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Erste Razzien und Internierungen

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Die Vorgeschichte des ersten Deportationszugs vom 27. März 1942 und der fünf folgenden Transporte beginnt mit der Razzia vom 14. Mai 1941, von der bereits im vorigen Kapitel die Rede war, und mit einer weiteren Verhaftungswelle, die am 20. August 1941 einsetzte. Im Mai wurden mehr als 3.700 ausländische Juden, die meisten von ihnen polnischer Herkunft, auf Weisung der Militärverwaltung von französischen Polizeikräften in Paris verhaftet und in den Lagern Pithiviers und Beaune-la-Rolande im Departement Loiret interniert. Im August nahm die Pariser Polizei im Zusammenhang von Präventivmaßnahmen der Besatzungsmacht über 4.200 Juden fest, darunter erstmals auch französische Staatsangehörige, die in das Lager Drancy eingewiesen wurden. Wie aber gelang es den Deutschen, Juden in großer Zahl festnehmen zu lassen und damit die entscheidende Voraussetzung für die spätere „Endlösung“ zu schaffen?

Die Einrichtung von speziellen Haftlagern für Juden im besetzten französischen Gebiet ging auf eine Initiative Danneckers und Knochens zurück, die von der Militärverwaltung innerhalb kurzer Frist aufgegriffen und umgesetzt wurde. Heydrich hatte die Internierung von Juden mit deutscher, ehemals österreichischer, tschechoslowakischer und polnischer Staatsangehörigkeit schon am 30. Oktober 1940 angeordnet, um – wie es in dem Erlaß an den Beauftragten des Chefs der Sipo-SD für Belgien und Frankreich hieß – „die Gefahr eines Rückströmens“ dieser Juden in das deutsche Reichsgebiet zu verhindern und sie „bei einer etwaigen Gesamtevakuierung aus Europa“ als erste abtransportieren zu können.1 Außer auf diesen Erlaß stützten sich Knochen und Dannecker auf das Faktum, daß die Vichy-Regierung durch Verabschiedung eines „Gesetzes über ausländische Staatsangehörige jüdischer Rasse“ vom 4. Oktober 1940 ihrerseits die Möglichkeit geschaffen und auf dem Territorium der unbesetzten Südzone Frankreichs auch bereits damit begonnen hatte, Zehntausende von Juden (Dannecker schätzte die Zahl auf 40.0002) in Internierungslager einzuweisen. Vor diesem Hintergrund machten sie der Militärverwaltung am 28. Januar 1941 in einem von Dannecker diktierten und von Knochen unterzeichneten Schreiben den Vorschlag, „Judenkonzentrationslager“ auch im besetzten Gebiet zu errichten und mit der Festnahme von ausländischen Juden, Immigranten und Flüchtlingen, zu beginnen, wobei sie allein für Paris eine – extrem hoch gegriffene – Zahl von 100.000 nannten und zwei Argumente anführten, um die Militärs zu überzeugen, ein sicherheitspolitisches und ein ökonomisches. Erstens unterstützten die ausländischen Juden die pro-englische und gaullistische Propaganda; zweitens sei der Antisemitismus der Franzosen nur zu mobilisieren, wenn damit wirtschaftliche Vorteile verbunden würden: „Die KZ-Inhaftierung der rund 100.000 in Paris lebenden fremdstaatigen Juden würde“, so betonte der Leiter des Judenreferats, „zahlreichen Franzosen Gelegenheit bieten, sich aus den unteren Schichten zum Mittelstand herauszuheben.“ Abschließend regte das Schreiben eine baldige Besprechung der beteiligten deutschen Stellen an, „damit raschestens eine Lösung dieses Problems als Teilstück auf dem Weg zur endgültigen Bereinigung der Judenfrage erfolgen kann, die im Sinne der sowohl vom Führer als auch vom Reichsmarschall [Göring] gewünschten Endlösung liegt“.3 Wer eine derartige Massenverhaftung organisieren sollte, ließen Dannecker und Knochen zunächst offen, und darüber wurde auch auf der nachfolgenden Besprechung Anfang Februar mit Vertretern der Militärverwaltung nicht diskutiert.4

