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Wende im Dezember 1941

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Zwischen Zeitschels Mitteilung an das Pariser Judenreferat vom 8. Oktober, Himmler habe einer Abschiebung der „im KZ befindlichen Juden im besetzten Gebiet nach dem Osten“ zugestimmt, und dem 1. Dezember 1941 findet sich kein Dokument deutscher Dienststellen im besetzten Frankreich, in dem die Deportation von Juden erwähnt würde. Auch Dannecker selbst, der von Zeitschel zu weiteren Vorstößen in Berlin aufgefordert worden war, griff wie gesagt die Angelegenheit erstaunlicherweise nicht auf. Wohl ist ein Schreiben Heydrichs an den Generalquartiermeister Eduard Wagner vom 6. November überliefert, das sich auf die sogenannte Synagogen-Affäre bezieht – von der Sipo-SD inszenierte Sprengstoffanschläge einer faschistischen Terrorgruppe gegen Pariser Synagogen in der Nacht vom 2. / 3. Oktober 1941 – und mit dem der Chef des Reichssicherheitshauptamts die Verantwortung für diese gezielte antisemitische Provokation übernahm: Die Ausführung der Attentate sei von ihm „erst in dem Augenblick“ gebilligt worden, so Heydrich wörtlich, „als auch von höchster Stelle mit aller Schärfe das Judentum als der verantwortliche Brandstifter in Europa gekennzeichnet wurde, der endgültig in Europa verschwinden muß“.100 Ob dadurch die Militärverwaltung – die sich in eine Machtprobe mit der Sicherheitspolizei verwickelt sah – beeinflußt wurde oder gar unter Druck geriet, ihrerseits den Abtransport von Juden aus Frankreich zu fordern, erscheint jedoch eher zweifelhaft.101 Vielmehr gibt es einen ganz anderen Ereigniszusammenhang, der den Militärbefehlshaber Otto von Stülpnagel dazu veranlaßte, auf eigene Initiative – und ohne daß die Sipo-SD erkennbar in Aktion getreten wäre – erstmals am 1. Dezember dem Oberkommando des Heeres die „Internierung und Deportierung nach dem Osten von in einem kriminellen oder deutschfeindlichen Zusammenhang hervorgetretenen Juden“ vorzuschlagen, wobei er zunächst eine Zahl von 1.000 nannte.102

Es sollte sich um eine „Sühnemaßnahme“ für vorausgegangene Attentate des kommunistischen Untergrunds handeln, auf die die Militärverwaltung bislang nach den Vorgaben Hitlers und Keitels mit Massenerschießungen französischer Geiseln reagiert hatte. Doch schon Ende Oktober 1941, als nach Anschlägen in Nantes und Bordeaux insgesamt 98 Franzosen hingerichtet wurden, sah sich die Militärverwaltung in der Frage der Repressalien zunehmendem Druck aus Berlin ausgesetzt und gleichzeitig mit einer politischen Krise konfrontiert. Das Verhältnis zum Vichy-Regime wurde erheblich belastet, und die einhellige Ablehnung der Erschießungen in der französischen Öffentlichkeit stärkte eher die Résistance. Die Geiselpolitik erwies sich zunehmend als ein ungeeignetes Mittel zur Bekämpfung der Widerstandsbewegung, und von Stülpnagel war der erste, der dies begriff. In dieser Situation nun vollzog sich bis Anfang Dezember in den deutschen Stäben in Paris ein Entscheidungsprozeß, der zum gezielten Einsatz von „Sühnemaßnahmen“ gegen die jüdische Bevölkerung führte. Im Bestreben, ein effektives und zugleich flexibles Abschreckungsinstrument in der Hand zu haben, das den „französischen Verhältnissen“ besser angepaßt war als Massenexekutionen, entschlossen sich die Militärs zur Auslagerung des Besatzungsterrors nach Osten.

