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Kennzeichnungszwang
ОглавлениеDas gilt auch für die Einführung des sogenannten „Judensterns“ im besetzten französischen Gebiet am 29. Mai 1942. Auch hier läßt sich im Labyrinth von konkurrierenden Zuständigkeiten, Vorstößen, Stellungnahmen und Absprachen, die schließlich zu der – vom Militärbefehlshaber unterschriebenen und vom Höheren SS- und Polizeiführer mit Ausführungsbestimmungen versehenen – „Achten Verordnung über Maßnahmen gegen Juden“ führten, nur schwer die Verantwortung einzelner Protagonisten unterscheiden. Das machte sich Knochen wiederum während seiner Pariser Verhöre zunutze:
Anfang 1942 diskutierten die verschiedenen Dienststellen in Paris über die Einführung des Judensterns. Wie das Telegramm Nr. 1924 vom 27. April 1942 [...] beweist, wurde der Judenstern erst eingeführt, nachdem Hitler selbst auf Vorschlag des Beauftragten für Judenangelegenheiten des RSHA zugestimmt hatte.
Im Mai 1942 einigten sich die Botschaft und die Dienststellen des Militärbefehlshabers auf die Einführung des Judensterns, und das Auswärtige Amt gab ebenfalls sein Einverständnis.
Die mir vorgehaltenen Dokumente zeigen, daß alle Dienststellen (insbesondere auch die Abwehr) bei den Maßnahmen gegen Juden zusammengearbeitet haben und daß Dannecker direkt mit Schleier, Rahn und Zeitschel verhandelt hat; daß wir dagegen negative Stimmungsberichte über die Judenpolitik des Reichs in objektiver Form weitergeleitet haben, zumal wir die Maßnahmen politisch für falsch hielten.106
Das erwähnte Telegramm war von Danneckers niederländischem Kollegen Zoepf an Knochen und an den Leiter der Dienststelle Brüssel der Sipo-SD, Ehlers, gerichtet und informierte über die unmittelbar bevorstehende Einführung des Kennzeichnungszwangs in den Niederlanden. Außerdem erinnerte Zoepf daran, daß bei einer vorausgegangenen Besprechung der „Judensachbearbeiter“ im Reichssicherheitshauptamt am 4. März 1942 angeregt worden war, „den Judenstern in den besetzten Westgebieten gleichzeitig einzuführen“.107
Schon im Herbst des Jahres 1941, kurz nach der Einführung im Reichsgebiet, hatte offenbar auch ein Kennzeichnungszwang in Frankreich zur Diskussion gestanden, und die anfänglichen politischen Bedenken der Botschaft dagegen schwanden in dem Maß dahin, wie der Militärbefehlshaber seinerseits zu Repressalien gegen die jüdische Bevölkerung überging, um der kommunistischen Untergrundbewegung Herr zu werden. In einem persönlichen Schreiben an den französischen Generaldelegierten de Brinon ergriff Otto von Stülpnagel Mitte Dezember die Initiative. Unter Hinweis auf die Teilnahme von Juden an Attentaten gegen Besatzungsangehörige verlangte er „scharfe und umfassende Maßnahmen gegen die Juden“, wobei er an erster Stelle die „Kennzeichnung der Juden in der Öffentlichkeit“ anführte.108 Gleichzeitig bestätigte Carltheo Zeitschel dem für die „Arisierung“ zuständigen Sachbearbeiter der Militärverwaltung Kurt Blanke, „daß Botschafter Abetz nunmehr keine Bedenken dagegen hat, daß die Juden im besetzten Gebiet mit dem Davidstern gekennzeichnet werden“.109 Es war zunächst – entsprechend der Generallinie der deutschen Besatzungspolitik – daran gedacht, der französischen Regierung und ihren Polizeiorganen die Durchführung zu überlassen. Die Militärverwaltung unterbreitete entsprechende Vorschläge,110 aber der Regierungschef Darlan weigerte sich mit Rücksicht auf die öffentliche Meinung, den Ausschluß der Juden aus der Gesellschaft über die bereits von französischer wie von deutscher Seite ergriffenen Maßnahmen hinaus voranzutreiben.111