Nun waren die französischen Behörden im besetzten Gebiet zur Zusammenarbeit mit der Besatzungsmacht verpflichtet. Da Vichy außerdem die rechtliche Grundlage für eine Internierung der Juden geschaffen hatte, wollte die Militärverwaltung, nicht zuletzt um den Schein zu wahren und politische Verwicklungen zu vermeiden, auch die praktische Umsetzung der französischen Regierung und ihren Polizeikräften überlassen. Die Aufgabe der Militärverwaltung, hieß es im Lagebericht des Kommandostabs für den Monat Februar 1941, in dem erstmals von einer baldigen „Unterbringung aller nichtfranzösischen Juden in Konzentrationslagern“ gesprochen wurde, beschränke sich darauf, die „restlose Durchführung“ des Vichy-Gesetzes sicherzustellen und bei der Lösung der damit verbundenen erheblichen „technischen Schwierigkeiten“ mitzuwirken, rechnete man doch ebenfalls mit 100 - 120.000 ausländischen Juden im besetzten Gebiet.5 Während Dannecker Ende Februar in einer weiteren Gesprächsrunde mit Abetz, Achenbach und Zeitschel seine Pläne auf den Tisch legte und anscheinend darauf hoffte, den Militärbefehlshaber – mit Unterstützung der Botschaft – veranlassen zu können, „mit sofortiger Wirkung dem SD Vollmachten zur Inhaftierung aller Juden zu geben und darüber hinaus bei einem etwa schlagartigen Einsatz für einige Tage entsprechende Truppen zur Verfügung zu stellen“,6 hielt sich die Militärverwaltung naturgemäß an ihre kollaborationspolitischen Grundsätze. Eine von deutschen Truppen durchgeführte Judenrazzia hätte im Frühjahr 1941 vermutlich zu einer erheblichen Belastung des Verhältnisses zwischen dem Besatzungsregime, der Vichy-Regierung und der französischen Bevölkerung geführt, jedenfalls wäre mit größerem Widerstand zu rechnen gewesen. Überdies fehlten den Deutschen die personellen und sachlichen Mittel, um eine solche Operation in einer Millionenstadt wie Paris mit Aussicht auf Erfolg beginnen zu können.7

So griff der Chef der Verwaltungsabteilung des Militärbefehlshabers, Werner Best, den Vorschlag der Sipo-SD auf, entschied sich aber für ein realistischeres Vorgehen und schuf damit die nötigen Voraussetzungen für die Einrichtung von Lagern wie für die erste größere Festnahmeaktion während der deutschen Besatzung. In einem Gespräch Ende März 1941 drängte Best den Delegierten des Vichy-Innenministeriums, Ingrand, das erwähnte Gesetz vom 4. Oktober 1940 auch in der Nordzone anzuwenden. Und während er die französische Regierung aufforderte, Maßnahmen zu ergreifen, „um die Ausweisung oder Internierung der im besetzten Gebiet wohnhaften ausländischen Juden sicherzustellen“,8 wies er gleichzeitig die Militärverwaltungsstellen in den Provinz und den Kommandanten von Groß-Paris am 27. März an, die zuständigen französischen Behörden „bei der Ermittlung von Internierungsmöglichkeiten zu unterstützen“.9

Die Vichy-Regierung scheint eine Zeitlang gezögert zu haben, den Direktiven Bests Folge zu leisten. Als sich der neuernannte französische Generalkommissar für Judenfragen Vallat Anfang April 1941 beim deutschen Militärbefehlshaber vorstellte, konfrontierte Best ihn zunächst mit den umfassenden Plänen zu einer territorialen „Lösung der Judenfrage“. Solche Pläne waren in Berlin seit der Besetzung Frankreichs im Sommer 1940 in verschiedener Form ausgearbeitet worden, zunächst mit der Perspektive einer „Aussiedlung“ der europäischen Juden nach Madagaskar, dann ab Frühjahr 1941 unter der Voraussetzung einer Eroberung sowjetischer Territorien (Danneckers Planungspapier zur Einrichtung eines „Zentralen Judenamts“ von Ende Januar gehört in diesen Zusammenhang10), und sie dürften auch allen deutschen Dienststellen in Paris bekannt gewesen sein. „Das deutsche Interesse“, so erklärte Best im Beisein des Militärbefehlshabers Otto von Stülpnagel dem Generalkommissar, der zwar ein Antisemit französischen Typs war, dem aber der eliminatorische Rassenwahn seines Gesprächspartners fern lag, bestehe

in einer progressiven Entlastung aller Länder Europas vom Judentum mit dem Ziele der vollständigen Entjudung Europas.

