Читать книгу Sonnenwarm und Regensanft - Band 1 - Agnes M. Holdborg - Страница 12
Sonne und Wolken
Оглавление»Was für eine wunderschöne Insel«, seufzte Viola und rekelte sich behaglich in einem winzigen dunkelgrünen Bikini auf ihrem bunten Strandtuch in der Sonne. Ihr kurzes rotes Haar stand frech in alle Richtungen ab und die grünen Augen waren hinter einer riesigen Designersonnenbrille mit sehr dunklen Gläsern und weißem Rand versteckt.
»Mmh, find ich auch.«
Annas Bikini war nicht so klein wie der von Viola, das traute sie sich nicht. Auch wenn er mit seinen Farben rosa und hellblau eigentlich nicht ganz ihrem Geschmack entsprach, stand er ihr trotzdem recht gut, meinte sie. Jens hatte sie deswegen jedenfalls nicht angemeckert.
Sie legte sich träge auf den Rücken und schaute Viola blinzelnd an. Anna beneidete sie um die Modelfigur, befand Viola dann aber für viel zu nett, als dass sie sich über so etwas Gedanken machen sollte. Wieder blinzelte sie gegen die blendende Sonne.
»Du solltest besser auch deine Sonnenbrille aufsetzen, Anna.«
»Ach, weißt du, ich bin eigentlich froh, mal keine Brille auf der Nase zu haben. Da sehe ich nämlich vielleicht ein bisschen anders aus.«
Viola verzog das Gesicht zu ihrem typischen strahlend warmen Lächeln, was Anna stets ein wenig seltsam vorkam und deshalb hin und wieder irritierte.
»Anna, deine Brille steht dir echt gut, auch die Sonnenbrille. Los, setz sie auf. Das ist viel besser für deine Augen. Nun mach schon.«
Sie sollte sich ernsthaft fragen, wo sich diese ganzen Brillenfetischisten früher allesamt versteckt gehalten hatten, überlegte Anna amüsiert. Dann stöhnte sie laut auf, so, als würde ihr größte Qual angetan, gehorchte aber und schob sich die Sonnenbrille mit demonstrativ angewiderter Miene auf die Nase.
Viola gluckste: »Du bist echt ’ne Marke, Anna.« Sie wechselte zu einem Flüstern: »Vorsicht, da kommt Jens. Ich glaube, der führt was im Schilde.«
***
Jens stieg aus den schäumenden Meeresfluten und überlegte, wie er Anna und Viola ein bisschen »erfrischen« könnte. Also fragte er kurzerhand einen kleinen Jungen, ob er sich mal eben dessen Eimerchen ausleihen dürfte. Während der Zeit beobachtete er die beiden Mädels und freute sich diebisch darüber, dass die zwei im Gespräch vertieft waren und ihm so gut wie keine Beachtung schenkten.
Demzufolge war es ihm ein Leichtes, seinen nassen Plan ungehindert in die Tat umzusetzen.
Die Fuhre Wasser verfehlte ihr Ziel nicht. Ganz im Gegenteil. Er hatte gleich alle beide erwischt. Und das wirklich gut!, lobte er sich stolz.
»Igitt, Jens, du Vollidiot! Ich hatte mich gerade eingecremt!«, schrie Anna ihn an. Sie sprang auf und schüttelte sich wie ein nasser Hund das Wasser von der Haut.
Viola aber lachte fröhlich. Auch sie hatte ja eine ordentliche Ladung Nass abbekommen, steckte jedoch Anna mit ihrem Gelächter schlussendlich an.
Dieses Gelächter wiederum verwirrte Jens, besonders das seiner Schwester. Er hatte Anna in den vergangenen drei Tagen des Öfteren ärgern wollen, doch es gelang ihm einfach nicht. Immer fing sie letztlich an zu lachen und verleidete ihm damit den ganzen Spaß.
Früher hätte sie bei jeder Kleinigkeit geflucht, geheult, wäre zornbebend weggerannt, hätte Türen zugeschmissen oder so etwas in der Art. Aber seit sie hier auf der Insel war, hatte sie recht oft gute Laune und ließ sich auf seine Ärgerspielchen kaum ein.
Na ja, nicht immer war sie gut gelaunt, das merkte er ihr an. Manchmal, da schaute Anna sehr nachdenklich, gar trübsinnig drein. Sie war dann so bedrückt, dass er schon begann, sich Sorgen um sie zu machen. Man stelle sich vor: Er sich Sorgen um Anna machen!
