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Abetz, die Botschaft und das „Aufrollen der Judenfrage“

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Der im besetzten Paris amtierende deutsche Botschafter Abetz, sein politischer Berater Achenbach und auch der Generalkonsul Schleier waren, ihrer eigenen Darstellung nach, Vorkämpfer der deutsch-französischen Verständigung mitten im Kriege gewesen, an welches Ideal sie nun nach 1945 umstandslos meinten anknüpfen zu können. Otto Abetz, der bereits in der Vorkriegszeit in Frankreich aktiv gewesen war und Mitte Juni 1940 in die französische Hauptstadt zurückkehrte, wurde am 3. August 1940 persönlich von Hitler zum Botschafter ernannt und war für die „Behandlung aller politischen Fragen im besetzten und unbesetzten Frankreich“ verantwortlich.7 Von November 1942 bis Dezember 1943 wurde er vorübergehend aus Paris abberufen. Während dieser Zeit vertrat ihn der vormalige Landesgruppenleiter der Auslandsorganisation der NSDAP in Frankreich, Rudolf Schleier, der 1940 zum Generalkonsul aufgestiegen war. Ernst Achenbach, ebenfalls schon seit der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre im diplomatischen Dienst in Paris tätig, war zwischen 1940 und 1943 Botschaftsrat, dann Gesandtschaftsrat und Leiter der Politischen Abteilung, der eigentlichen Schaltstelle der Botschaft.

Alle drei mochten sich bei ihren Verhören nicht als Antisemiten bezeichnen lassen, und sie gaben übereinstimmend an, sie hätten die Durchführung von antijüdischen Maßnahmen vorzugsweise der Vichy-Regierung überlassen wollen. Wenn die Botschaft gleichwohl auf diesem Gebiet tätig geworden sei, dann nur, um radikalere Schritte von anderer Seite abzuwenden. Abetz wartete 1947 im Pariser Gefängnis Cherche-Midi auf seinen Prozeß, als er dem aus Nürnberg angereisten US-Beamten John H.E. Fried in einer Vernehmung zu erläutern versuchte, er habe während seiner ganzen Amtstätigkeit den Standpunkt vertreten, „daß das Reich der französischen Regierung die Regelung der französischen Judenfrage überlassen solle“ und sich eine deutsche Einmischung in diese Frage in Frankreich erübrige, „da der Antisemitismus der Franzosen stark genug sei“.8

Diese Aussage war nicht gänzlich falsch. Verschiedene Dokumente aus der Anfangszeit der deutschen Besatzung im Jahr 1940 zeigen, daß zwischen den deutschen Stellen in Paris kontrovers darüber diskutiert wurde, ob Maßnahmen gegen Juden von deutscher Seite verordnet oder im Wege der französischen Gesetzgebung eingeleitet werden sollten. Letzteres entsprach im übrigen den generellen Vorstellungen von „Aufsichtsverwaltung“ und Kollaboration,9 wie sie vor allem der Kriegsverwaltungschef Werner Best als Vordenker des Militärbefehlshabers vertrat. So sollte „nach den Arbeitsrichtlinien für die Militärverwaltung [...] von Maßnahmen abgesehen werden, durch die die Rassenfrage aufgerollt wird“, und den Besatzern schienen vorläufig auch „keine Sondermaßnahmen gegen Juden“ in Frankreich opportun.10 Dagegen beklagte der Leiter des Pariser Judenreferats, Theodor Dannecker, in einem Tätigkeitsbericht vom Sommer 1941 rückblickend eben den von der Militärverwaltung vertretenen Grundsatz, „gerade die Regelung dieser Frage den Franzosen selbst zu überlassen“, den er für die Verzögerungen seiner eigenen Vorarbeiten zur „Endlösung“ verantwortlich machte, während er umgekehrt die Unterstützung durch die Botschaftsangehörigen lobend hervorhob.11

Nun hatte Abetz selbst am 17. August 1940 in einer Besprechung mit Werner Best die Initiative ergriffen und angeregt, die Militärverwaltung möge

1 anordnen, daß mit sofortiger Wirkung keine Juden mehr in das besetzte Gebiet hereingelangen werden;