Für das besetzte Gebiet hielt Best sodann einen konkreten Maßnahmenkatalog bereit, den er Vallat vortrug und der wiederum mit der Forderung nach Ausweisung bzw. Internierung von Juden begann, die er schon Ingrand gegenüber erhoben hatte:

1 Ausweisung der Juden nichtfranzösischer Staatsangehörigkeit in dem Maße und in dem Tempo, in dem die Rückkehr derselben in ihre Länder möglich ist. Juden aus den der Hoheit des Deutschen Reiches unterstehenden Gebieten sind nicht auszuweisen; die Verfügung über sie behält sich die Militärverwaltung vor.

2 Internierung einer gewissen Zahl – 3000 - 5000 – von Juden aller Staatsangehörigkeiten (nichtfranzösischer einschließlich deutscher usw. Staatsangehörigkeit wie auch französischer Staatsangehörigkeit), die aus politischen, kriminellen und sozialen Gründen besonders gefährlich oder unerwünscht sind.11

Woher Best die Zahl von 3.000 - 5.000 festzunehmenden Juden bezog und ob er sie im Hinblick auf eventuelle Internierungsmöglichkeiten nannte, läßt sich nicht eindeutig beantworten. Sie steht jedenfalls in keinem Verhältnis zu der von Knochen und Dannecker Ende Januar vorgeschlagenen Verhaftung von 100.000 ausländischen Juden in Paris – eine Schätzung, die in dem erwähnten Februar-Lagebericht wiederholt wurde, die jedoch weit überhöht war, obgleich die Deutschen seit der im Oktober 1940 aufgrund der ersten Verordnung über Maßnahmen gegen Juden durchgeführten Zählung und der Anlage einer „Judenkartei“ über relativ genaue statistische Angaben zur jüdischen Bevölkerung des besetzten Gebiets verfügten.

Vallat lehnte nun offenbar rundheraus ab, die geforderten Maßnahmen unter Verantwortung des Generalkommissariats für Judenfragen durchführen zu lassen. Gegen den Plan einer Ausweisung wandte er ein, daß es kaum noch Länder gebe, die bereit seien, Juden aufzunehmen, und im übrigen verwies er auf die Zuständigkeit der Besatzungsmacht bzw. der französischen Polizei, die dem Vichy-Innenministerium unterstand.12 In einem Gespräch mit Carltheo Zeitschel, dem „Judenexperten“ der Deutschen Botschaft, das im unmittelbaren Anschluß an das Treffen zwischen Vallat und dem Militärbefehlshaber stattfand, brachte Best denn auch seine Enttäuschung darüber zum Ausdruck, „daß nach Äußerung von Vallat der unangenehme Teil, nämlich die Durchführung der Ausweisung, respekt. Internierung doch an ihr [der Militärverwaltung; A.M.] hängen bleiben sollte“. Des weiteren erklärte Best Zeitschel zufolge, „daß die Militärbehörde selber das größte Interesse daran habe, daß die Juden möglichst bald verschwinden, daß man aber als äußerste Möglichkeit nur ein Lager für 5000 Personen freimachen könnte“. Über welches Internierungslager konkret gesprochen wurde, bleibt zwar unklar, aber Best verwies darauf, daß keine weiteren Lager zur Verfügung stünden, da nicht einmal für die Organisation Todt Unterkünfte zu beschaffen seien.13

Angesichts dieser Argumentation, die zwischen radikalen Absichtserklärungen und pragmatischen Hinweisen auf begrenzte Haftkapazitäten schwankte, schlug Zeitschel vor, „dieses Lager der Fünftausend entweder mit den politisch, wirtschaftlich und sozial untragbaren Elementen der Juden zu belegen oder es evtl. als ein Durchgangslager zu betrachten und zu versuchen, schubweise die Juden in die Lager des unbesetzten Gebietes los zu werden“.14 Doch das war ein unrealistischer Gedanke, denn die Vichy-Regierung hatte bereits im Oktober/November 1940 gegen die Abschiebung von mindestens 6.500 Juden aus Baden und der Saarpfalz über die deutsche Reichsgrenze nach Frankreich und weiter über die Demarkationslinie in die unbesetzte Südzone protestiert,15 und sie scheint auch eine Aufnahme von Juden aus der Nordzone zu keinem Zeitpunkt in Erwägung gezogen zu haben.