Daher verzögerte sich das Vorhaben in den darauffolgenden Wochen, doch unterdessen erkundete Knochen über V-Leute die möglichen Auswirkungen einer Kennzeichnung der Juden auf die Haltung der Bevölkerung im besetzten und unbesetzten Gebiet.112 Auch das Pariser Judenreferat arbeitete weiter an den Vorbereitungen, um dann Ende Februar 1942 einen neuerlichen Anlauf zu unternehmen. Lischka und Dannecker versuchten, „im Interesse der einheitlichen Handhabung in den besetzten Westgebieten“ die Kennzeichnung in Belgien und den Niederlanden zu forcieren. Dannecker und die Judenreferenten aus Brüssel, Den Haag und Amsterdam, Asche, Zoepf und Lages, kamen wie erwähnt am 4. März mit Eichmann im Reichssicherheitshauptamt zusammen, um ihr Vorgehen zu koordinieren (zugleich wurde bei dieser Gelegenheit die Deportation von 6.000 Juden aus Frankreich vorbereitet), und für Mitte März setzte Dannecker eine weitere Besprechung der Referenten in Paris an.113 Als deren Ergebnis hielten er und Asche fest, die künftige Verordnung solle generell von „Juden“ sprechen, ohne Ausnahmen für bestimmte Staatsangehörigkeiten oder bei „Mischehen“ zu machen, womit die Deutsche Botschaft einverstanden sei. Zusammenfassend unterstrichen die beiden Referenten nochmals, „daß die Kennzeichnung der Juden in den besetzten Westgebieten als ein im Rahmen der Endlösung der europäischen Judenfrage zu erreichender Punkt gewertet werden“ müsse.114
Nun aber gab es Hindernisse aus Belgien. Der dortige Militärverwaltungschef Eggert Reeder erklärte, „keine direkte Notwendigkeit für die Einführung der Kennzeichnungspflicht zu sehen“, und machte seine Zustimmung von einer höheren Weisung abhängig – vermutlich befürchtete er negative Rückwirkungen auf seine Besatzungspolitik und suchte eine Solidarisierung der belgischen Bevölkerung mit den Juden zu vermeiden.115 So mußten Dannecker und Knochen, die eine gleichzeitige Kennzeichnung der westeuropäischen Juden nicht zuletzt aus Gründen der polizeilichen Überwachung und Eindämmung von grenzüberschreitenden Fluchtbewegungen durchsetzen wollten, Eichmann um eine entsprechende Weisung angehen, um ihr Ziel zu erreichen.116
In der Zwischenzeit war auch die Militärverwaltung wieder tätig geworden. Best informierte nach einer vorangegangenen Besprechung mit der Dienststelle Knochens die Deutsche Botschaft am 6. März schriftlich darüber, daß die Kennzeichnung der Juden im besetzten Gebiet beabsichtigt sei – und zwar nunmehr auf dem Wege einer deutschen Verordnung. Schleier sprach mit Abetz, der äußerte Bedenken, denn er erwartete nach wie vor die Einführung des „Judensterns“ von französischer Seite, wie Schleier dem „lieben Parteigenossen Best“ persönlich mitteilte. In ihrer offiziellen Antwort riet die Botschaft den Militärs, die diese Stellungnahme Ende März wiederum an Knochen weitergaben, man solle die voraussichtliche Ernennung von Darquier de Pellepoix zum neuen Generalsekretär für Judenfragen abwarten. Dieser werde in absehbarer Zeit bereit sein, „die Einführung des Judensterns von sich aus zu veranlassen, und zwar dann gleichzeitig für beide Zonen“, womit auch eine effektive Kontrolle des Kennzeichnungszwangs durch die französischen Polizei sichergestellt sei. Dannecker hielt das – wie sich zeigte, mit Recht – für zu optimistisch.117
Aus mehreren Dokumenten läßt sich ablesen, daß die Botschaft diesen Standpunkt – der nicht zuletzt von der Hoffnung auf einen Wiederaufschwung der deutsch-französischen Kollaboration infolge der Regierungsumbildung in Vichy und des neuerlichen Amtsantritts von Ministerpräsident Laval bestimmt war – bis Ende April 1942 beibehielt.118 Dann vollzog Abetz einen Kurswechsel, womöglich unter dem Eindruck einer Welle von Anschlägen von französischen Widerstandsgruppen gegen die Wehrmacht, d.h. mit Rücksicht auf die Sicherheitsinteressen der Militärs, jedenfalls aber in der zunehmenden Gewißheit, daß die Franzosen von sich aus keine Kennzeichnung von Juden vornehmen würden. Am 2. Mai teilte er dem Auswärtigen Amt mit, er habe den Militärbefehlshaber gebeten, den „Judenstern“ einzuführen. Am 3. Mai trafen Abetz und Knochen zusammen, und Dannecker hielt fest, der Botschafter sei, „nachdem durch die letzten Attentate erneut eine maßgebliche Beteiligung des Judentums erwiesen ist, mit sofortiger Kennzeichnung der Juden einverstanden“. Zeitschel seinerseits, der tags darauf Dannecker telefonisch bat, „unverzüglich die notwendigen Schritte einzuleiten, da er beabsichtige, schon in den allernächsten Tagen auch mit Dr. Best zusammen die Verordnung