Читать книгу Sonnenwarm und Regensanft - Band 1 - Agnes M. Holdborg - Страница 13

Halbe Elfen machen keine halben Sachen

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Anna und Jens saßen betrübt im Auto. Nicht im Traum hatten sie damit gerechnet, dass diese Woche so schnell hätte vergehen können und dass sie ihnen sogar Spaß bereiten würde. Doch genau so war es gewesen. Dank Viola! Aus diesem Grunde war ihnen der Abschied schwergefallen.


… »Hey, guckt doch nicht so traurig«, munterte Viola die Geschwister auf. »Das war so eine tolle Woche, die werde ich niemals vergessen. Außerdem hab ich doch eure Handynummern und ihr meine. Also, wir telefonieren, ja?«

Sie umarmte die beiden, drückte ihnen einen kleinen Kuss auf den Mund, schaute zu, wie sie in den weißen Golf stiegen, winkte noch ein letztes Mal und ging fort.

Sie wollte die Fähre zu Fuß verlassen, hatte sie gemeint. Ihr Auto würde ja auf dem Parkplatz stehen, weshalb sie sich noch ein bisschen umschauen könnte. Anna hatte ihr zu erklären versucht, dass es auf dem Anleger nicht viel Besonderes zu sehen gäbe. Aber Viola hatte sich nicht davon abbringen lassen. Und Anna hatte nicht weiter nachgefragt. …


Nun, auf der Rückfahrt, fiel ihr ein, dass sie Viola überhaupt sehr wenig gefragt hatte. Viola hatte auch so gut wie nichts von sich erzählt. Im Nachhinein fand Anna das ziemlich merkwürdig.

Sie kannte nicht einmal Violas Nachnamen. Wusste nicht, wo sie wohnte. Hatte keine Ahnung, ob sie arbeiten ging oder vielleicht studierte und, und, und. Viola hatte nur mal einen Bruder erwähnt, als Anna sich wieder über Jens aufgeregt hatte. Und dass sie achtzehn wäre, hatte sie auf Jens’ Frage hin geantwortet. Das war ihm wichtig gewesen, weil er natürlich keine minderjährige Ausreißerin hatte beherbergen wollen.

Beide hatten Viola sofort geglaubt, nicht mal nach ihrem Ausweis gefragt. Sie sah aber auch zumindest wie achtzehn aus. Warum also hätten sie ihr nicht glauben sollen?

Jetzt allerdings überlegte Anna, warum sie Viola keinerlei Fragen gestellt hatte. Das ärgerte sie, weil sie das daran erinnerte, auch Viktor nur allzu wenig gefragt zu haben.

»Sag mal, Jens«, erkundigte sie sich. »Weißt du eigentlich, wo Viola wohnt oder sonst was über sie?«

»Nee, weiß ich nicht. Ich hab mal kurz versucht, sie auszuquetschen.« Er feixte. »Du kennst mich ja. Aber da hat sie schon wieder irgendwas Witziges gesagt und dann hab ich’s wohl vergessen.« Jens runzelte die Stirn. »Mmh, ist schon komisch, ne? Was meinst du, hat sie vielleicht Dreck am Stecken und ist auf der Flucht?« Er musste lachen und Anna auch.

»Ne, ne!«, rief er aus. »Die kann keinem was tun, niemals. Es sei denn, sie hat einen Polizisten dazu gebracht, sich totzulachen.«

Er gluckste in sich hinein, anscheinend hocherfreut über seinen großartigen Joke, wurde dann aber wieder still.

Anna sah zu ihm hinüber, zu dem ihr so verhassten Bruder. Da saß er, mit seinem kurz und sorgfältig geschnittenen hellbraunen Haar, und starrte konzentriert auf die Straße. Er hatte die ruhigen grauen Augen und die Nase mit dem kleinen Höcker an der Wurzel von Johannes geerbt. Am Strand war Anna aufgefallen, dass sich das jahrelange Fußballtraining nicht gerade negativ auf den Körper ihres Bruders ausgewirkt hatte. Mit seinen ein Meter und neunundsiebzig gehörte er zwar zu den kleineren Jungs unter seinen Freunden, dennoch fand Anna seine Figur durchaus beeindruckend.