Als vorerst nicht durchsetzbar erwies sich schließlich Bests Forderung (die noch über die der Sipo-SD hinausging), nicht nur eine Anzahl jüdischer Immigranten und Flüchtlinge, sondern auch Juden französischer Nationalität internieren zu lassen. Während die Vichy-Regierung auch später niemals Umstände machte, die in Frankreich lebenden ausländischen Juden an die Deutschen auszuliefern, bemühte sie sich bis gegen Ende der Besatzungszeit weitgehend und nicht ohne Erfolg um den Schutz ihrer eigenen jüdischen Staatsbürger. Eventuelle Verhandlungen über diese Frage der Staatsangehörigkeit oder weitere Anordnungen von deutscher Seite sind für das Frühjahr 1941 allerdings nicht dokumentiert.

Nachdem die französischen Behörden erstmals am 26. März 1941 aufgefordert worden waren, Internierungsmaßnahmen einzuleiten, vergingen jedoch noch mehrere Wochen Vorbereitungszeit, bis die Pariser Polizeipräfektur am 14. Mai 1941 anhand der von ihr geführten „Judenkartei“ 3.710 jüdische Männer polnischer, tschechischer und ehemals österreichischer Staatsangehörigkeit zur „Überprüfung ihrer Situation“ vorladen, festnehmen und in die Lager Pithiviers und Beaune-la-Rolande überstellen ließ. Insgesamt hatten fast 6.500 Personen eine Vorladung (ein „billet vert“) erhalten, aber nicht alle fielen der Täuschung zum Opfer. Die Zahl der Festgenommenen bewegte sich im Rahmen der Vorgaben der Militärverwaltung (3.000 - 5.000). Im Lagebericht des Militärbefehlshabers für April/Mai 1941 findet sich der Hinweis, die Juden seien „im Einvernehmen mit den deutschen Dienststellen“ ausgewählt worden – es dürfte sich um Danneckers Referat gehandelt haben.16 Staatsrat Ingrand vom Vichy-Innenministerium bestätigte kurz darauf gegenüber Vallat, daß diese erste Massenverhaftung von Juden im besetzten Gebiet auf die Weisung Bests von Ende März zurückging.17 Mit der Verwaltung der in der Nähe von Orléans eingerichteten Internierungslager wurde der Präfekt des Departements Loiret beauftragt. Nicht nur hatte die Militärverwaltung erreicht, daß die Festnahmen von der französischen Polizei vorgenommen wurden, sondern auch die beiden Lager standen also unter französischer Aufsicht.

Zusammenfassend läßt sich – trotz spärlicher Quellenlage – festhalten, daß die Einflußnahme der Militärverwaltung auf die Vorbereitung und Durchführung der Razzia vom 14. Mai entscheidend war. Allerdings strich Dannecker in einem längeren Bericht vom 1. Juli 1941 heraus, die „Inhaftierung von 3600 polnischen Juden“ sei „auf Grund eines französischen Gesetzes und unserem Druck“ erfolgt.18 Und sicherlich wird man auch eine Intervention der Deutschen Botschaft vermuten dürfen, wie es der Historiker Billig getan hat. Billig nimmt an, daß die Militärverwaltung zwischen Ende Februar (als Dannecker mit den Verantwortlichen der Botschaft über sein Projekt des „Zentralen Judenamts“ und über „Vollmachten zur Inhaftierung“ sprach) und Ende März/Anfang April 1941 (als Best die Anweisung gab, „Internierungsmöglichkeiten“ zu suchen, und das erste Treffen mit Vallat stattfand) ihre Haltung „radikal änderte“ und daß es dazu eines stärkeren Drucks bedurfte als den, den Knochen bzw. Dannecker auszuüben in der Lage waren.19 Die Zurückhaltung der Militärs in der Frage der Internierung, die Billig stark hervorhebt, bezog sich jedoch ausschließlich auf zwei Punkte: Erstens bestand die prinzipielle, von politischen Erwägungen diktierte Absicht, alle mit der Judenverfolgung zusammenhängenden exekutiven Maßnahmen – den „unangenehmen Teil“, wie sich Best ausdrückte – möglichst von französischen Behörden durchführen zu lassen. An diesem Kurs hatte sich seit 1940 nichts geändert. Zweitens gab es eine Weigerung, die für Masseninternierungen erforderlichen Lager im besetzten Gebiet über eine begrenzte Zahl hinaus zu erweitern. Wenn auch die Gründe dafür nicht recht ersichtlich sind, so sollten sich die fatalen Folgen bald herausstellen, als der Mangel an Haftstätten zum Argument für beschleunigte Deportationen wurde. In der Sache selbst zeigte sich die Militärverwaltung nicht weniger entschieden als die Botschaft und das Judenreferat der Gestapo. Der zitierte, vom Chef des Kommandostabs Speidel in Zusammenarbeit mit der Gruppe Polizei vorgelegte Abschnitt des Lageberichts des Militärbefehlshabers für Februar 1941, der sich wie ein „Echo“ (Billig) auf das Schreiben Danneckers und Knochens vom 28. Januar liest, war in dieser Hinsicht nicht mißzuverstehen. Da die französische Regierung bisher in der Durchführung der von ihr selbst gegen die Juden getroffenen Maßnahmen im besetzten Gebiet „nicht viel Eifer gezeigt“ habe, so formulierten die Militärs ihrerseits, erscheine es notwendig, „die Lösung des Judenproblems von deutscher Seite mit Energie vorwärts zu treiben“.20