Wer dem Militärbefehlshaber nahegelegt hat, auf Attentate der Résistance in Zukunft mit Deportationen zu reagieren, ist bis heute nicht geklärt.103 Vermutlich war der Vorschlag mit Botschafter Abetz abgestimmt; daß dahinter auch der Einfluß von Best104 und Speidel105 – den beiden einflußreichen Beratern von Stülpnagels – stand, ist ebenfalls anzunehmen, aber nirgends dokumentiert. Abetz meldete am 7. Dezember im Zusammenhang mit einer Serie von Anschlägen auf die Wehrmacht nach Berlin, selbst wo eine französische Täterschaft nachgewiesen werden könne, liege es im politischen Interesse, „die These zu vertreten, daß es sich ausschließlich um Juden und gekaufte Agenten angelsächsischer und russischer Geheimdienste handele“, um den Eindruck zu vermeiden, die Franzosen lehnten sich gegen die Besatzer auf.106 Kurz danach teilte er dem Auswärtigen Amt mit, die vom Militärbefehlshaber vorgeschlagenen und inzwischen genehmigten Repressionsmaßnahmen deckten sich mit den von ihm, Abetz, aufgestellten Grundsätzen, doch hatte er selbst nicht von Deportationen gesprochen.107

Als Abetz seinen Bericht nach Berlin absetzte, hatte der Militärbefehlshaber seinen zuerst am 1. Dezember dem Oberkommando des Heeres unterbreiteten Vorschlag infolge neuer Attentate bereits weiter verschärft und am 5. Dezember angeordnet, statt der ursprünglich vorgesehenen 50 nunmehr 100 Geiseln zu erschießen, den Juden eine „Geldbuße“ aufzuerlegen und außer 1.000 Juden auch 500 „Jungkommunisten“ zu deportieren.108 Die Genehmigung Hitlers ging am 12. Dezember ein,109 und am 14. Dezember veröffentlichte der Militärbefehlshaber die folgende Bekanntmachung:

1 Den Juden des besetzten französischen Gebietes wird eine Geldbuße von einer Milliarde Franken auferlegt.

2 Eine große Zahl verbrecherischer jüdisch-bolschewistischer Elemente wird zu Zwangsarbeiten nach dem Osten deportiert. Weitere Deportationen sind [...] in größerem Umfange vorgesehen, wenn sich neue Anschläge ereignen sollten.

3 100 Juden, Kommunisten und Anarchisten, die dem Täterkreis nahestehen, werden erschossen.110

Zu diesem Zeitpunkt stellte sich also noch nicht die Alternative zwischen Geiselerschießungen und Deportationen, sondern von Stülpnagel griff auf ein Bündel von Repressalien zurück.111 Am 15. Dezember ließ er 70 Geiseln auf dem Mont-Valérien bei Paris und 25 Geiseln in der französischen Provinz hinrichten, darunter 51 Juden, die größtenteils in Drancy interniert gewesen waren.112 Die „Judenbuße“ – nach dem Vorbild der den deutschen Juden im November 1938 auferlegten Sondersteuer – wurde über die soeben gegründete jüdische Zwangsvereinigung, die Union générale des Israélites de France, eingetrieben und lenkte über verschiedene finanzielle Transaktionen einen großen Teil der „Arisierungsgewinne“ in deutsche Hände.113

Entscheidend war, daß die Widerstandsbekämpfung in Frankreich Ende des Jahres 1941 in eine radikale antijüdische Politik umschlug und die „Sühnemaßnahmen“ fortan in erster Linie gegen die jüdische Bevölkerung gerichtet wurden.114 Die Initiative dafür lag nicht in Berlin, sondern ausschließlich beim Militärbefehlshaber in Paris, und die Ankündigung „weiterer Deportationen in größerem Umfang“ war zu diesem Zeitpunkt durch keinerlei konkrete Planungen des Reichssicherheitshauptamts, sondern allenfalls durch Himmlers generelle Zusage vom Oktober 1941 gedeckt. Wie aus einem vermutlich 1944 verfaßten Schlußbericht der Militärverwaltung hervorgeht, sollte diese Ankündigung vor allem einer flexiblen Handhabung der Repression dienen. Beabsichtigt gewesen sei, heißt es dort wörtlich, „die Zahl der zu erschießenden Personen künftig herabzudrücken und doch genügend scharfe Maßnahmen beizubehalten, von denen sich eine Abschreckung für weitere Anschläge erhoffen ließ“.115