durchzusetzen“, ließ Best am 5. Mai wissen, die Botschaft habe – angesichts der „Hauptbeteiligung von Juden an den kommunistischen Unruhen“ der letzten Woche – ihre Bedenken gegen die Einführung des „Judensterns“ im besetzten Gebiet fallen gelassen.119 Schließlich brachte Dannecker ebenfalls am 5. Mai im Rahmen eines regelmäßigen Treffens, der sogenannten Dienstagsbesprechung, Vertreter aller beteiligten deutschen Stellen – die Beamten Gelbhaar, Blanke, Bruns und Nährich seitens der Militärverwaltung sowie Legationsrat Zeitschel von der Botschaft – zusammen, um die letzten offenen Fragen der Kennzeichnung zu erörtern (Status von „Mischehen“, „Ausnahmehandlung fremdstaatige Juden“) und sie anschließend Heydrich vortragen zu können, damit – wie es im Protokoll hieß – „eine baldige Entscheidung zusammen mit dem Militärbefehlshaber erzielt wird“.120
Heydrich war am gleichen Tag in Begleitung des künftigen Höheren SS- und Polizeiführers Oberg auf dem Flugplatz Le Bourget gelandet. In der Woche vom 5. bis 12. Mai führte er in Paris eine Fülle von Gesprächen mit hochrangigen Vertretern der Militärverwaltung und mit dem neuen französischen Polizeichef Bousquet, um das SS-Regime in Frankreich zu etablieren und womöglich die Weichen für die „Endlösung“ zu stellen. Am 7. Mai wurde er mit einem Botschaftsempfang geehrt, und bei dieser Gelegenheit konnte Dannecker mit Abetz, Schleier und Zeitschel eine definitive Regelung vereinbaren, die dann tatsächlich in die Kennzeichnungsverordnung übernommen wurde. In einer erneuten Besprechung vom 12. Mai mit Zeitschel und Dannecker stimmte auch die Militärverwaltung dieser Regelung zu, und der Kriegsverwaltungsassessor Nährich begann mit dem Entwurf des Verordnungstextes, den er um Vorschriften zur „technischen Durchführung“ ergänzte. („Jeder Jude erhält drei Sterne und hat bei der Entgegennahme der Sterne einen Punkt seiner Kleiderkarte abzugeben [...]. Insgesamt werden 400.000 Sterne benötigt.“)121
Bis zum Erlaß der Verordnung war es nun offenbar vor allem der Militärbefehlshaber, wie aus Telegrammen der Botschaft an das Auswärtige Amt hervorgeht, der auf eine rasche Entscheidung in Berlin drängte und dabei die Sicherheit der Besatzungstruppen als Vorwand anführte. Abetz unterstützte dies mit der Meldung, eine französische Verordnung für beide Zonen sei „augenblicklich keinesfalls zu erwarten“.122 Am 22. Mai, einen Tag nach Abetz’ letzter Intervention, lag das Einverständnis des Auswärtigen Amts in Paris vor,123 und damit konnte die Verordnung in der vorgesehenen Form am 29. Mai 1942 erlassen werden.124
Die „Achte Verordnung über Maßnahmen gegen Juden“, die sich an die entsprechende Reichs-Polizeiverordnung vom 1. September 1941 und an die seit Ende April 1942 für die Niederlande geltende Regelung anlehnte, verpflichtete formell sämtliche Juden des besetzten Gebiets, die das sechste Lebensjahr vollendet hatten, zum Tragen des „Judensterns“. Ausnahmen für Angehörige bestimmter Staaten wurden im Einvernehmen mit dem Auswärtigen Amt intern gehandhabt; faktisch betraf die Verordnung neben den Juden französischer Staatsangehörigkeit zunächst nur ausländische Juden aus Ländern, in denen ähnliche Maßnahmen in Geltung waren (Deutschland, Belgien, die Niederlande, das Generalgouvernement, die besetzten Gebiete der Sowjetunion, Slowakei, Kroatien und Rumänien), ferner Juden ehemals jugoslawischer Staatsangehörigkeit sowie alle staatenlosen Juden. Für „Mischehen“ wurde festgelegt, daß der „jüdische Teil“ den Stern nicht zu tragen brauchte, sofern nicht „als Juden geltende Kinder“ aus der Ehe hervorgegangen waren. Außerdem waren Einzelfallprüfungen vorgesehen, woraus sich in der Praxis ein Verfahren personenbezogener, zeitlich befristeter Befreiungen vom Kennzeichnungszwang entwickelte.125 Zuwiderhandlungen gegen die Verordnung sollten mit der Einweisung in ein „Judenlager“ bestraft werden – eine Bestimmung, die sofort praktiziert wurde. Im übrigen mußten selbst diejenigen Juden, die inzwischen im Lager Drancy bei Paris interniert worden waren, einen Stern auf ihre Kleidung nähen.