2 die Entfernung aller Juden aus dem besetzten Gebiet vorbereiten;

3 prüfen, ob das jüdische Eigentum im besetzten Gebiet enteignet werden kann.12

Drei Tage später, am 20. August, erbat er telegraphisch das Einverständnis des Reichsaußenministers Ribbentrop für eine Reihe „antisemitischer Sofortmaßnahmen“, und diesmal lautete der Katalog wie folgt:

1 Verbot jüdischer Rückwanderung über Demarkationslinie nach besetztem Frankreich

2 Meldepflicht im besetzten Gebiet ansässiger Juden

3 Kennzeichnung jüdischer Geschäfte im besetzten Frankreich

4 Einsetzung von Treuhändern für jüdische Geschäfte, Wirtschaftsbetriebe und Warenhäuser, deren Besitzer geflohen sind.13

Die genannten Maßnahmen, so merkte Abetz vorsorglich an, ließen sich mit dem Sicherheitsinteresse der deutschen Besatzungsmacht begründen und von französischen Behörden durchführen. Nichtsdestoweniger standen seine Vorschläge mit den genannten, vom Oberkommando des Heeres noch vor Beginn des Westfeldzugs erlassenen „Arbeitsrichtlinien für die Militärverwaltung“ im Widerspruch, weshalb Best sich mehrere Machbarkeitsstudien von den Experten des Verwaltungsstabs – Mahnke, Bargatzky, Bardenheuer und Storz – anfertigen und einen Verfügungsentwurf ausarbeiten ließ, bevor der Chef der Militärverwaltung in Frankreich – zu diesem Zeitpunkt noch General Streccius – tatsächlich am 27. September 1940 die erste „Verordnung über Maßnahmen gegen Juden“ unterschrieb.

Die Verordnung begann mit einer Definition, die – statt auf die Rassenideologie der Nürnberger Gesetze – auf die Konfessionszugehörigkeit als Kriterium zurückgriff,14 und sie entsprach nicht ganz den weitergehenden Anregungen von Abetz, sondern sah a) ein Rückkehrverbot für Juden in die besetzte Zone, b) die Meldepflicht und Schaffung eines „Judenregisters“ sowie c) die Kennzeichnung von Ladengeschäften, Gaststätten usw. vor.15 Mit der amtlichen Registrierung der Juden verband sich die Kennzeichnung ihrer Identitätskarten durch einen leicht erkennbaren, roten Stempelaufdruck Juif bzw. Juive – beides sollte sich als wichtigste Voraussetzung für spätere Razzien und Massenverhaftungen erweisen. Die von Abetz aufgeworfene Frage der Enteignung „jüdischer Vermögen“ wurde bis zur Zweiten Verordnung der Militärverwaltung vom 18. Oktober 194016 aufgeschoben, mit der Dritten Verordnung vom 26. April 1941 kam ein weitgehendes Gewerbe- und Beschäftigungsverbot hinzu,17 das den Juden die materielle Existenzgrundlage vollends entzog. Da die erste Verordnung aber noch vor dem Erlaß eines „Judenstatuts“ und eines Gesetzes zur Internierung ausländischer Juden durch die Vichy-Regierung am 3. / 4. Oktober 1940 erschien,18 war immerhin erreicht worden, „daß die Aufrollung der Judenfrage in Frankreich von deutscher Seite ausgegangen ist“ – wie der Polizeireferent des Kommandanten von Groß-Paris nach einer Besprechung mit Best vom 11. Oktober festhielt.19