In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, daß das Reichssicherheitshauptamt ebenfalls noch im Mai 1941 – mit einem über den Militärbefehlshaber weitergereichten Erlaß an die Sipo-SD – versuchte, die individuelle Auswanderung von Juden aus dem besetzten und unbesetzten Frankreich „im Hinblick auf die zweifellos kommende Endlösung der Judenfrage“ zu unterbinden.21 Ließ sich das vorerst für die französische Südzone auch nicht kontrollieren, die noch begrenzte Emigrationsmöglichkeiten bot, so drohte die besetzte Nordzone spätestens jetzt zu einer Falle für die jüdische Bevölkerung zu werden. Die Militärverwaltung hatte durch die Anordnung, Juden in Lagern zu internieren, die Voraussetzungen geschaffen, unter denen später die Berliner Entscheidungen zur Deportation und „Endlösung“ binnen kurzem greifen konnten. Eine solche Anordnung war im übrigen besetzten Westeuropa bis dahin nirgendwo getroffen worden.

Die zweite Razzia vom 20. August 1941 und die Entwicklung bis zum Jahresende standen unter einem neuen Vorzeichen – dem der Repressionspolitik. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion nahm die französische Widerstandsbewegung einen deutlichen Aufschwung. Öffentliche Demonstrationen der verbotenen Kommunistischen Partei Frankreichs, vermehrte Sabotage gegen die Infrastruktur der Besatzer und die ersten bewaffneten Angriffe auf Angehörige der Wehrmacht veranlaßten den Militärbefehlshaber, Präventiv- und Vergeltungsmaßnahmen zu verhängen. Diese Maßnahmen eskalierten rasch, als die Zahl der angeordneten Geiselerschießungen auf Druck aus Berlin in die Hunderte ging, und spätestens ab Dezember 1941 wurden sie direkt mit der Judenverfolgung verknüpft.22

Wie aus allen überlieferten Dokumenten hervorgeht, sollten die zwischen dem 20. und 25. August durchgeführten Massenverhaftungen von über 4.000 jüdischen Männern in Paris mit dem vorfabrizierten, aus dem antisemitischen Repertoire stammenden Argument gerechtfertigt werden, hinter der Agitation der Kommunisten stünden die Juden. Der Lagebericht des Militärbefehlshabers für die Monate August/September läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: „In Verfolg einer Demonstration, an der sich Juden führend beteiligten“, heißt es dort mit Bezug auf eine Kundgebung der Kommunistischen Jugend in Paris am 13. August, „wurden, um die Gesamtheit der Juden einzuschüchtern, am 20. 8. 41 schlagartig rund 4000 männliche Juden zwischen 18 und 50 Jahren [...] verhaftet und im Lager Drancy interniert.“23

