein könnte, brachte sie aus dem Tritt. Trotzdem wurde sie ruhig.
Ohne zu bemerken, dass ihr eine Träne die Wange entlanglief, schaute sie ihm in die tiefblauen Augen. Vorsichtig nahm Viktor die Träne mit seiner Fingerspitze auf und hielt sie ins Licht. Sie glitzerte in der Sonne wie ein funkelnder Diamant.
»Selbst deine Tränen sind besonders«, flüsterte er.
Nun stockte ihr der Atem. Sie konnte einfach nicht mehr richtig Luft holen. Schnell ließ er ihre Hand los und blickte sie zunächst ernst an, um sie dann übergangslos mit einem Lächeln zu bedenken.
»Nein!«, rief er munter aus. »Schluss mit Trübsal blasen! Wie wäre es mit einem kleinen Spaziergang? Der würde dir gefallen und dich auf andere Gedanken bringen, könnte ich mir vorstellen. Dieser Wald ist zwar nicht gerade der größte, aber ich glaube, so manches schöne Plätzchen ist dir bestimmt entgangen. Was meinst du?«
Er hatte es tatsächlich geschafft. Anna fühlte sich erheblich wohler und schmunzelte nun belustigt in sich hinein. Schließlich kannte sie hier so gut wie jeden Baum und Strauch. »Na schön«, erwiderte sie trotzdem ernst und wollte rasch aufstehen, hatte allerdings schon wieder weiche Knie und wieder half Viktor ihr auf.
Sie gingen den ihr bekannten verschlungenen schmalen Pfad weiter hinauf.
»Der ist gut! Als wenn der sich hier besser auskennen würde als ich!«
Für den Bruchteil einer Sekunde trat Viktor einen Schritt vor und murmelte in einer eigenartigen, für Anna unverständlichen Art leise vor sich hin. Nach einer weiteren Biegung kam ihr auf einmal alles so fremd und eigenartig vor, dass sie stutzte.
»Ist was?«, wollte Viktor in unbeteiligtem Ton wissen.
»Nein, nichts Besonderes«, entgegnete sie trocken und ärgerte sich gleichzeitig, weil sie wieder einmal ihre Standardantwort gegeben hatte.
Während sie noch ein Stück liefen, verrenkte sich Anna fast den Hals, als sie sich neugierig umsah. So bemerkte sie zunächst nicht, wie Viktor immer wieder verstohlen zu ihr herüberschielte und sich über ihre augenscheinliche Verwirrung zu amüsieren schien.
»Ich hab ja gesagt, dass du nicht alles hier im Wald kennst, Anna.«
Sie antwortete nicht, sondern betrachtete weiterhin die Umgebung. Die Bäume hier wirkten irgendwie anders: größer, höher, dichter, als sie es gewohnt war. Dennoch war alles hell und luftig und dabei so seltsam still. Anna wusste einfach nicht, was sie davon halten sollte.
Noch bevor sie die Gelegenheit erhielt, eingehend darüber nachzudenken, nahm Viktor sie bei der Hand und zog sie blitzschnell durch ein dichtes Gebüsch.
Da tat sich eine Lichtung vor ihnen auf, viel größer als ihre, sehr viel größer, dazu einfach nur traumhaft schön.
Mitten hindurch plätscherte munter ein Bach. Schillernde Schmetterlinge flatterten über bunte Blumen, die auf einer Wiese gemeinsam mit Farnen, Moosen und Flechten wuchsen.
Anna machte große Augen. Es fiel ihr außerordentlich schwer, alles auf einmal zu erfassen:
Diese spektakuläre Lichtung mit einer Pflanzenvielfalt, wie sie ihres Erachtens hier eigentlich gar nicht wachsen dürfte.
Dieses Licht, das – wieder fiel Anna nicht nichts Besseres ein – anders war. Es strahlte. Nicht gleißend, sondern wie im Morgendunst. Es wirkte diffus und transparent, gleichzeitig aber gläsern hell.
Dann dieser Himmel, der sich in einem Blau über ihnen spannte, das sie so noch nie gesehen hatte.
All das zusammen – Pflanzen, Farben, Licht und Himmel – gab sich so lebensfroh und freundlich, fügte sich zu einem fremden und doch vertrauten und eben spektakulären Bild.
Fasziniert ließ Anna Viktors Hand los, ging langsam zu dem Bach, setzte sich am Ufer ins Gras und schaute in das glasklare Wasser, das unter ihr gurgelte und gluckste. Darin entdeckte sie zahlreiche kleine Fische.