Was war inzwischen geschehen? Das Auswärtige Amt, und zwar der Leiter der Abteilung „Deutschland“, Unterstaatssekretär Martin Luther, hatte die Vorschläge von Abetz sogleich an den Reichsführer-SS zur Stellungnahme weitergeleitet,20 von wo er allerdings erst am 20. September eine von Heydrich gezeichnete Auskunft bekam. Der Chef des Reichssicherheitshauptamts verband sein Einverständnis mit der Forderung nach „Einschaltung“ der „gerade auf dem Judengebiet [...] sacherfahrene[n] Kräfte“ des im besetzten Frankreich befindlichen Kommandos der Sicherheitspolizei – gemeint waren ein von Helmut Knochen geleitetes SS-Sonderkommando und der soeben in Paris eingetroffenen Judenreferent Dannecker.21 Luther seinerseits antwortete Abetz am gleichen Tag in eher vorsichtiger Form und ohne die Forderung Heydrichs zu übermitteln: Die „Zweckmäßigkeit von Maßnahmen gegen Juden im besetzten Gebiet“ sei vom Auswärtigen Amt nicht zu beurteilen, da ihr Erfolg von der „psychologischen Vorbereitung“ abhinge. Wünschenswert wäre, so schrieb Luther, „daß die geplanten Maßnahmen erst von der Regierung in Vichy durchgeführt werden“.22

Es läßt sich nicht genau ausmachen, welchen Einfluß dieser Weg über das Auswärtige Amt und das Reichssicherheitshauptamt auf den Erlaß der ersten antijüdischen Verordnung gehabt hat. Denn bereits drei Wochen zuvor, am 29. August, konnte Botschafter Abetz – wie aus einem von Best unterzeichneten Vermerk hervorgeht – den Militärs die Mitteilung machen, Hitler habe folgende Maßnahmen angeordnet:

1 Die Einreise von Juden in das besetzte Gebiet ist ausnahmslos und endgültig zu verhindern.

2 Durch Anweisung an die franz. Behörden ist zu veranlassen, daß alle Juden sich zur Eintragung in ein bestimmtes Register melden.

3 Durch Anweisung an die franz. Behörden ist eine Kennzeichnung aller jüdischen Geschäfte in deutscher und französischer Sprache zu veranlassen.

4 Durch Anweisung an die franz. Behörden sind für alle Geschäfte, Betriebe, Wohnhäuser und Warenlager, deren jüdische Eigentümer geflohen sind, Treuhänder einzusetzen.23

Eben diese Maßnahmen hatte Abetz selbst in den vier Punkten vom 20. August zu Papier gebracht. In der ersten Septemberhälfte – noch vor Heydrichs Stellungnahme – erging außerdem ein Erlaß des Oberbefehlshabers des Heeres von Brauchitsch, „in dem die Durchführung der gleichen Maßnahmen zur Behandlung der Juden im besetzten Frankreich angeordnet“ wurde, die in dem von Best in Auftrag gegebenen und von der Militärverwaltung bereits ausgearbeiteten Verfügungsentwurf vorgesehen waren. Um die diversen Einflußnahmen und das offenbar eingeholte Einverständnis des Oberkommandos des Heeres zu dokumentieren, ließ der Verwaltungsstab des Militärbefehlshabers schriftlich festhalten, „daß genau die gleichen Maßnahmen, die der Botschafter Abetz angeregt hat, inzwischen von dem Oberbefehlshaber des Heeres durch einen G[eheime]K[omman]dos[ache]-Erlaß angeordnet worden sind“.24

Zudem hatten Wehrmacht und Militärverwaltung schon in der ersten Septemberhälfte, als die „Verordnung über Maßnahmen gegen Juden“ sich noch im Entwurfsstadium befand, damit begonnen, den späteren § 2 umzusetzen, der denjenigen Juden, die im Sommer 1940 während des Massenexodus der französischen Bevölkerung vor den einrückenden deutschen Panzern nach Südfrankreich geflohen waren, die Rückkehr in das nunmehr besetzte Gebiet der Nordzone verwehrte. Angesichts der scheinbaren Normalisierung der Verhältnisse nach dem deutsch-französischen Waffenstillstand vom 22. Juni 1940 versuchten zahllose Franzosen, an ihre Wohnorte zurückkehren, darunter viele Juden, wie das Pariser SS-Sonderkommando in Berichten an die Militärverwaltung meldete.25 Der Chef des Kommandostabs des Militärbefehlshabers, Hans Speidel, gab daher am 10. September zunächst der Heeresgruppe C und zehn Tage später sämtlichen Truppen und bodenständigen Stellen der Wehrmacht bekannt, daß Juden der Übertritt über die Demarkationslinie, die das Land in eine unbesetzte und eine besetzte Zone teilte, verboten sei. Da die Kriterien der deutschen „Rassengesetze“ vorerst in Frankreich nicht in Geltung waren, fügte Speidel zur Erläuterung eines phänotypischen Verfahrens der Grenzkontrollen hinzu, soweit nicht die Religionszugehörigkeit aus den Personalpapieren ersichtlich sei, sollten an der Demarkationslinie alle Personen zurückgewiesen werden, „deren Namen oder Aussehen die Zugehörigkeit zur jüdischen Rasse vermuten lassen“.26