»Na ja, wir können sie ja am Handy mal nach all den Dingen fragen«, überlegte sie laut, »und ihr Asyl gewähren, falls das FBI ihr zu dicht auf den Fersen ist.«

Sie lachten und ließen es dabei bewenden. Jens stellte seine Lieblingsmusik an. Als Anna die Melodie mitsummte, verriet sie ihm damit, dass ihr seine Musik durchaus gefiel, was ihm ein kleines Grinsen entlockte, das sie wiederum, ganz entgegen ihren früheren Gepflogenheiten, überhaupt nicht störte. So fuhren sie ohne Zank und Nickeligkeiten Richtung Heimat.

Jeder hing seinen Gedanken nach. Anna konnte regelrecht fühlen, wie ihr Bruder über seine Silvi und Theresa nachdachte, sowie auch sie sich nach Viktor und ihrer Mutter sehnte.

Am Ortseingang ihres Heimatstädtchens sahen sie sich an und Jens begann: »Wir könnten ja noch eben …«

»… bei Mama vorbeifahren, ja«, setzte Anna fort und kicherte verlegen. »Zwei Blöde, ein Gedanke, ha, ha. Das ist ja erschreckend.«

***

Anna klopfte an die Krankenzimmertür, trat dann gemeinsam mit Jens ein und strahlte.

»Hi, Mama!«, rief sie aus, lief schnell zum Krankenbett ihrer Mutter und fiel ihr überglücklich in die Arme.

Jens schlenderte ihr hinterher, grüßte die zwei Bettnachbarinnen seiner Mutter freundlich, die Anna vor lauter Überschwang übersehen hatte, und gab Theresa einen dicken Schmatzer auf den Mund.

»Du siehst gut aus, Mama«, lobte er. Das stimmte. Jedenfalls etwas, fand Anna. »Sie haben dich hier offensichtlich anständig behandelt. Kommst du trotzdem bald nach Hause oder gefällt es dir hier so gut, dass du mit uns nichts mehr zu tun haben willst?«

Beide schauten ihre Mutter erwartungsvoll an.

»Mir geht es schon viel besser. Danke. Natürlich würde ich liebend gern für immer hierbleiben.« Sie schmunzelte. »Aber sie wollen mich am Montag wegen guter Führung entlassen. Tja, dann muss ich wohl zu euch zurück. So was Blödes aber auch.«

Anna war erleichtert. »Das ist ja toll, Mama. Wir freuen uns ganz riesig, nicht wahr, Jens?«

»Na klar, Schwesterherz.«

Amüsiert beobachtete sie, wie Theresa bei dem Wort »Schwesterherz« erstaunt die Brauen hochzog. Mit einem weiteren erstaunten Stirnrunzeln verfolgte die Mutter aufmerksam, was ihre Kinder, beinahe ganz ohne Zankerei, vom Inselurlaub zu berichten hatten. Dass sie einfach ein fremdes Mädchen im Haus aufgenommen hatten, ließ sie zwar unkommentiert, aber ihr Gesichtsausdruck verriet Anna deutlich, dass ihr das nicht so recht behagte.

***

Um Punkt sechzehn Uhr dreißig schloss Jens die Wohnungstür auf.

»Da wären wir wieder.« Er sah Anna fragend an. »Tja, und was machen wir jetzt? Silvi kommt erst in einer Stunde her.«

»Wie, was machen wir jetzt?«, wollte Anna wissen.

