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Von Paris nach Nürnberg
ОглавлениеDieser Widerspruch schien Abetz selbst erklärungsbedürftig. Während des Wilhelmstraßen-Prozesses war er aus dem Pariser Gefängnis nach Nürnberg überstellt worden, wo er 1948 von Robert M. W. Kempner verhört wurde.29 Kempner eröffnete das Gespräch mit der gezielten Feststellung, es gäbe Anzeichen dafür, „daß die sog. Endlösung der Judenfrage sehr stark aus Paris betrieben worden ist“ – wenn nicht von Abetz, dann doch von dort aus. Er wolle wissen, ob dies stimme.30 Abetz bot die probate Version an, er habe den Antisemitismus der Franzosen für ausreichend entwickelt gehalten und – anläßlich seiner Ernennung zum Botschafter am 3. August 194031 – auch dem „Führer“ gesagt, „daß wir nicht deutscherseits einzugreifen brauchten“, woraufhin Kempner ihm sein Telegramm an Ribbentrop vom 20. August vorhielt, das ihn als Protagonisten der Judenverfolgung in Frankreich auswies:
Kempner: Ich will hier nicht, um das ganz klar zu sagen, mit Ihnen Versteck spielen. Ihre Besprechung am 3. August, dann haben wir am 20. August 1940 ein Telegramm von Ihnen nach Berlin. Bitte, sehen Sie.
Abetz: Das mit den vier Punkten. [...]
Kempner: Wenn Sie nicht wollen, brauchen Sie keine Erklärung dazu abzugeben, wenn es Ihnen schaden kann.
Abetz: Das scheint im Widerspruch zu stehen, mit dem, was ich dem Führer sagte ...
Doch Abetz glaubte, den Wechsel seines Standpunkts plausibel machen zu können:
Es war folgendes geschehen, daß der Militärbefehlshaber in Frankreich eine Nachricht aus Berlin bekam, daß eine Parteistelle in Frankreich eingerichtet werden solle mit unbeschränkten Vollmachten zur Erledigung der Judenfrage. Daß alle Juden in Ghettos kommen sollten, ihr Besitztum enteignet werden sollte usw. Denen mußten wir zuvorkommen, um durch Vorschläge von Mindestmaßnahmen zu verhindern, daß eine Partei Wurzeln schlägt. Diese Vorschläge [vom 20. 8. 1940;A.M.] waren das Ergebnis dieser taktischen Erwägung.32
Die geplante Einrichtung einer solchen Parteistelle mit Exekutivfunktionen findet sich – wenn nicht das Pariser Judenreferat gemeint gewesen sein sollte – nirgends dokumentiert. Es sind keine radikaleren Schritte gegen die jüdische Bevölkerung der besetzten Westgebiete erwogen worden, die ein taktisches Vorgehen hätten begründen können, als die von Abetz selbst initiierten. Auch das von ihm als Beleg angeführte Schreiben Heydrichs an das Auswärtige Amt vom 20. September 1940 („Heydrich soll geantwortet haben, er nähme die Vorschläge an, aber unter der Bedingung, daß der SD in Paris eingeschaltet werde“) weist nicht in eine Richtung, die Druck aus Berlin erkennen ließe. Unbeirrt von den bisherigen Einlassungen, kam Kempner nun auf jenen bereits zitierten Aktenvermerk Bests vom 30. August 1940 zu sprechen, dem zufolge Abetz die Anordnung der antijüdischen Maßnahmen durch Hitler mitgeteilt hatte. Das sei völlig falsch, so wiederum Abetz, es seien seine eigenen Vorschläge gewesen: „Für mich wäre es besser, es wäre eine Führeranweisung. Aber es waren meine Vorschläge.“
Warum bestand er ausdrücklich darauf, sie gemacht zu haben? Die Antwort findet sich in dem ein Jahr zuvor in Paris aufgezeichneten Verhör durch den amerikanischen Offizier Fried. Er habe gedacht, sagte Abetz 1947, „daß die Juden auf diese Weise besser herauskämen, als wenn der Partei freie Hand gegeben würde“.33 Das ist der Kern von Abetz’ Selbstdarstellung gegenüber den alliierten Vernehmungsbeamten, die auch alle einzelnen Punkte, die er im August 1940 vorgeschlagen hatte, wie in einem Zerrspiegel erscheinen läßt. Rückkehrverbot für Juden in die besetzte Nordzone? Entfernung aller Juden aus dem besetzten Gebiet – wohin?34 Es sei bedauerlich, hielt Abetz dagegen,
daß die französische Regierung nicht ihrerseits Maßnahmen ergriffen hat, die die Überführung der Juden aus der besetzten in die unbesetzte Zone oder nach Nordafrika veranlaßt hätte [sic], um sie so den deutschen Maßnahmen zu entziehen.