Violas Gegenwart jedoch stimmte seine Schwester offensichtlich heiter, so wie ihn selbst. Er vermisste Silvi und die Sorge um seine Mutter war auch allgegenwärtig. Dennoch schaffte es Viola stets aufs Neue, ihn abzulenken und zum Lachen zu bringen.
Jens dachte darüber nach, als er sich abtrocknete, neu mit Sonnenmilch einrieb und daraufhin auf seinem Strandtuch ausstreckte. Ihm kam dabei die Anreise in den Sinn. Annas Blick auf der Fähre, ehe sie wutentbrannt auf das Autodeck gestürmt war:
… Er war ihr hinterhergeschlendert. Allerdings in großem Abstand, damit sie ihn nicht bemerkte. Ihn hatte das schlechte Gewissen gepackt, weil er mit seinen Provokationen vielleicht doch ein bisschen zu weit gegangen war. Und das, obwohl ihn seine Mutter noch vor ein paar Tagen eindringlich ins Gebet genommen hatte.
Jens rief sich ins Gedächtnis, wie er Anna auf dem Autodeck nachgegangen war, was er dabei gedacht hatte und wie ihm unterdessen Theresas Ermahnung eingefallen war:
»Jens, sie ist fast siebzehn und kein kleines Kind mehr. Außerdem hat sie ein weiches Herz, das deine ständigen Sticheleien nicht verträgt. Du tust ihr andauernd weh. Hör auf damit. Schau sie dir lieber mal genauer an. Sie ist nämlich ausgesprochen hübsch geworden.«
Ihm fiel wieder ein, wie er seine kleine Schwester ganz unerwartet mit anderen Augen gesehen hatte, so wie sie da vor ihm hergegangen war und sich dann an die Reling in die Sonne stellte:
»Hübsch? Anna ist doch nun wirklich nicht hübsch«, murrte er in sich hinein.
Aber dort auf dem Autodeck, da glänzte ihr wehendes langes Haar hell in der Sonne und sie bewegte sich irgendwie anmutig.
»Okay, schöne Haare hatte sie ja schon immer, aber sie ist doch sonst eher ein Trampel, ein bisschen rund und linkisch. Hhm.«
Doch nun wirkte sie überhaupt nicht rund, sondern eher zierlich, beinahe grazil.
Überrascht beobachtete er, wie Anna ihre Brille mit einer modernen Sonnenbrille tauschte und sich ihr Gesicht von der Sonne bescheinen ließ.
»Tja, hab sie mir wohl lange nicht mehr richtig angeguckt. Hässlich ist sie jedenfalls nicht. Selbst die große, attraktive Rothaarige da vorne sieht nicht besser als Anna aus.«
Er schüttelte ungläubig den Kopf und staunte. »Das gibt’s doch gar nicht. Anna sieht tatsächlich gut aus. Zum Glück kann sie meine Gedanken nicht hören. Gott, wär das peinlich«, dachte er. »Trotzdem werde sie weiterhin ein klein wenig ärgern. Das macht einfach viel zu viel Spaß.« …
Auch jetzt schüttelte Jens ungläubig den Kopf, als all diese Erinnerungen an seine Schwester in ihm aufstiegen. Dann tat er seine Grübeleien ab, streckte sich noch einmal gemütlich auf dem Badelaken aus und nickte ein.
***
»Wir sind schon drei Tage hier«, meinte Jens, als sie mit den Leih-Fahrrädern am Haus ankamen, »und noch gar nicht ausgegangen.« Er grinste auf die ihm eigene Art. »Was denkt ihr, Mädels, sollen wir heute Abend von der Strandbar aus den Sonnenuntergang genießen und dabei ein bisschen was trinken? Ich geb auch ’ne Runde aus.«
Verschmitzt schaute er Viola und Anna an. Er dachte wohl, sein Angebot wäre unwiderstehlich, aber Anna winkte dankend ab.
Viola hingegen erwiderte lächelnd: »Warum nicht? Gibt es da auch was anderes als Biertje? Das ist nämlich nicht ganz so meins. Und die erste Runde geht auf mich.«
Sie bedachte die beiden mit dem ganz speziellen warmen Blick, der Anna schon mehrmals aufgefallen war und ihr seltsam vertraut vorkam.