Dabei ist die Koinzidenz zwischen dem schärferen Vorgehen in Frankreich und der politischen Entwicklung im nationalsozialistischen Machtzentrum kaum zu übersehen. So belegt ein internes Papier der Militärverwaltung vom 12. Dezember, daß Hitlers – durch Rundfunk auch ins Ausland übertragene – Reichstagsrede vom Vortag, die die Kriegserklärung an die USA enthielt und die Juden als Anstifter dieses „Weltkriegs“ brandmarkte, in Paris als deutliches Signal verstanden wurde. Obgleich Hitler diesmal auf seine – zuerst im Januar 1939 ausgesprochene und seither mehrfach wiederholte – Drohung verzichtetet hatte, das Ergebnis eines neuen Weltkriegs werde die „Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“ sein, war die berüchtigte Prophezeiung offenbar genügend präsent: „Nach der gestrigen Führerrede“, schrieb ein aufmerksamer Mitarbeiter der Wirtschaftsabteilung an deren Chef Elmar Michel, „gewinnt das Judenproblem auch für Frankreich neue, stark politische Bedeutung.“116 Tatsächlich zeichnete sich im Dezember 1941 in Berlin eine definitive Wende ab, mit der die „Endlösung der Judenfrage“ über alle bisherigen Umsiedlungs- und Deportationspläne und alle bereits durchgeführten Massenmordaktionen hinaus die Dimension eines Genozids auf europäischer Ebene annahm.

Man wird nicht unterstellen dürfen, daß diese Dimension allen Besatzungsorganen in Frankreich sogleich bekannt wurde. Bekannt war aber zweifellos, daß seit Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion Massaker an der jüdischen Zivilbevölkerung stattfanden,117 die Militärverwaltung dürfte noch im Verlauf des Oktober durch die Botschaft oder das Judenreferat von der besagten Einwilligung Himmlers in Kenntnis gesetzt worden sein, die in der Nordzone bereits internierten Juden abzutransportieren, und sie wurde – wie oben ausgeführt – spätestens Anfang 1942 auch offiziell darüber unterrichtet, daß die Deportationen aus Deutschland begonnen hatten. Die Anordnung von Stülpnagels, weitere Festnahmen vorzunehmen und eine große Zahl uden und Kommunisten „zu Zwangsarbeiten nach dem Osten“ zu deportieren, mochte fürs erste wie eine besonders drakonische Repressionsmaßnahme erscheinen, deren vorrangiges Opfer die Juden des besetzten Gebiets geworden waren. Berücksichtigt man das zeitliche Zusammentreffen mit den Grundsatzentscheidungen zur „Endlösung“, dann bekommt diese Anordnung, die den Militärbefehlshaber zum Initiator der Judentransporte aus Frankreich werden ließ, jedoch ein anderes Gewicht. Der Militärverwaltung konnte nicht verborgen geblieben sein, daß diese Transporte, auch wenn sie anfangs im Zeichen der Zwangsarbeit und nicht der unmittelbaren Vernichtung standen, Bestandteil eines RSHA-Programms waren, das nicht aus militärischen Sicherheitserfordernissen aufgelegt worden war, sondern anderen, eliminatorischen Zielsetzungen folgte. Jedenfalls ist auszuschließen, daß von Stülpnagel eine Entscheidung fällte, deren Tragweite nicht absehbar gewesen wäre.118