Weniger klar ist, wer die Festnahmen befohlen und den Einsatz der französischen Polizei angefordert hat. Am 18. August fand „auf Veranlassung der Besatzungsbehörden“ eine vorbereitende Besprechung mit Vertretern der Pariser Polizeipräfektur statt, in deren Verlauf offenbar ein mündlicher Einsatzbefehl übermittelt und das polizeiliche Vorgehen im einzelnen festgelegt wurde. Die Deutschen übergaben Verhaftungslisten mit 5.784 Namen, die anhand der „Judenkartei“ ermittelt worden waren, und man vereinbarte die Kooperation von französischen Polizeikräften und Truppen der Wehrmacht.24 Tags darauf wurde der zuständige Präfekt des Seine-Departements durch die Polizeipräfektur darüber informiert, daß etwa 6.000 festzunehmende Personen in das – von den Besatzungsbehörden für diesen Zweck zur Verfügung gestellte, aber völlig unzureichend ausgestattete – Lager Drancy eingewiesen werden sollten.25 Das heißt, daß sich deutsche Stellen – unter Mißachtung des Vichy zugestandenen Souveränitätsspielraums – direkt an französische Exekutivorgane gewandt und ihnen Anweisungen gegeben hatten. Die französische Regierung und ihre Generaldelegation für die besetzten Gebiete waren nicht offiziell unterrichtet worden, jedenfalls erhielt der Delegierte des Vichy-Innenministeriums in der besetzten Zone, Ingrand, erst am 20. August Kenntnis von der bereits laufenden Aktion, vermutlich über die Pariser Polizeipräfektur. Nach deren Angaben nun hatte „Leutnant Dannecker (von der SS) [...] diese Verhaftungen angeordnet“.26

Als Ingrand, den vor allem die Tatsache beunruhigte, daß die Deutschen erstmalig auch Juden französischer Staatsangehörigkeit hatten festnehmen lassen, am 21. August im Hotel Majestic (dem Amtssitz des Militärbefehlshabers) eine Erklärung verlangte, erhielt er dagegen zur Antwort, diese antijüdischen Maßnahmen seien „von General von Stülpnagel beschlossen und vom Kommandanten von Paris mit Hilfe der Polizeipräfektur durchgeführt worden“.27 War dies eine Richtigstellung oder eine Irreführung? Ingrand bekam keinerlei Auskünfte, was die Ausweitung der Massenverhaftungen auf französische Staatsangehörige betraf.28 Die Vertreter der Militärverwaltung konzedierten lediglich, es müsse vermieden werden, „daß unbefugte subalterne Beamte auf direktem Weg Anweisungen an den Polizeipräfekten erteilten“, und sie gaben Ingrand zu verstehen, daß die Razzia zunächst beendet sei. Davon jedoch konnte keine Rede sein, und auch die Rolle Danneckers wurde von den Militärs wohl eher heruntergespielt. Denn wie aus einem Vermerk der Polizeipräfektur vom 21.August hervorgeht, war es Dannecker, der das Ergebnis der Verhaftungen vom Vortag – etwa 3.000 Juden waren bisher festgenommen worden – für nicht ausreichend erklärte und von der französischen Polizei verlangte, die Zahl bis zum 23. August um weitere 1.000 zu erhöhen.29 Ob allerdings der Leiter des Judenreferats die gesamte Operation vorgeschlagen und der Militärbefehlshaber dem zugestimmt hat, oder ob die Anordnung von den Militärbehörden ausging, die Maßnahmen gegen die zunehmenden kommunistischen Aktivitäten ergreifen wollten, für die man die Juden haftbar machte, ist dokumentarisch nicht ausreichend belegt.30 Womöglich war auch wiederum die Deutsche Botschaft beteiligt. So meldete das Generalkommissariat für Judenfragen in Vichy, das noch im Verlauf des 20. August von der Razzia benachrichtigt worden sein muß, in einem Schreiben an den Regierungschef Darlan, es seien Funktionsträger der Botschaft gewesen, die „die Initiative zu diesen Verhaftungen ergriffen“ hätten.31