»Das ist eindeutig zu viel für mich«, flüsterte sie matt. »Es kann ja nur ein Traum sein. So etwas gibt’s doch nicht.«
Viktor war ihr gefolgt, ließ sich neben ihr nieder, pflückte eine kleine Butterblume und spielte gedankenverloren damit. Anna gewann den Eindruck, als würde die gelbe Blüte bei seiner Berührung wachsen und dabei pulsierend leuchten. Verstört starrte sie erst die Blüte, dann ihn an, sodass er die Blume schnell zur Seite legte.
Sie atmete tief durch. »Okay, hör zu. Ich finde, du könntest mir allmählich ein paar Antworten geben.«
»Ich dachte halt nur, dir würde es hier gefallen, Anna. Ich dachte, so könnte der Ort aussehen, an dem du bist, wenn du träumst und redest. Deshalb wollte ich dir das hier zeigen«, erklärte er leise. »Außerdem hast du mich doch noch überhaupt nichts gefragt.«
»Viktor, ich bitte dich!«, empörte sie sich, redlich bemüht, die Fassung zu wahren. »Okay, wie wär’s damit?«, meinte sie. »Wer bist du? Wo kommst du her? Wie machst du das alles? Träume ich?«
»So viele Fragen, Anna?« Er legte den Kopf schief. »Na ja, du träumst nicht, glaub mir. Du bist hier, und zwar mit mir. Ich bin Viktor, wie du bereits weißt. Außerdem mache ich doch gar nichts. Was meinst du denn damit? Ich zeige dir doch nur den ganzen Wald. – Fast«, fügte er noch kleinlaut hinzu.
»Nein, Viktor, nein!«, rief sie nun wieder erregt aus. »Das hier, das ist einfach nicht normal. Es ist zwar wunderschön, keine Frage, aber hier stimmt doch was nicht. Es ist wie ein Traum, der sich allerdings überhaupt nicht wie ein Traum anfühlt. Das geht aber doch gar nicht. Das ist total verrückt!«
»Anna, bitte.«
»Nein, ich möchte gehen. Ich möchte sofort nach Hause.« Ihr fröstelte trotz der sonnig warmen Atmosphäre dieses seltsamen Ortes.
Viktor sah sie forschend an. »Anna, ich bringe dich gerne zurück. Aber wäre es wohl zu viel verlangt, wenn du mir vorher ganz kurz zuhören würdest?«
Sein Blick war derart flehend, dass sie auf der Stelle seufzend nickte und damit seine Miene deutlich aufhellte. Er schien von innen heraus zu leuchten, jedenfalls sah es in Annas Augen so aus.
Erneut nahm er die Blume zur Hand, so, als würde sie ihm helfen, die richtigen Worte zu finden. Und wieder schwoll sie in seiner Hand strahlend an.
Anna platzte fast vor Erwartung. Stocksteif, mit durchgedrücktem Rücken saß sie neben ihm.
Verlegen blickte er zu Boden, fing dann langsam an zu sprechen: »Du hast natürlich recht. So ganz normal ist das für dich wohl nicht.« Er hob den Kopf und sah sie durchdringend an. »Für mich aber schon. Und du träumst nicht, hörst du, Anna. Du träumst das nicht. Das hier, das ist meine Welt. Hier gehöre ich hin, ich und meine Schwester Viktoria. Dies ist unser Wald, unser Land, unser Leben.«
Anna riss die Augen auf. »Unser Land? Unser Leben? Was meinst du denn damit?«
»Also, das ist so.« Er zögerte, als suchte er wieder nach den richtigen Worten. »Anna, kannst du dir vielleicht vorstellen, dass manche deiner Träume gar nicht soo fantastisch sind, sondern wahr?«
»Hä, was soll wahr sein?« Sie konnte nicht anders. Sie musste einfach dazwischenfragen. »Meinst du etwa so was wie: Es gibt Zauberer und Hexen? Oder Feen und Elfen, Zwerge und Trolle? Vielleicht auch noch Vampire und Werwölfe? Also echt, Viktor. Harry Potter lässt grüßen. Edward und Bella, Gandalf und Frodo und auch Legolas wären begeistert. Aber nicht ich!« Sie war völlig durcheinander. »Ich bin Anna! Ich träume vielleicht von so was, aber ich glaube doch nicht im Ernst, dass es das alles wirklich gibt!«
»Na ja, ganz so ist es ja auch nicht. Nur etwas«, erwiderte er vorsichtig. Auf seinen Wangen tauchte ein Hauch von Rosa auf. »Meine Zwillingsschwester Viktoria und ich.« Er räusperte sich verlegen. »Wir sind …«
»Was, Viktor? Was seid ihr?«
»Wir … Wir sind … Ähm … Tja, wir sind – Halbelfen!« Das letzte Wort stieß er förmlich aus sich heraus. Danach schüttelte er seine Haarpracht, ganz so, als wäre er erleichtert, ja, sogar stolz, es endlich rausgebracht zu haben.