Noch am 5. Dezember – als der Militärbefehlshaber in Berlin die Genehmigung der angekündigten Maßnahmen einholte – begannen in Paris die Vorbereitungen für die Deportation. An diesem Tag erteilte Kriegsverwaltungschef Best eine Weisung „bezüglich der Auswahl der Personen [...], die für eine Deportierung nach dem Osten in Frage kommen“, und gleichzeitig erhielt der Kommandant von Groß-Paris von der Militärverwaltung den Befehl zur Verhaftung von 1.000 Juden.119 Bei der nächsten regelmäßigen Dienstagsbesprechung im Judenreferat am 9. Dezember wurden die geplanten Massenverhaftungen bereits als fait accompli behandelt. Zeitschel registrierte außerdem, daß die anwesenden „Herren des Militärbefehlshabers im Gegensatz zu früher ein erstaunliches Entgegenkommen in der Verschärfung der Judenaktionen“ gezeigt hätten.120 Im Gegensatz zu den Festnahmen im Mai und August wurde diesmal darauf verzichtet, größere Kontingente der französischen Polizei heranzuziehen, vielmehr wurde die dritte Razzia weitgehend von deutschen Truppen durchgeführt. Welchen Einfluß dabei die Gruppe Polizei der Militärverwaltung nahm, ob deren Leiter Waldemar Ernst tatsächlich die ganze Operation leitete,121 oder ob der Kommandant von Groß-Paris, dem der entsprechende Befehl erteilt worden war, „die Auswahl der zu verhaftenden Juden, die Gesamtvorbereitung der Aktion sowie ihre Durchführung“ Knochens Pariser Dienststelle – also faktisch dem Judenreferat – übertrug, wie in einem der Militärverwaltung vorgelegten Lagebericht des Beauftragten der Sipo-SD angegeben wurde,122 ist nicht zu klären. Die Militärverwaltung hielt fest, die Verhaftungen seien durch den Kommandanten von Groß-Paris selbst erfolgt.123 Als Dannecker später eine Bilanz der drei im Verlauf des Jahres 1941 vorgenommenen „Großaktionen gegen die Pariser Judenschaft“ zog, wiederholte er dagegen, jedesmal sei das Judenreferat „sowohl für die Auswahl der zu verhaftenden Juden, als auch für die gesamte Vorbereitungsarbeit und die technische Durchführung verantwortlich“ gewesen.124 Aber dahinter verbarg sich – da Dannecker die Tätigkeit seines Referats stets groß herausstrich – die Tatsache, daß die Voraussetzungen in allen Fällen durch die Militärverwaltung geschaffen worden waren.

Als gesichert kann gelten, daß für diese Razzia 260 Mann Feldgendarmerie und 200 Angehörige der Geheimen Feldpolizei vom Militärbefehlshaber bzw. von der Wehrmacht abgestellt wurden; sie wurden auf vierzehn Gruppen verteilt, die – wiederum nach Angaben der Sipo-SD – „unter Leitung je eines SS-Führers“ standen.125 Beginnend am 12. Dezember um 5 Uhr früh, wurden in Paris 743 jüdische Geschäftsleute, Unternehmer, Ärzte, Rechtsanwälte und Intellektuelle – fast alle im Besitz der französischen Staatsbürgerschaft – in ihren Wohnungen verhaftetet. Offenbar hatten die Deutschen mit mehr Festnahmen gerechnet. Um die vom Militärbefehlshaber für die Deportation bestimmte Anzahl von 1.000 Juden zu erreichen, suchte Dannecker weitere 300 Internierte im Lager Drancy aus, wiederum Männer aus gehobenen sozialen Schichten.126 Die insgesamt 1.043 Personen wurden in der Nacht vom 12. auf den 13. Dezember in das Haftlager Compiègne transportiert.127 Der erwähnte, vermutlich von Dannecker verfaßte Lagebericht der Sipo-SD kam zu dem Schluß, die Reaktion der französischen Bevölkerung auf die Razzia zeige ein weitgehendes Verständnis für derartige Maßnahmen: „Das französische Volk“, so unterstellte der Leiter des Judenreferats mit Bezug auf Protestaktionen in Amsterdam im Februar 1941, „tritt nicht für die Juden ein, wie es in Holland bei einer solchen Aktion der Fall war, sondern erkennt absolut an, daß die Juden für die Anschläge gegen die Besatzungstruppe als Drahtzieher verantwortlich zu machen sind.“128 Von Seiten der Vichy-Regierung sind im übrigen keine Interventionen zugunsten der festgenommenen französischer Staatsangehörigen dokumentiert.129