Bereits im September 1940, wenige Wochen nach dem deutschen Einmarsch, war die Militärverwaltung also auf die Initiative von Botschafter Abetz eingegangen und hatte von sich aus administrative Maßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung des besetzten Gebiets verfügt, die als Vorbild für die anderen westeuropäischen Länder unter deutscher Herrschaft dienten und deren gravierende Folgen sich in der Zukunft zeigen sollten. Diese frühe Weichenstellung der antijüdischen Politik ist von dem französischen Historiker Joseph Billig, der die hier skizzierte Entwicklung erstmals gründlich untersucht hat,27 als Kurswechsel der Militärverwaltung gedeutet worden. Die Beamten des Verwaltungsstabs hätten, wie Billig meint, den Forderungen der Botschaft nachgegeben und die „Arbeitsrichtlinien für die Militärverwaltung“ zugunsten einer aktiven antijüdischen Politik von deutscher Seite umgedeutet. Bei Durchsicht der oben erwähnten und auch von Billig herangezogenen Expertisen der Verwaltungsbeamten Mahnke, Storz und anderer entsteht allerdings eher der Eindruck einer weitgehenden Übereinstimmung zwischen Militär und Botschaft. In der Tat bezogen sich deren formale Vorbehalte darauf, alle generellen Regelungen zu vermeiden, die der Haager Landskriegsordnung zuwiderliefen und als Annexionsabsicht hätten gedeutet werden können, also auch solche, die denen gegen die Juden im Reichsgebiet getroffenen glichen, und sich statt dessen der französischen Behörden zu bedienen oder auf Einzelmaßnahmen zu beschränken. Daher der wiederholte Hinweis auf die „Arbeitsrichtlinien“, wonach die „Rassenfrage“ nicht von deutscher Seite „aufgerollt“ werden sollte. Aber die Gründe, von diesen Richtlinien abzuweichen, waren in allen vorliegenden Stellungnahmen rasch formuliert: eine veränderte Lage, eine drohende Gefährdung der Interessen der deutschen Wehrmacht, die „antideutsche Gesinnung“ der Juden. Oder man hielt dafür – wie der Leiter der Gruppe Innere Verwaltung des Militärbefehlshabers, Ministerialrat Carl Storz, in seinem von einem radikalen Antisemitismus geprägten Gutachten –, daß sich „die Militärverwaltung gegenüber der Judenfrage nicht dauernd passiv verhalten“ könne. Vielmehr sei der Zeitpunkt gekommen, „um im besetzten Frankreich die Voraussetzungen für die Erreichung der ferneren Ziele der deutschen Politik auf diesem Sektor zu schaffen“.28

Es gibt jedenfalls keinen Hinweis darauf, daß die Pariser Militärs in der Anfangsphase der Besatzung eine andere Linie hätten verfolgen wollen oder sich den von der Botschaft initiierten antijüdischen Maßnahmen zunächst widersetzt hätten. Ihre wesentliche Funktion bestand darin, den Forderungskatalog von Abetz, der durch einen „Führerbefehl“ gedeckt wurde, auf das politisch Machbare hin zu überprüfen und dies dann in die ersten Verordnungen gegen Juden vom 27. September und 18. Oktober 1940 umzusetzen. Richtig bleibt Billigs Befund, daß die Initiative der Botschaft wie die Verordnungen der Militärverwaltung im Widerspruch zu den vom Oberkommando des Heeres erlassenen „Arbeitsrichtlinien“ standen. Sie entsprachen auch nicht dem Kurs, den Abetz nach dem Krieg als den von ihm vertretenen beschrieben hat.

Täter im Verhör

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