Noch vor Veröffentlichung der Verordnung setzte, auf Anregung der Botschaft und lanciert vom Militärbefehlshaber, eine propagandistische Offensive ein, die die französische Bevölkerung durch Presse und Rundfunk auf die Kennzeichnung der Juden vorbereiten sollte. Der Leiter der Polizeigruppe der Militärverwaltung, Waldemar Ernst, wies die Geheime Feldpolizei (Abwehr) und die Propaganda-Abteilung Frankreich an, es könne „zweckmäßig sein, daß in der Propaganda darauf hingewiesen wird, daß in letzter Zeit in besonders häufigem Maße Juden als Täter oder intellektuelle Urheber bei kommunistischen gegen die Wehrmacht gerichteten Terroraktionen festgestellt wurden“.126 Doch die erhoffte Wirkung blieb aus. Nachdem die ersten Stimmungsberichte aus Paris und aus der französischen Provinz eingegangen waren,127 richtete Knochen ein Fernschreiben an Eichmann und an die Sipo-SD-Dienststellen in Brüssel und Den Haag, in dem er zwar behauptete, die Einführung des „Judensterns“ am 7. Juni im besetzten Gebiet Frankreichs sei „reibungslos vonstatten gegangen“, dann aber hinzufügte, weite Kreise der Bevölkerung hätten „wenig oder gar kein Verständnis für die Kennzeichnung aufgebracht“. Schließlich berichtete er auch über Sympathiebekundungen für die Juden.128
Zwischen Oktober 1940 und Mai 1942 war es den Besatzungsbehörden gelungen, ein Dispositiv aufzubauen, das die Juden in Frankreich auf den rechtlosen und pauperisierten Status verwies, wie er für die Juden im Reichsgebiet in den Jahren zwischen 1933 und September 1941 durchgesetzt worden war. Die „nationale Revolution“ Vichys hatte eines der republikanischen Ideale, die 1791 proklamierte rechtliche Gleichstellung der Juden, widerrufen und die nichtfranzösischen Juden zu unerwünschten Fremden erklärt, der deutsche Antisemitismus ging weit darüber hinaus. Die Achte Verordnung vom 29. Mai bildete den Abschluß einer Kette von Ausgrenzungs- und Isolierungsmaßnahmen, mit denen die jüdische Bevölkerung in die Situation getrieben wurde, die ihren Abtransport aus Frankreich ermöglichen sollte. Bereits im Februar 1942 war ein nächtliches Ausgehverbot verhängt worden, das Festnahmen in den frühen Morgenstunden künftig erleichterte. Mit Inkrafttreten der Kennzeichnungsverordnung begannen – zumeist von der deutschen Feldgendarmerie durchgeführte – systematische Straßenkontrollen, wer ohne „gelben Stern“ angetroffen wurde, riskierte nicht nur die Haft, sondern schon bald die Deportation.129 Und mit einer letzten, im Juli erlassenen Verordnung des Militärbefehlshabers wurde die Bewegungsfreiheit von Juden in der Öffentlichkeit gänzlich eingeschränkt.130 Kaum eingeführt, erwies sich die Kennzeichnung als Selektionsinstrument, denn der so erfaßte Personenkreis geriet als erster in das Zentrum der Vernichtungspläne. Am 11. Juni fand in Eichmanns Referat im Reichssicherheitshauptamt jene Besprechung statt, auf der die Entscheidung zur Massendeportation aus Westeuropa nach Auschwitz fiel. Auf Vorschlag von Dannecker, der ein Protokoll darüber verfaßte, wurde festgelegt, „daß der Kreis der Abzuschiebenden nur jene Juden umfaßt, die zum Tragen des Judensterns verpflichtet sind“.131 Das war allerdings bereits ein Maximalprogramm, das insgesamt 100.000 Juden des besetzten wie des unbesetzten Gebiets umfassen sollte, und es hätte bedeutet, auch Juden französischer Staatsangehörigkeit in großem Umfang mit einzubeziehen, was sich wegen der Vorbehalte der französischen Regierung nicht durchsetzen ließ.