Das Lager Compiègne-Royallieu, etwa 60 km nördlich von Paris nahe einer großen Eisenbahnstrecke gelegen, stand – anders als Pithiviers, Beaunela-Rolande und Drancy – unter deutscher Leitung und wurde zunächst als Front-Stalag für französische Kriegsgefangene, seit Mitte 1941 zur Unterbringung von sowjetischen Zivilinternierten und als Haftlager für Kommunisten und andere politische Gefangene genutzt. Offenbar waren Anfang Dezember bereits entsprechende Vorbereitungen getroffen worden, denn die am 12. des Monats verhafteten bzw. aus Drancy überführten 1.043 Juden wurden sofort in einer besonderen Abteilung des Lagers untergebracht.130 Somit besaß die Wehrmacht in Frankreich ab Ende des Jahres 1941 ein eigenes, spezielles „Judenlager“.

Wie eng die Aufsicht der Pariser Militärverwaltung über das Lager Compiègne war und welche Funktionen dabei insbesondere die verantwortliche Gruppe Polizei unter ihrem Leiter Waldemar Ernst übernahm, geht aus zahlreichen Schriftstücken hervor. Zudem bestätigt sich, daß auch die nachgeordneten Beamten aus der Polizeigruppe des Kommandanten von Groß-Paris – wie schon im Fall Drancy – einen erheblichen Einfluß auf die Zustände in den Lagern nahmen und Entscheidungsbefugnisse besaßen, von denen das Überleben der Internierten abhängen konnte. Alle Dienststellen des Militärbefehlshabers hielten im internen Schriftverkehr die – in der Bekanntmachung vom 14. Dezember öffentlich verbreitete – Version aufrecht, die in Compiègne internierten Juden sollten zu Zwangsarbeiten im Osten, wo immer das sein mochte, eingesetzt werden; oder jedenfalls sahen sie keinen Grund, diese Version in Frage zu stellen.

In einem Aktenvermerk, in dem erstmals der Betreff „Deportation jüdisch-bolschewistischer Elemente zu Zwangsarbeiten nach dem Osten“ auftaucht, und in einer ähnlich lautenden Mitteilung an den Kommandanten des Internierungslagers Compiègne schrieb Oberkriegsverwaltungsrat Ernst am 19. Dezember, da „die Festnahme der Juden zum Zwecke von Zwangsarbeiten im Osten (Deportation) erfolgt“ sei, müsse die Eignung der Verhafteten hierzu sichergestellt werden. Er verlangte vom Lagerkommandanten eine Namensliste und eine entsprechende kurze ärztliche Untersuchung, „ob die festgenommenen Juden sich für den Verhaftungszweck, die Verrichtung von Zwangsarbeiten im Osten, eignen“.131 Zwei Tage später unterstrich die Gruppe Polizei in einem Rundschreiben diesen „Verhaftungszweck“ und ergänzte, daß der Militärbefehlshaber sich die Entscheidung darüber vorbehalte, in wieweit „nicht arbeitseinsatzfähige“ Internierte aufgrund der ärztlichen Untersuchung zu entlassen seien. Die Befugnis zu Entlassungen im Einzelfall wurde allerdings dem Kommandanten von Groß-Paris „im Benehmen“ mit der Sipo-SD übertragen. Sobald die Zahl der Juden in Compiègne dadurch „unter die für die Deportation vorgesehene Zahl von 1000 Juden sinken“ sollte, könne auf die im Lager Drancy internierten Juden „zurückgegriffen“ werden. Die „Aufsicht über das Lager Compiègne, in dem die zur Deportation bestimmten Juden untergebracht sind“, schloß das Rundschreiben, bleibe weiterhin beim Militärbefehlshaber.132