»Ja, äh …«, stammelte er und wurde rot. »Ich hab mich wohl schon so daran gewöhnt, irgendwas mit dir gemeinsam zu unternehmen.« Jens räusperte sich verlegen. »Na ja, am besten leg ich mich noch ein bisschen hin. War schließlich ’ne verdammt lange Fahrt.«

Anna lächelte. »Kannst du mir eben deine schmutzige Wäsche geben? Dann schmeiß ich noch schnell ’ne Maschine an, bevor ich gehe.«

»Bevor du gehst? Wo willst du denn jetzt noch hin?« Jens sah Anna misstrauisch in die Augen.

»Jens, bitte!« Sie funkelte ihn wütend an.

Er hob die Arme, so, als wollte er sich ergeben. »Iss ja schon gut. Aber irgendwann musst du mir mal erzählen, wohin du immer verschwindest, Anna, ja?«

»Träum weiter! Ich bin doch nicht blöd!«

»Hhm, vielleicht irgendwann«, erwiderte sie.

Sie sortierte die Wäsche, füllte eine Ladung durchs Bullauge ein, gab Waschmittel dazu und stellte die Maschine an. Dann eilte sie hinaus. Ohne ein Wort und ohne einen Blick in den Spiegel zu werfen. Sie war schrecklich aufgeregt.

»Meine Güte! Ich bin ganz hibbelig! Ich hätte noch mal aufs Klo gehen sollen!«

Ihre Birke strahlte in dem geheimnisvollen, wunderbaren Sonnenlicht, so wie der junge Mann, der lässig daran gelehnt stand. Ihr Herz wurde bei seinem Anblick ganz warm und ihr ganz heiß.

»Viktor!«, rief sie atemlos aus. »Viktor!« Sie fiel ihm um den Hals und küsste ihn so stürmisch, dass er schwankte.

Der Kuss dauerte unendlich lange. Doch dann löste sich Viktor von ihr, schob sie etwas von sich und musterte sie mit glühenden Augen.

Er zeigte seine unwiderstehlichen Grübchen. »Unglaublich, Anna, du bist in einer Woche noch schöner geworden und du hast Farbe gekriegt. Das steht dir ausgezeichnet.«

»Du bist schön, Viktor. Ich bin … Ich weiß nicht, aber wohl kaum schön.«

Nun fiel ihr ein, dass sie vor lauter Aufregung nicht einmal einen kurzen Blick in den Spiegel geworfen hatte, und befand deswegen, sicherlich eher das Gegenteil von schön zu sein.

Viktor wirkte ein wenig verärgert über Annas Bemerkung. Seine Stimme war nicht mehr ganz so sanft.

»Meine liebe Anna«, erklärte er in ernstem Ton, »würdest du bitte damit aufhören, so zu tun, als könnte ich schlecht sehen? Ich weiß, was ich sehe, hörst du? Du stehst schließlich direkt vor mir.«

Mit milder Stimme fuhr er fort: »Und jetzt komm wieder her. Ich habe nämlich keine Lust, mich mit dir über Tatsachen zu streiten.« Er zog sie eng an sich, um sie leidenschaftlich zu küssen.

Sie sanken auf ihr Moosbett und konnten nicht voneinander lassen.

»Anna.« Viktor stöhnte leise.

Sie nahm das Hämmern seines Herzens deutlich wahr. Es raste genauso wie das ihre.

Heute würde sie ihm mit Sicherheit keine Fragen stellen. Was für Fragen auch? Annas Kopf war leer und trotzdem komplett angefüllt. Mit ihm! Sie konnte nicht denken. Sie konnte nur verlangen und geben und wollte immer mehr. Von beidem.

Sie spürte, dass auch er außer Kontrolle geriet, weil sich nun auch sein Atem beschleunigte. Trunken von der Leidenschaft und dem süßen Verlangen, das Viktor in ihr auslöste, sah sie nur noch durch einen Schleier, wurde ebenso wild und ungestüm wie er. Sie wollte ihn. Jetzt! Sofort!