»Hat er Halbelfen gesagt?«
»Halbelfen? Halb Elfe, halb was?«, wollte Anna wissen. Sie hörte sich dabei erheblich ruhiger an, als ihr zumute war.
Wieder einmal schien Viktor ihre Gemütsverfassung zu erkennen. Er legte die Blume beiseite und nahm ihre Hände.
Eine gewaltige Lawine warmen Sonnenlichts durchflutete Anna. Es floss regelrecht in sie hinein, anders konnte sie es nicht beschreiben. Daran verblüffte sie ganz besonders, dass sie sich auf der Stelle beruhigte.
»Halb Elfe, halb Mensch, Anna. Das sind wir«, antwortete er nun gelassen.
»Elfe! Er sagt immer Elfe!«
»Aber, wie ist das möglich? Wie kann das sein?« Jetzt zweifelte Anna doch an ihrem Verstand.
Offenbar entlockte ihr ungläubiges Staunen ihm ein kleines Schmunzeln. »Tja, du musst nur einfach akzeptieren, dass es manche Fabelwesen wirklich gibt.« Er wurde ernst. »Ja, ich weiß, das ist nicht so einfach. Aber versuch es doch bitte, wenigstens ein bisschen, ja? Es macht mir meine weiteren Erklärungen leichter, wenn du nicht so zweifelst und mich nicht anschaust, als sei ich irgendein Biest.«
»Nein, du bist kein Biest«, gab sie hastig zurück. »Tut mir leid, wenn ich mal wieder so bescheuert aus der Wäsche gucke. Ich wollte dich nicht kränken. Ich muss es nur …«
»… glauben, Anna?«
»Ja, hhm, glauben. Das ist schwer. Das ist echt nicht leicht. Aber ich versuche es. Bitte erzähl weiter, ich hör dir zu.«
Anna versuchte, sich ein wenig zu entspannen, auch wenn es ihr unsagbar schwerfiel. Auf keinen Fall aber wollte sie Viktor vergraulen.
So fuhr er weiter fort: »Unser Vater, Vitus, er ist ein Elfenkönig.« Sein Gesicht nahm einen merkwürdigen Ausdruck an, fast so, als hätte er Angst vor seinem Vater. Doch dann hellte sich seine Miene auch schon wieder auf. »Eigentlich heißt er Viniestra Tusterus, erster Sohn der Tustera. Aber alle nennen ihn nur Vitus. Ich glaube, er mag es nicht, wenn man ihn bei seinem vollen Namen nennt. Genau wie unser Onkel. Der heißt nämlich Capiestra Tusterus, zweiter … Na ja, du weißt schon. Er wird Estra genannt.«
»Und eure Mutter?«
»Unsere Mutter hieß Veronika. Sie war ein Mensch. Sie …«
»War? Sie war ein Mensch?«, unterbrach sie ihn.
»Ja, sie starb direkt nach unserer Geburt. Vater konnte ihr nicht helfen.«
»Oh, Viktor, das tut mir furchtbar leid. Das ist schrecklich traurig.«
Er nickte. »Das ist es, Anna. Unser Vater ist seitdem sehr verbittert. Er hat sie abgöttisch geliebt und ist mit dem Schmerz nicht fertiggeworden. Uns hat er zu Estra, seinem Bruder, und dessen Frau Isinis gebracht. Bei ihnen sind wir aufgewachsen.« Als er ihr unglückliches Gesicht sah, fügte er rasch hinzu: »Sehr glücklich aufgewachsen, Anna. Estra und Isinis lieben uns wie ihre eigenen Kinder. Es war schön bei ihnen, wirklich schön. Aber nun sind wir achtzehn Jahre alt und erwachsen. Wir wollen mehr von der Welt, natürlich besonders von der Menschenwelt, sehen und verstehen.«
Viktor sprach nicht weiter. Anna glaubte zu spüren, dass ihn die Schilderungen über seine Eltern mehr bedrückten, als er zu erkennen gab. Sie empfand instinktiv, dass sie ihm heute keine weiteren Fragen stellen sollte. Er wollte anscheinend nicht mehr darüber reden, also beließ sie es dabei. Außerdem hatte sie selbst schon mehr gehört, als sie verdauen konnte.
»Du bist also ein halber Mensch«, stellte sie fest und kicherte. »Das ist doch schon mal was«, rutschte es ihr zudem heraus.
Erst kicherte auch er leise, doch dann begann Viktor schallend zu lachen und riss Anna förmlich mit. Beide saßen sie da und hielten sich die Bäuche, während sie gar nicht mehr aufhören konnten, zu kichern und zu lachen.
»Ja«, stieß er erleichtert aus, als er es endlich konnte, »das ist doch schon mal was, nicht wahr, Anna?«