Eine solche Untersuchung durch den Lagerarzt muß tatsächlich stattgefunden haben,133 denn der Kommandant des Lagers, Oberstleutnant Pelzer, der zugleich Chef der Feldkommandantur Compiègne war, reichte gleich zu Beginn des Jahres 1942 Listen der „eingelieferten“ und der „arbeitsunfähigen Juden“ ein. Diese Listen zirkulierten offenbar in den deutschen Dienststellen in Paris. So übermittelte Kriegsverwaltungsrat Werner Jähnig von der Gruppe Polizei dem zuständigen Beamten des Pariser Stadtkommandanten, Helmut Bandorf, und dem Chef der Wirtschaftsabteilung Michel die – wie Jähnig schrieb – „Listen jener Elemente [...], die für eine Deportierung nach dem Osten vorgesehen sind“, wobei er das Wort „Elemente“ strich und durch „Juden“ ersetzte.134 Das heißt nichts anderes, als daß große Teile der Militärverwaltung in die Vorbereitungen der Deportation einbezogen wurden – ein Befund, der bei Analyse der Dokumente aus dem Zeitraum Januar bis März 1942 noch klarer ausfällt.

Unterdessen war bereits eine Gruppe von 73 Personen – überwiegend aus Altersgründen oder wegen Krankheit – aus Compiègne entlassen worden.135 Trotz dieser Entlassungen starben in den ersten Wochen nach der Verhaftung vom 12. Dezember mehr als 30 Männer infolge der mangelhaften Lebensverhältnisse, der extremen Kälte und Unterernährung im Lager.136 Das Französische Rote Kreuz wandte sich angesichts dieser Situation ab Ende des Jahres 1941 wiederholt mit dem Gesuch an die Militärverwaltung, einen sozialen Dienst zur Betreuung der Internierten einzurichten. Eine Rotkreuz-Vertreterin bat zu diesem Zweck im Majestic um eine Namensliste der im Dezember festgenommenen Juden, die ihr Kriegsverwaltungsassessor Nährich, der in der Gruppe Polizei hauptsächlich mit der Aufsicht über Internierungslager beschäftigt war, mit dem Hinweis verweigerte, daß diesen Häftlingen gegenüber „ein anderer Maßstab angelegt werden müsse“. Im übrigen würden die Juden in Compiègne ausreichend ernährt und ordnungsgemäß untergebracht, so daß „eine persönliche Fürsorge zur Zeit nicht angebracht sei“.137 Als das Rote Kreuz auf die unzulängliche Versorgung der Internierten hinwies, erklärte Nährich nach Rücksprache mit der Lagerleitung eine von deutscher Seite überwachte Betreuung für unbedenklich, zumal sie den eigenen Interessen entspräche, so daß Spenden des Roten Kreuzes im Lager verteilt werden konnten, ohne daß dessen Vertreter allerdings Zugang zur „Judenabteilung“ bekommen hätten. Die Militärverwaltung scheint außerdem erwogen zu haben, die Ausstellung von „Internierungsbescheinigungen“ (certificats d’internement) zu genehmigen und dem Roten Kreuz begrenzte Auskünfte zu erteilen, um es in die Lage zu versetzen, hilfsbedürftige Angehörige unterstützen zu können, denn sie richtete eine entsprechende Mitteilung an Knochens Dienststelle.138 Doch Ende Januar 1942 diskutierten Nährich und Dannecker das Gesuch des Roten Kreuzes auf einer Dienstagssitzung im Judenreferat, und Dannecker forderte daraufhin in einem Antwortschreiben an die Militärverwaltung ultimativ, jegliche Auskunft zu verweigern, da es nicht angängig erscheine, „den vor dem Abtransport stehenden Juden oder ihren Angehörigen irgendwelche Erleichterungen zuteil werden zu lassen“.139