»Ich mache uns jetzt erst mal eine Kleinigkeit zum Abendessen. Schließlich haben wir die ganzen Sachen ja nicht umsonst eingekauft und hierher geschleppt. Und dann fahren wir noch mal los, ja?«
Jens war sofort Feuer und Flamme. Das allein bot Anna bereits Grund genug, dagegen zu stimmen.
»Nö, ich würde eigentlich lieber …« Viola neigte den Kopf zur Seite und blickte Anna freundlich an. »Äh, ach, was soll’s. Warum eigentlich nicht?«
»Verdammt!«
***
Wider Erwarten befand Anna den Abend dann doch für richtig nett. Sie saßen auf der großen rundum verglasten Terrasse der Strandbar in bequemen Lounge-Sesseln und schauten gebannt aufs Meer.
Es war ein spektakulärer Anblick, wie die Sonne sich bedächtig senkte, alles in ein rosafarbenes Licht tauchte, dann den Horizont küsste, um damit Himmel und Meer miteinander zu verschmelzen.
Bei dem fantastischen Bild stockte Anna der Atem. Sie wünschte sich schmerzlich, Viktor könnte bei ihr sein und diesen höchst romantischen Augenblick mit ihr teilen.
Sie tranken ihr letztes Glas aus. Mineralwasser. Nur Jens hatte sich ein paar Bierchen gegönnt. Dann radelten sie gemütlich zurück, wobei der Leuchtturm sie im steten Rhythmus in seinen hellen Lichtkegel eintauchte und für einen kurzen Moment umschloss.
Dieses Licht erinnerte Anna an Viktor und seine Sonne, was eine weitere tiefe Sehnsucht nach ihm auslöste. Sie vermisste ihn so sehr und fragte sich, wo er jetzt wohl war.
Unvermittelt fiel ihr ein, ihn nicht einmal nach seiner Telefonnummer oder dergleichen gefragt zu haben. Nach irgendetwas, wodurch sie ihn hätte erreichen können. Sie hatte sich nicht nach seiner Adresse erkundigt. Wie konnte man so was eigentlich vergessen?, schalt sie sich erbost.
Schlagartig landete Annas Laune im Keller. Das Sehnen, das schmerzliche Verlangen nach Viktor nagten an ihr. Auch die Träume halfen ihr nicht darüber hinweg. Sie hatte zwar jede Nacht von ihm geträumt, aber stets nur ein wenig, viel zu kurz und schon gar nicht so, wie sie es sich gewünscht hatte. Zudem schien er währenddessen irgendwie weit weg zu sein. Wie ein Hauch, nur zu erahnen.
Am Haus angekommen sprang sie vom Rad, stellte es unwirsch an die Hauswand, schloss es ab und rannte ohne ein Wort schnurstracks ins Haus, um dort direkt in ihr Zimmer zu verschwinden.
Sie hatte den beiden nicht einmal eine gute Nacht gewünscht, weil sie nur noch allein sein, sich ihren traurigen Gedanken hingeben und eventuell ein paar Tränchen vergießen wollte.
Nach einer Weile klopfte es sachte an die Tür. Viola trat ohne abzuwarten ein und kam zu Anna ans Bett.
»Ich wollte dir nur kurz gute Nacht sagen«, erklärte sie. Danach beugte sie sich zu Anna, nahm sie sanft in den Arm und gab ihr einen kleinen Kuss auf die Wange. »Ich bin so froh, dass ihr mich mitgenommen habt. Danke dafür«, fügte sie noch hinzu.
Lächelnd ging sie wieder hinaus und schloss leise die Tür hinter sich.
Die kurze Umarmung hatte Anna gutgetan. Sie war erstaunt darüber, wie schnell sie Viola ins Herz geschlossen hatte.
Mit diesem Gedanken schlief sie ein.
***
Viktoria stand in ihrem Zimmer, das direkt neben dem von Anna lag. Es war zwar schon weit nach Mitternacht, aber sie fand einfach keinen Schlaf. Stattdessen schaute sie nachdenklich durch den wehenden Organza zum Fenster hinaus auf einen dunklen Wolkenberg, der sich am mondhellen Samtnachthimmel auftürmte und sich unaufhaltsam näher schob.
»Das Wetter ändert sich«, überlegte sie und versuchte unterdessen weitestgehend emotionslos, den vergangenen Tag Revue passieren zu lassen.