Es war berauschend, seine Hände auf ihrer Haut zu spüren, seine Küsse zu schmecken und die Gänsehautschauer zu genießen, die er mit seiner Zärtlichkeit über ihren Rücken jagte.

»Halbe Elfen machen keine halben Sachen!«

Wie in einem Traum nahm sie wahr, dass er sie immer tiefer ins Moos drückte und ihr sein Duft, vermischt mit dem des Sommerwaldes, wie ein süßes, schweres, erregendes Parfum in die Nase stieg.

»Hhm, Viktor und der Wald! – Der Wald?!«

Der Schleier zerriss jäh, als ihr bewusst wurde, wo sie sich befanden, und sie endlich registrierte, was sie dort taten. Das war ihrer Meinung nach weder die richtige Zeit noch der richtige Ort.

Nun sah sie wieder klar, beendete den süßen Kuss und lächelte ihn liebevoll an.

»Viktor, nicht, bitte. Das geht nicht. Wir können nicht – nicht so, nicht hier«, flüsterte sie.

Viktor schluckte schwer und atmete dann noch ein paarmal kräftig durch, bevor er überhaupt etwas hervorbrachte. »Tut mir leid.«

»Mir auch. Glaub mir. Mir auch.«

»Ich verliere total den Verstand, wenn ich mit dir zusammen bin. Dann geht alles mit mir durch. Du bist noch viel zu jung und du sollst mich nicht so sehen.« Er raufte sich die Haare. »Verflucht! Warum habe ich mich nicht im Griff?«

»Stopp, stopp, stopp! Ich soll dich so nicht sehen? Was soll das denn?«

Zornig richtete sie sich auf, ehe sie weitersprach: »Ich sehe nur dich, also absolut nichts Schlimmes! Und ich will noch viel mehr davon sehen! Und hörst du wohl endlich auf, mein Alter ins Spiel zu bringen? Ich bin eine Frau, kein kleines Kind! Ich will es, genau wie du, verstehst du? Ich will haargenau dasselbe, auch wenn es vielleicht ein bisschen schnell geht und wir uns erst so kurz kennen. Aber das ist mir egal! Klar soweit? Es ist halt nur … Ich bin tatsächlich zu jung.«

Sie funkelte ihn an, als er ihr offenbar triumphierend zustimmen wollte.

»Nein, guck nicht so«, sagte sie hastig. »Ich bin zu jung für Kinder, klaro? Ich will vorbereitet sein und keine Angst haben, schwanger zu werden. Das verkrampft mich. Ich will aber keinen Krampf.«

Sie schaute ihn eindringlich an, stellte sich vor, wie helles Blau sich in dunkles bohrte. Noch nie hatte sie derart deutlich über sich und ihre Gefühle gesprochen. »Ich will dich, Viktor, und zwar mit Haut und Haaren.«

»Tja, wenn das so ist, brauche ich mich wohl nicht zu entschuldigen.« Es gelang ihm ein kleines unschuldiges Lächeln. »Ich möchte dich aber nicht bedrängen, Anna. Das ist mir wichtig. Vielleicht sollten wir es ein bisschen langsamer angehen lassen.«

»Wem von uns beiden sollte das denn wohl gelingen?«

»Wem von uns beiden sollte das denn wohl gelingen?« Sie hatte einfach genau das gesagt, was sie gerade gedacht hatte und war deswegen ein wenig verlegen.

Er lachte auf. »Ja, das wird schwer. Das haben wir wohl gerade beide zur Genüge demonstriert.«

Er nahm sie zärtlich in den Arm. Sie legte den Kopf an seine Brust und er sprach in einem geschäftsmäßigen Ton: »Hast du noch ein halbes Stündchen Zeit, zum Zurückhaltung-Üben? Erzähl mir von deiner Schreckenswoche mit dem fürchterlichen Jens.«

… Und sie erzählte ihm alles.

Sonnenwarm und Regensanft - Band 1

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