Parallel zu diesen Bemühungen des Roten Kreuzes bat der Generalkommissar für Judenfragen Anfang 1942 Best persönlich um Mitteilung, ob die Familien der in Compiègne internierten Juden „den Beteiligten Lebensmittel und Kleidungsstücke zukommen lassen“ könnten. Best behandelte die Angelegenheit dilatorisch, und das Generalkommissariat mußte erneut nachfragen.140 Kurz darauf intervenierte auch der Lagerkommandant von Compiègne, der auf den schlechten Bekleidungszustand der Juden hinwies („völlig zerlumpt“) und Nährich gegenüber ein bemerkenswertes Argument vorbrachte: „Eine Transportierung nach dem Osten sei bei diesen Juden unter den gegenwärtigen Verhältnissen nicht vertretbar, selbst wenn man unter Würdigung der Deportation als Vergeltung und Strafmaßnahme die strengsten Maßstäbe anlege.“ Nährich riet, eine einmalige Zusendung eines Kleiderpakets zuzulassen, „um zu vermeiden, daß nach der Durchführung der Deportation Dienststellen im Osten schließlich vor die Notwendigkeit gestellt werden, in den dringendsten Fällen Textilien zu verabfolgen“. Die vom Lagerkommandanten ebenfalls aufgeworfene Frage eines Briefverkehrs beantwortete Nährich negativ: In dieser Hinsicht seien „die Deportationsjuden so zu behandeln, als ob die Deportation bereits durchgeführt wäre, da ihr Abtransport nur durch Transportschwierigkeiten verzögert wurde und darauf nicht eine Erleichterung in ihrer Allgemeinbehandlung eintreten darf“.141 Schließlich – zwei Wochen vor Abfahrt des ersten Transports – erhielt das Generalkommissariat für Judenfragen von Nährich den Bescheid, die Juden hätten inzwischen Gelegenheit erhalten, sich ein Paket mit Kleidungsstücken von ihren Familienangehörigen schicken zu lassen; und obwohl sie in Compiègne „nach den Rationssätzen der französischen Zivilbevölkerung versorgt“ würden, werde den Juden außerdem in nächster Zeit der Empfang eines Pakets mit Lebensmitteln gestattet.142

Der ganze Schriftverkehr, insbesondere die Intervention des Lagerkommandanten, sowie die angeordneten Untersuchungen auf Arbeitsfähigkeit lassen keine Rückschlüsse darauf zu, ob die damit befaßten Beamten der Militärverwaltung – die die Deportation „nach dem Osten“ offensichtlich als eine harte Strafmaßnahme verstanden und die jüdischen Häftlinge in Compiègne dementsprechend behandelten – zu diesem Zeitpunkt ernstlich geglaubt haben, daß mit der Deportation kein anderer Zweck als der eines Einsatzes zur Zwangsarbeit verfolgt werde. Ob es sich um einen Mangel an Vorstellungsvermögen handelte oder ob bereits vorhandene Informationen über Massenverbrechen an Juden in Osteuropa in keinen Zusammenhang mit dem bevorstehenden Transport aus Frankreich gebracht wurden, kann man aus den dienstlichen Dokumenten natürlich nicht ablesen. Der vorläufige Befund lautet also, daß die Militärverwaltung alles daran setzte, das von ihr initiierte Deportationsprogramm auch gemäß dem von ihr bestimmten „Verhaftungszweck“ und nach eigenen Richtlinien durchführen zu lassen.