Erst vor ein paar Minuten hatte sie mit Viktor telefoniert, ihm in knappen Worten davon berichtet. Dabei musste sie sich kurzfassen, möglichst sachlich bleiben, nur eben sagen, dass alles okay war. Es durften ja keine Emotionen mitschwingen. Das fiel ihr ausgesprochen schwer, weil sie ihren Bruder sehr liebte. Außerdem begann sie, auch Anna und Jens zu mögen. Das machte die Sache nicht gerade leichter.
Die dünne Gardine bewegte sich, obwohl sie das Fenster geschlossen hatte. Und obwohl außer den Wolken noch nichts davon zu sehen war, konnte sie den herannahenden Sturm bereits auf ihrem Gesicht spüren. Er hauchte ihr zart durchs Haar, das sie nur Viktor zuliebe abgeschnitten hatte. Nur für diese Aktion.
»Das muss Geschwisterliebe sein«, seufzte sie wehmütig, als ihr wieder einfiel, wie die lange dunkle Haarpracht Strähne für Strähne zu Boden gefallen waren.
Allerdings fand sie die neue Frisur ziemlich hübsch und gar nicht so unpraktisch. Sie stand ihr außerdem ganz gut. Nur die Haarfarbe, die war so gar nicht ihr Fall. Erfreulicherweise könnte sie die ja bald wieder ändern, dachte sie schmunzelnd.
Sie hatte die grünen Kontaktlinsen herausgenommen und genoss das freie Gefühl in ihren jetzt dunkelblauen Augen.
Als plötzlich ein Gewitterblitz ihr dunkles Zimmer für einen Wimpernschlag mit flackerndem Licht anfüllte, blinzelte sie. Ansonsten blieb sie still stehen. Ohne das geringste Anzeichen von Schrecken oder Furcht.
Selbst jetzt, in diesem Zimmer, wo sie allein war und ein dröhnender Donner dem Blitz nachhallte, behielt sie ihr gelassenes Gesicht bei. Nichts sollte etwas von ihrem Schmerz verraten und von den vielen Sorgen, die sich allesamt um Viktor, ihren Vater und um ihre unerfüllte große Liebe drehten. Vielleicht war sie ein wenig müde und blass, doch mehr gab sie auch in diesem Moment der Einsamkeit nicht preis. Sie stand nur reglos da. Barfuß, in einem schlichten dünnen Nachthemd, das sich mit der Gardine im Einklang bei jedem Windhauch bewegte.
Doch als das Unwetter blitzartig, mit aller Macht gegen das Fenster schlug, ihr Regen, Sturm und Kälte entgegenspie, erschauderte sie und wich zurück.
Dann schüttelte sie den Kopf. »Schlechtes Wetter an der Nordsee ist nun wirklich nichts Besonderes«, meinte sie und zog die schweren Vorhänge vor. Jetzt sollte sie versuchen, wenigstens ein bisschen zu schlafen.
***
In dieser Nacht fand Vitus wieder einmal keine Ruhe, weshalb er sich zum Strand begab, um dort seinen Grübeleien nachzuhängen.
Etwas beunruhigte ihn, aber er wusste einfach nicht, was es war. Die ganze Nacht stand er am Meer und dachte nach über die vielen widersprüchlichen Signale, die er empfing und nicht zu deuten wusste. Dabei kamen ihm seine Kinder in den Sinn: Viktor und Viktoria.
Diese Namen! Bei dem Gedanken daran zuckte es beinahe belustigt um seine Mundwinkel. Veronika hatte die Namen ausgesucht. Ihr hatten sie so sehr gefallen und nur das war wichtig für Vitus gewesen. Viktor oder Viktoria, je nachdem, ob Junge oder Mädchen. Sie hatten ja nicht gewusst, dass sie beide Namen brauchen würden.
Veronika war nie zum Arzt gegangen, aus Furcht, er könnte bei dem Kind etwas »Nichtmenschliches« entdecken. So stellten sie erst bei der Geburt fest, dass es zwei Kinder waren.
Aufs Neue spukten die immer gleichen Fragen in ihm herum: Warum nur hatte er das nicht vorher schon gespürt? Warum hatte er nicht darauf bestanden, dass sie zu einem Arzt der Menschen ging? Hätte der Veronika vielleicht retten können? Was wäre, wenn? Immer wieder wanden sich diese Fragen in einer Endlosschleife durch seinen Kopf. Seit nun mehr als achtzehn Jahren!