Die Razzia begann am 20. August im XI. Pariser Arrondissement, einem der Zentren der jüdischen Immigration. Rund 2.500 französische Polizeibeamte, verstärkt durch die deutsche Feldgendarmerie und eine Gruppe der Geheimen Feldpolizei,32 riegelten das Stadtviertel ab, blockierten die Metrostationen und nahmen Verhaftungen auf der Straße und Haussuchungen vor. Die Beteiligung deutscher Truppen stellte ein Novum dar. Zum ersten Mal bot sich das öffentliche Bild einer deutsch-französischen Kollaboration im Vorgehen gegen die Juden. Der zitierte Lagebericht des Militärbefehlshabers für August/September bezeichnete die „Mitarbeit der französischen Polizei“ als „gut“.33 Manchen der listenmäßig erfaßten Personen gelang es offenbar, zu fliehen oder sich zu verstecken.34 Insgesamt wurden bis zum 25. August 4.232 Männer im Alter von 18 bis 50 Jahren festgenommen, darunter etwa 1.500 französische Juden, und im Lager Drancy interniert. Drancy – eine ursprünglich für Sozialwohnungen geplante, unfertige Anlage aus fünfstöckigen Betonbauten am Rande der französischen Hauptstadt und bislang von den Deutschen zur Internierung von Kriegsgefangenen genutzt – war damit das dritte und größte Haftlager für Juden in der Nordzone.35

Von französischen Behörden bewacht und verwaltet,36 stand Drancy faktisch unter der doppelten Aufsicht des Kommandanten von Groß-Paris und von Danneckers Judenreferat, das letztlich über Internierungen und Freilassungen entschieden haben dürfte.37 Das Protokoll einer Besprechung, die wenige Tage nach der Razzia stattfand und an der – neben französischen Beamten und ungenannten „Offizieren“ der Sipo-SD – der Oberkriegsverwaltungsrat Lippert als Vertreter der Polizeigruppe des Stadtkommandanten teilnahm, zeigt indes, in welchem Umfang die Militärverwaltung Einfluß auf das Lagerregime nahm. Lippert, der ständigen Kontakt zur Pariser Polizeipräfektur unterhielt,38 ordnete bei dieser Gelegenheit nicht nur an, daß Entlassungen aus Drancy der schriftlichen Genehmigung seiner Dienststelle bedürften; sondern er verlangte zudem, daß die Häftlinge zur Arbeit angehalten würden, und befahl – weil die hohen Lagergebäude leicht einsehbar waren – ausdrücklich, „den Internierten zu verbieten, sich an den zur Straße gelegenen Fenstern zu zeigen. Diese Fenster müßten von außen blau gestrichen und geschlossenen gehalten werden.“39 Von dem Regelungswahn abgesehen, der in solchen Vorschriften zum Ausdruck kam, belegt dies Protokoll die Zuständigkeit von Verwaltungsbeamten des Kommandanten von Groß-Paris für die Internierung von Juden. Da dem Kommandanten – Generalleutnant Schaumburg – auch die in Paris stationierten Truppen unterstanden,40 und da zudem Ingrand im Majestic die Auskunft erhalten hatte, die Massenverhaftung vom 20. August sei „vom Kommandanten von Paris mit Hilfe der Polizeipräfektur durchgeführt“ worden,41 liegt die Vermutung nahe, daß auch die organisatorischen Anordnungen für die Razzia – erinnert sei an die erwähnte Vorbesprechung vom 18. August – nicht nur vom Judenreferat, sondern auch von der Militärverwaltung getroffen wurden.

Was nun die geforderte Arbeitsauflage für die Häftlinge betrifft, so wurde zeitweilig noch ein anderes Projekt verfolgt, das auf Dannecker oder auf die Abteilung Wirtschaft des Militärbefehlshabers zurückging. Dem Lagebericht für August/September, der die Verhaftung von 4.000 Juden meldete, ist zu entnehmen, daß offenbar ein „Gruppeneinsatz der Internierten in landwirtschaftlichen Betrieben der Ostland“ geplant war.42 (Die „Ostland“, eine auch im besetzten Polen aktive Treuhandgesellschaft, verwaltete unter Leitung der Gruppe „Landbewirtschaftung“ der Militärverwaltung im nordfranzösischen Sperrgebiet die Höfe geflohener französischer Bauern, denen im Zuge der Germanisierungspolitik die Rückkehr verweigert wurde.43) Gab es also Überlegungen, die Juden in Frankreich zur Zwangsarbeit einzusetzen?