Während alle Stellen in Paris ganz offensichtlich damit gerechnet hatten, daß die Opfer der Razzia vom Dezember 1941 innerhalb kürzester Frist abtransportiert werden könnten – Zeitschel sprach am 16. Dezember von „den nächsten Tagen“143 –, richtete das Referat IV B 4 des Reichssicherheitshauptamts am 24. Dezember ein von Gestapochef Müller unterzeichnetes Telegramm an das Oberkommando des Heeres und nachrichtlich an Knochen bzw. dessen Vertreter.144 Die Pariser Sipo-SD hatte sich sofort nach Bekanntwerden der Deportationsanordnung des Militärbefehlshabers Anfang Dezember an das Reichssicherheitshauptamt gewandt, vermutlich um die Transportmöglichkeiten zu erkunden; das OKH muß am 13. Dezember in der gleichen Sache angefragt haben, und außerdem hatte Knochen offenbar in Berlin eine persönliche Besprechung mit Eichmann geführt.145 Nunmehr teilten Eichmann und Müller mit, daß die „Durchführung des Transportes von 1.000 Juden von Frankreich nach dem Osten derzeit nicht möglich“ sei. Zur Begründung hieß es, der Chef des Transportwesens der Wehrmacht habe verlangt, „eine Reihe von Judentransporten aus dem Reich nach dem Osten auf Grund der angespannten Transportlage zu verschieben“ (das bezog sich wahrscheinlich auf das laufende, zweite Deportationsprogramm aus den deutschen Großstädten nach Riga, das tatsächlich am 15. Dezember unterbrochen wurde), und außerdem seien die Reichsbahnstrecken durch den „Weihnachtsurlauberverkehr“ belegt. Die Dienststelle der Sipo-SD Paris sei angewiesen worden, die „in Betracht kommenden 1.000 Juden in einem Lager zu konzentrieren“. Dies hatte, wie dargestellt, der Militärbefehlshaber allerdings längst veranlaßt. Das Telegramm kündigte an, es sei vorgesehen, die Juden „im Rahmen der im Februar oder März 1942 anlaufenden weiteren Evakuierungsaktionen“ abzuschieben.146 Gegen die gleichzeitig durch die Militärverwaltung angeordnete Deportation von 500 „Jungkommunisten“ äußerte das Reichssicherheitshauptamt im übrigen sicherheitspolizeiliche Bedenken: Eine „gemeinsame Unterbringung von Juden und franz[ösischen] Kommunisten in einem Durchgangs-Ghetto im Osten, in das diese Juden eingewiesen werden“ – so die bemerkenswert detaillierte Auskunft – sei ebensowenig angebracht wie ein „Abschub“ der Kommunisten „in die besetzten Ostgebiete“; allenfalls käme eine Überstellung in ein Konzentrationslager in Deutschland in Betracht.147 Knochen wurde angewiesen, mit dem Militärbefehlshaber Verbindung aufzunehmen. Doch drei Tage später erhielt von Stülpnagel direkt durch das Oberkommando des Heeres eine gleichlautende Nachricht, die ebenfalls anführte, „aus Transportgründen“ könnten die Juden zur Zeit nicht abgeschoben werden. Dies Fernschreiben dürfte allerdings in Unkenntnis der vom Militärbefehlshaber beanspruchten Zuständigkeit für Compiègne abgesandt worden sein, denn das OKH schrieb, die 1.000 Juden seien „dem dortigen Beauftragten des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD zur vorläufigen Konzentrierung in einem Lager in Frankreich zu übergeben“.148 Anfang Januar 1942 schließlich setzte die Gruppe Polizei der Militärverwaltung in einem von Best unterzeichneten Schreiben ihrerseits die Dienststelle Paris der Sipo-SD von der Verzögerung des Transports in Kenntnis und informierte sie darüber, unter diesen Umständen sei beabsichtigt, „die 1.000 Juden vorläufig im Lager Compiègne zu belassen“.149

Täter im Verhör

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