Читать книгу Sonnenwarm und Regensanft - Band 1 - Agnes M. Holdborg - Страница 9
Geschwisterliebe
Оглавление»Bitte, Viktoria, bitte, bitte, bitte.« Er flehte seine Schwester regelrecht an.
Die warf ihm einen herablassenden Blick zu. »Viktor, du bist eindeutig verrückt geworden, total verrückt. Das geht einfach nicht. Wie stellst du dir das vor? Ich bin schließlich eine Halbelfe und keine Badenixe.«
Seit mehreren Tagen, besonders seit dem vergangenen Abend, nervte Viktor seine Schwester nun schon mit seinem Betteln und Flehen.
Erst hatte er ganz subtil angefangen: Eine Bemerkung hier, ein sorgenvoller Blick da, bis er ganz unverblümt mit seinem Anliegen herausgeplatzt war.
Er musste etwas tun, denn seine Bestürzung darüber, wie Anna ihm von ihrer bevorstehenden Reise erzählt hatte, steckte ihm nach wie vor tief in den Knochen.
… Natürlich sah er Anna an, dass sie außer sich und unglücklich war, und natürlich wollte er sie trösten.
Doch dann fiel da plötzlich ein ganz bestimmtes Wort. Ein Wort, das ihn wie ein Donnerschlag erschütterte und laut in seinem Kopf nachhallte: Nordsee? Nicht Nordsee!
Er wurde blass bei dieser Erkenntnis und bei der Gewissheit, dass er es nicht verhindern konnte. Anna sollte tatsächlich an die Nordsee fahren, dem falschesten Ort überhaupt.
So hilflos kam er sich vor, wollte er sie doch nicht beunruhigen. Sein kläglicher Versuch, ihr gut zuzureden, war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Trotz seiner sorgsam gewählten Worte. Zuerst reagierte sie ungehalten, dann traurig. Es zerriss ihm fast das Herz, denn er nahm wahr, wie sehr er sie mit seinem fadenscheinigen Gerede enttäuschte. Ganz entgegen seiner Absicht.
Stirnrunzelnd schaute er ihr nach, als sie einfach davonging, ohne noch einmal mit ihm zu reden. Der Gedanke, dass sie womöglich seinetwegen weitere bittere Tränen vergießen könnte, plagte ihn zusätzlich. …
Doch weil er ihr nun einmal nicht an die Nordsee folgen konnte, es nicht durfte, arbeitete er bereits angestrengt an einem Plan. Jetzt musste er nur noch seine Schwester davon überzeugen.
»Du könntest auf sie aufpassen, sie beschützen. Dich wird unser Vater nicht fühlen, garantiert nicht. Du empfindest ja nichts für Anna. Deshalb wird es funktionieren. Wenn du dich zurücknimmst, klappt das.«
Erneut versuchte er es mit einem seiner sorgenvollen Blicke. »Du weißt, bei mir ist es zu spät. Ich bestehe zurzeit nur noch aus Gefühlen. So darf ich nicht in seine Nähe kommen. Ach, das weißt du doch. Bitte. Ich mache mir doch solche Sorgen, dass sie …«
»Dass sie was?«, unterbrach sie ihn. »Dass ihr etwas passiert oder dass sie jemand anderem in die Arme läuft? Wenn Letzteres der Fall wäre, so würde es sich wohl kaum lohnen, ihr auch nur eine einzige Träne nachzuweinen.«
Viktoria war wirklich gut. Sie kannte seine gesamte Gemütsskala in- und auswendig und hatte daher auch seine Eifersucht gesehen.
Und es stimmte ja, überlegte er. Er war tatsächlich eifersüchtig, sehr sogar, was er als äußerst verwirrend und erniedrigend empfand.
»Viktor«, sprach sie eindringlich, »so hör mir doch bitte zu. Es ist zu riskant. Was ist, wenn ich einen Fehler mache und dadurch seine Aufmerksamkeit auf sie lenke? Was ist, wenn er noch dazu mich dabei entdeckt?«
»Du musst es tun. Es passiert schon nichts. Anna träumt zu intensiv, bei Tag und bei Nacht. Das ist einfach zu gefährlich. Falls er das wahrnimmt, findet er sie. Er ist sehr gerissen und schlau, das weißt du. Er würde sofort den Zusammenhang erkennen und verstehen.«
Inbrünstig setzte er seinen Überzeugungsversuch fort. »Lenk sie ab. Unternimm was mit ihr. Sie ist supernett und hat schnell Spaß, glaub mir. Sie ist überhaupt gerne fröhlich. Du kannst das. Dir fällt schließlich immer irgendetwas Komisches ein.«
Er legte den Kopf schräg und überlegte. »Allerdings sollten wir dich ein bisschen, hhm, sagen wir mal umstylen. Wir sehen uns einfach zu ähnlich. Anna ist nämlich auch sehr schlau und würde das bemerken.«
Nun grinste er breit. »Rote Haare würden dir sicherlich gut stehen. Dazu grüne Kontaktlinsen. Die kriegt man hier überall in der Menschenwelt.«
»Oh bitte, Viktor, das kann doch nicht dein Ernst sein.«
Jetzt spielte er seinen letzten und besten Trumpf aus.
»Ich liebe sie, und das ist mein Ernst. Ja, ich liebe sie. Deshalb muss ich einfach die Gewissheit haben, dass es ihr gut geht.«
In Viktorias Augen lag so viel Mitgefühl, aber auch Schmerz. »Ach, mein Bruderherz, dich hat es so richtig erwischt, nicht wahr?«
Er nickte. »Ja, das hat es«, murmelte er mehr zu sich selbst.
Aber er wusste, diese Schlacht war geschlagen. Viktoria würde ihm helfen. Er strahlte seine Schwester an, trat zu ihr, umfasste ihre Taille und wirbelte sie ein paar Mal mühelos im Kreis herum. Sie lachten.
»Danke, Schwesterchen.« Aufgeregt sprach er weiter: »Wir kaufen uns solche Smartphones. Die sind recht nützlich. Damit können wir sozusagen gefühllos miteinander sprechen. Das wird helfen.«
»Ja, das ist eine gute Idee. So ein Aifohn wollte ich schon immer mal ausprobieren.«
Viktor grinste wieder. Viktoria hatte so ihre Probleme mit der Technik der Menschen. Er hingegen fand diesen ganzen technischen Kram, wie sie ihn bezeichnete, durchaus spannend.
»Aber, wenn was schiefgeht, ich …«
»Wird es nicht, Schwesterchen, wird es sicher nicht.«