Wenige Tage vor der Razzia hatte Dannecker den unter seiner Kontrolle stehenden „Koordinationsausschuß“ der Pariser jüdischen Wohlfahrtsorganisationen nach längeren Verhandlungen ultimativ aufgefordert, sofort 6.000 jüdische Männer für landwirtschaftliche Arbeiten in den Ardennen bereitzustellen. Im Gegenzug könne, so versprach er dessen Vertretern, von neuerlichen Internierungen abgesehen werden. Der Koordinationsausschuß weigerte sich, eine Zwangsrekrutierung von Arbeitskräften mitzutragen, aber die Informations juives, ein vom Ausschuß herausgegebenes, ebenfalls von Dannecker ins Leben gerufenes Propagandablatt, veröffentlichten daraufhin einen Aufruf an Freiwillige.44 Sollte Dannecker die Razzia vom 20. August als Druckmittel oder Repressalie benutzt haben, weil der Koordinationsausschuß seiner Aufforderung nicht nachgekommen war?45 Die von ihm genannte Zahl der zu stellenden Zwangsarbeiter – die von der „Ostland“ vorgegeben gewesen sein dürfte – glich derjenigen, die die Deutschen bei der Planung der Massenverhaftungen zugrundelegten. Allerdings liefen die Vorbereitungen für die Razzia bereits, als Dannecker den Koordinationsausschuß zusammenrufen ließ – das spricht eher für ein doppeltes Spiel.

Der Freiwilligenappell in den Informations juives kann keine große Resonanz gehabt haben, und ebensowenig waren weitere Rekrutierungsversuche sonderlich erfolgreich. Zwar wurde Anfang November 1941 „eine erste Gruppe von Juden aus Paris geschlossen in Betrieben der Landbewirtschaftung im Sperrgebiet eingesetzt“, wie der nächste Lagebericht des Militärbefehlshabers festhielt.46 Doch Anfang 1942 gab das Referat „Arbeitseinsatz“ der Wirtschaftsabteilung in einem Rundschreiben die Anzahl der „Juden aus Paris, die sich freiwillig beim jüdischen Koordinationsausschuß zur Arbeitsaufnahme [...] gemeldet“ hätten und seit einiger Zeit in „jüdischen Arbeitergruppen [...] im Bereich des Kreislandwirts Sedan eingesetzt“ würden, mit nur etwa 160 - 170 an.47

Obschon es also Pläne gegeben hat, Juden in größerer Zahl in Arbeitslagern zusammenzufassen,48 wurde im besetzten Frankreich – anders als beispielsweise in Belgien – nicht auf das Mittel der Zwangsarbeit zurückgegriffen, um der jüdischen Bevölkerung habhaft zu werden und sie zu gegebener Zeit abtransportieren zu können, sondern die Deutschen wählten den direkten Weg der Verhaftung und Internierung. Es liegt also ein Irrtum vor, wenn in dem vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt herausgegebenen Standardwerk „Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg“ behauptet wird, die im August 1941 auf Anordnung des Militärbefehlshabers verhafteten und in Drancy internierten „rund 3500 Pariser Juden“ seien „später zum Arbeitseinsatz in der Landwirtschaft des nordfranzösischen Sperrgebiets gezwungen“ worden.49

Die Fakten stellen sich anders dar: Von den über 4.200 Internierten, die in Drancy einem Regime von Hunger und Krankheit ausgesetzt waren,50 wurden in der Folgezeit mehrere Hundert aus medizinischen Gründen provisorisch entlassen, doch ab Dezember 1941 wählte die Militärverwaltung in Drancy Geiseln für Massenerschießungen aus, in den ersten Monaten des Jahres 1942 rekrutierte Dannecker mehrfach im Lager „Freiwillige“ für landwirtschaftliche Arbeiten, die in Wirklichkeit nach Compiègne verbracht und kurz darauf deportiert wurden. Die ersten drei im März und Juni 1942 zusammengestellten Transporte nach Auschwitz bestanden zum größten Teil aus Häftlingen, die in Drancy gewesen waren.51 Mitte 1942 schließlich wurde Drancy zum zentralen französischen Konzentrations- und Durchgangslager und zur Vorhölle der Vernichtungsstätten des Ostens.

Die eigentliche Bedeutung der „Ostland“-Pläne aber liegt darin, daß hier – in den Verhandlungen Danneckers mit dem „jüdischen Koordinationsausschuß“ – zum ersten Mal die Alternative von „Arbeitseinsatz“ oder Internierung zur Täuschung der potentiellen Opfer benutzt wurde. Diese Verwechslungsstrategie setzte sich fort, als die Deportationen begannen, die im Zeichen der Zwangsarbeit angeordnet wurden, und sie bildete zugleich eine Basis für die Täterentlastung nach dem Krieg.

Täter im Verhör

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