Bei einem seiner Verhöre im Jahr 1949 wurde Knochen mit fast allen der hier herangezogenen Dokumente konfrontiert, und er gab zu jedem eine knappe Erklärung ab, die stets in die gleiche Richtung ging. Da es kaum eine deutsche Stelle in Paris gegeben hatte, die nicht mit der Frage der Kennzeichnung von Juden beschäftigt gewesen war, auch wenn Dannecker und Zeitschel als treibende Kräfte erscheinen mögen; und da sich – von der Zustimmung des Auswärtigen Amts und der Unterschrift des Militärbefehlshabers in Frankreich abgesehen – kaum ausmachen ließ, von wem und wann Anordnungen getroffen und Entscheidungen gefällt worden waren, versuchte Knochen nun, die Tatsache zu unterschlagen, daß er selbst im Frühjahr 1942 an die Spitze des Besatzungsregimes aufgerückt war und sich sein Name in den meisten belastenden Aktenstücken wiederfand. Auf die Frage nach der – von Dannecker in einem Vermerk festgehaltenen – entscheidenden Besprechung zwischen Abetz und Knochen am 3. Mai, in der sich der Botschafter mit der Forderung nach „sofortiger Kennzeichnung der Juden“ einverstanden erklärt hatte, antwortete Knochen dem Untersuchungsrichter, er erinnere sich nicht an sein Gespräch mit Abetz, aber die Unterhaltung habe sich sicherlich nicht speziell um dieses Thema gedreht. Zum damaligen Zeitpunkt hätten die Botschaft und die Dienststellen des Militärbefehlshabers die Übereinkunft, den „Judenstern“ einzuführen, bereits getroffen gehabt; es sei nur noch eine Frage des Termins gewesen.132 Daß er Stimmungsberichte seiner Untergebenen weitergeleitet hatte, in denen auch kritische Reaktionen der französischen Öffentlichkeit auf die Einführung des Kennzeichnungszwangs verzeichnet wurden, wollte Knochen jetzt als Opposition gegen die von Danneckers Referat betriebenen Maßnahmen verstanden wissen.133
Im übrigen behauptete auch Abetz 1947, er habe „mehrmals gegen die Einführung des Judensterns in Frankreich protestiert“.134 Hans Crome, 1942 Leiter der Abteilung Ic des Kommandostabs in Paris, glaubte sich später dementsprechend zu entsinnen, gegen die Einführung sei „seitens des Militärbefehlshabers schärfstens protestiert worden“.135 Dr. Walter Nährich, als Angehöriger der Gruppe Polizei des Militärbefehlshabers federführend beteiligt am Entwurf der Kennzeichnungsverordnung, wußte in den sechziger Jahren zwar noch, „daß die Juden eines Tages den Judenstern tragen mußten“, konnte sich an den Zeitpunkt der Einführung jedoch nicht mehr erinnern.136 Dr. Kurt Blanke von der Wirtschaftsabteilung der Militärverwaltung, der frühzeitig durch Zeitschel über die beabsichtige Kennzeichnung unterrichtet worden war und dessen Name sich neben dem Nährichs auf der Teilnehmerliste des erwähnten Treffens vom 5. Mai 1942 fand, konnte nur soviel sagen, „daß es sich nicht um eine Sonderbesprechung mit dem ausschließlichen Punkt ‘Kennzeichnung der Juden’ gehandelt haben kann, denn mit irgendwelchen Kennzeichnungen der Juden in Frankreich hatte ich nicht das geringste zu tun“.137 Der ebenfalls als Besprechungsteilnehmer verzeichnete Kriegsverwaltungsassessor Günther Bruns, zeitweilig persönlicher Referent Bests und in regelmäßigem Kontakt mit Dannecker, machte bei seiner Vernehmung 1976 zum „Gegenstand der Besprechung, nämlich der ‘Kennzeichnung der Juden in Frankreich’ [...] aus Unwissenheit keine Angaben“ und stellte in Frage, ob er sich am 5. Mai 1942 noch in Paris aufgehalten habe, zumal er sich genau erinnerte, zehn Tage später aus privaten Gründen in Berlin gewesen zu sein.138