Bei der Erinnerung verdunkelte sich sein Blick. Grelle Blitze schossen aus seinen Augen, um Sturm, Regen und Donner zu holen. Das Unwetter sollte seinen Geist reinigen. Doch dieses Mal half es nicht. Die Gedanken an die vergangenen Zeiten und an seine verlorene Liebe quälten ihn weiterhin.
Außerdem fühlte er etwas Bedrohliches auf sich zukommen. Er nahm deutlich wahr, dass etwas geschehen würde, konnte aber nicht erkennen, worum es sich dabei handelte. Diese alarmierende Ungewissheit ließ ihn an seinen Kräften zweifeln.
Bis zum frühen Morgen haderte er mit sich, seinem Groll und Argwohn. Dann zog er die bitteren Gedanken aus den Wolken heraus und klärte seinen Geist, denn er hatte endlich eine Entscheidung getroffen.
Es war höchste Zeit, das wusste er. Er musste die Gefilde verlassen, um zu handeln.
Zuerst würde er die dunklen Kräfte von hier fortbringen und in ein anderes sicheres Verlies zwingen. Ihm war zwar nicht klar, weswegen er die Nuurtma umquartieren wollte. Allerdings spürte er intuitiv, dass es ungemein wichtig war, sogar höchster Priorität bedurfte.
Danach wollte er Estra, Isinis und auch seinen Kindern einen Besuch abstatten. Es gab einiges zu klären.
Als er im Morgengrauen den Strand verließ, klarte der Himmel auf.
***
Ein dunkles Grollen über dem Haus weckte Anna. Verschlafen fragte sie sich, wie spät es wohl wäre. Ein Blick aufs Handy verriet ihr, dass es eigentlich zu früh zum Aufstehen war, aber nun war sie halt hellwach.
Sie rieb sich die Augen und dachte enttäuscht, dass Viktor sich wieder nur kurz in ihren Träumen hatte blicken lassen.
Der Morgen brach zwar gerade erst an und Anna hatte ja das Grollen vernommen, doch als sie die Vorhänge zur Seite nahm, war sie dennoch enttäuscht von der trüben Tristesse da draußen. Es sah aus, als hätte der Himmel nie eine andere Farbe als grau gekannt. Passend dazu wirkte alles verlassen und still. Selbst die Vögel schienen auszuharren, wo sie doch sonst im Morgengrauen so emsig waren. Der Regen zog in gleichmäßig dicken Bindfäden herab, prasselte mit kräftigen Tropfen auf den Weg vorm Haus und schlug dabei große Blasen.
Mit einem Mal erhellte ein Blitz das Grau zu einem schmutzigen Gelb und es donnerte erneut bedrohlich über Himmel und Haus hinweg.
»Das gibt heute ja wohl keinen Strandtag!«
Missmutig ging Anna ins Bad, putzte sich die Zähne, wusch sich kurz und zog sich dann ihren bequemen Jogginganzug an. Danach schlich sie leise in die Küche, um Kaffee aufzubrühen.
Da die anderen beiden noch schliefen, machte sie es sich mit Keksen, Kaffeebecher und Buch auf dem Sofa im Wohnzimmer unter einer Decke gemütlich und trotzte so dem »Scheißwetter«, wie sie es nannte.
Das Einheitsgrau da draußen vor dem Fenster erinnerte sie an all die trüben Gedanken, die sie aufgrund ihrer Sehnsucht nach Viktor ständig überfielen. So schmollte und muffelte sie mürrisch vor sich hin, versuchte sich dann aber, aufs Buch zu konzentrieren.
Deshalb bemerkte sie zunächst nicht, dass es sich allmählich aufhellte und die Vögel ihre Betriebsamkeit endlich aufnahmen. Als sie vom Buch aufschaute und aus dem Fenster sah, entdeckte sie zu ihrer Verblüffung das erste himmelblaue Loch in der grauen Trostlosigkeit, von der sie angenommen hatte, dass sie den ganzen Tag anhalten würde.
Mit Staunen beobachtete sie, wie die morgendlichen Sonnenstrahlen schüchtern aus den Wolkenbergen hervorlugten und wider Erwarten einen sonnigen Tag versprachen.
Froh darüber, dass ihre Insel immer wieder solch schöne Überraschungen bereithielt und nun doch Strandwetter versprach, stand Anna erheblich besser gelaunt auf und ging duschen, um danach Brötchen fürs Frühstück zu holen.