Von den zahlreichen Angehörigen des deutschen Besatzungsapparats, die seit den sechziger Jahren, als in der Bundesrepublik die systematischen Ermittlungen zum Komplex „Endlösung der Judenfrage in Frankreich“ begannen, ausdrücklich dazu vernommen wurden, hatte ohnehin nur eine Minderheit in Frankreich Juden mit dem „gelben Stern“ im Straßenbild wahrgenommen oder dies im Gedächtnis behalten. Einer von ihnen war der Schriftsteller Ernst Jünger, dessen „Pariser Tagebuch“ ein gleichsam photographisches Bild vom Tag der Einführung des Kennzeichens enthält:
In der Rue Royale begegnete ich zum ersten Mal in meinem Leben dem gelben Stern, getragen von drei jungen Mädchen, die Arm in Arm vorbeikamen. Diese Abzeichen wurden gestern ausgegeben; übrigens mußten die Empfänger einen Punkt von ihrer Kleiderkarte dafür abliefern.139
Als einem früheren Mitarbeiter der Gruppe Polizei, Dr. Werner Jähnig, der in einer Vernehmung Auskunft geben sollte, ob ihm bestimmte Maßnahmen gegen Juden aus seiner Zeit beim Militärbefehlshaber bekannt seien, diese Tagebuchaufzeichnung Jüngers vom 7. Juni 1942 vorgelesen wurde, rief das keine Vorstellungen in ihm wach. Jähnig war seinerzeit von Dannecker über die Zustimmung des Auswärtigen Amts zur Kennzeichnung der Juden unterrichtet und gebeten worden, die Verordnung seitens der Militärverwaltung so schnell wie möglich „durchzubringen“, 400.000 Judensterne stünden „fertig verpackt zur Verfügung“.140 Doch hatte er im Jahr 1966, wie er erklärte, „keine konkrete Erinnerung, auf den Straßen von Paris, in den Bahnhöfen der Metro oder sonstwo Menschen mit dem Judenstern gesehen zu haben“.141 Einem Dezernenten aus der Wirtschaftsabteilung des Militärbefehlshabers waren in Frankreich zwar Menschen mit dem „Judenstern“ aufgefallen, aber „der eigentliche Sinn und Zweck des Tragens“ blieb ihm damals unbekannt. Es schien ihm, wie er nunmehr räsonierte, „daß die Juden den Judenstern tragen mußten, um sich von den anderen Menschen zu unterscheiden“.142 Herbert Hagen schließlich, die rechte Hand des Höheren SS- und Polizeiführers Oberg und zuvor Leiter der Außenstelle Bordeaux der Sipo-SD, der dort im März 1942 mit Knochen und einem V-Mann „die Frage einer Kennzeichnung der Juden in Frankreich angeschnitten“ hatte,143 sagte als Beschuldigter in den siebziger Jahren aus, er habe keine Erinnerung mehr an den Besuch Knochens, was aber die Frage der Kennzeichnung anbelange, so gab er zu verstehen, „würde ich das aus heutiger Sicht für die damals in Aussicht genommenen Maßnahmen als durchaus normal bezeichnen“.144 Wie bei vielen solcher Rechtfertigungsmuster lassen hier sich die Zeitebenen nur schwer auseinanderhalten: Wollte Hagen zum Ausdruck bringen, daß ihm die antijüdische Maßnahmen damals als „normal“ erschienen waren, oder hielt er sie auch weiterhin, „aus heutiger Sicht“, für normal? Wie dem auch sei, die unterstellte Normalität des früheren Geschehens und seiner Mitwirkung daran schuf die Brücke zu der bis dahin aufrechterhaltenen Normalität der Biographie Hagens, der zwar wegen seiner Aktivitäten in Frankreich 1955 in Abwesenheit zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilt worden war, aber unbehelligt in der Bundesrepublik lebte.
Es geht hier nicht um den Nachweis von Falschaussagen oder Erinnerungslücken. Die administrative Vorbereitung des Judenmords war – über die Entlastung durch bürokratische Verfahren und arbeitsteilige Organisationsformen hinaus – offenbar so angelegt, daß die meisten Tatbeteiligten weder die unmittelbaren Folgen der von der Besatzungsmacht erlassenen Verordnungen im Alltag des besetzten Landes für bemerkenswert hielten, noch gar die Tragweite ihres Handelns ermessen haben. Nach dem Krieg manifestierte sich diese Gleichgültigkeit in subjektivem Unschuldsbewußtsein.