Sein Bemühen sei gewesen, „daß die Juden so schnell wie möglich das besetzte Gebiet verlassen sollten, so lange, bis die Sache sich beruhigt habe“.35 Warum unterstützte Abetz im Herbst 1940 einen Antrag der Auslandsorganisation der NSDAP auf kollektive Ausbürgerung der deutschen Juden, die sich als Flüchtlinge im besetzten Frankreich aufhielten?36 In der Annahme, „daß die Betroffenen durch diese Maßnahme der deutschen Rechtssprechung entzogen und unter französische Rechtssprechung gestellt würden, wovon ich glaubte, daß es einen Schutz für sie bedeute“.37
Ähnlich lauteten die Antworten, als Abetz zu den Deportationen des Sommers 1942 befragt wurde. Von französischer Seite habe er gehört, daß es zu Protesten kam, als bei den Abtransporten die Frauen von den Männern und die Kinder von den Eltern getrennt wurden, und er sei deswegen beim Militärbefehlshaber vorstellig geworden. Mit welchem Ergebnis? Er bekam angeblich – und wiederholte nun – jene fadenscheinige Auskunft, von der ihm klar gewesen sein müßte, daß er sie schon seinerzeit nicht hätte glauben sollen:
Ich nahm sofort Gelegenheit, den Militärbefehlshaber auf die Frage aufmerksam zu machen, und er sagte mir, daß die deutsche Polizei diese Auseinanderreißung der Familien damit begründe, daß im General-Gouvernement erst Baracken für die männlichen, dort zum Einsatz gelangenden jüdischen Arbeitskräfte fertig gestellt seien, für ihre Frauen und Kinder jedoch noch nicht, und daß aus diesem Grund deren Abtransport erst zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen solle.38
Allerdings habe er – während Razzien gegen Zehntausende ausländischer Juden durchgeführt wurden und wöchentlich mehrere Deportationszüge fuhren – den Standpunkt vertreten, „daß, wenn schon Transporte nach dem Osten stattfinden, davon in erster Linie die terroristischer Akte und Umtriebe bezichtigten Juden dritter Länder betroffen werden sollten“.39
Man kann die Bekundung von Abetz, ihm habe eine „Besserung der Lage der Juden“ immer sehr am Herzen gelegen, für die durchsichtige Nachkriegslüge halten, die sie war. Irritierend – und im übrigen typisch für die Aussagestrategie von NS-Tätern – ist eher die Umdeutung von Dokumenten, also die spiegelbildliche Verkehrung zwischen dem, was deren Einordnung in den historischen Kontext ergibt, und den angebotenen Erklärungsversuchen, oder – wie es Hannah Arendt später formuliert hat – der Ersatz der Tatsachenwahrheit durch einen neuen, erlogenen Wirklichkeitszusammenhang.40
So ist auch die Beteuerung, von der „Endlösung“ in ihrer tatsächlichen Bedeutung nichts gewußt zu haben, bei Abetz mehr als eine simple Schutzbehauptung. Kempner kam im Verlauf der Vernehmung darauf zu sprechen, daß der Legationsrat und „Judenexperte“ der Botschaft, Carltheo Zeitschel,41 am 22. August 1941 eine Denkschrift für Abetz angefertigt und ihn gebeten hatte, diese zu einer Besprechung in Berlin mitzunehmen. Darin hatte Zeitschel einen umfassenden Plan zur Deportation aller europäischen Juden in die neubesetzten Gebiete der Sowjetunion unterbreitet und konkret die „Abschiebung“ der in Frankreich bereits internierten Juden vorgeschlagen. Nach Lage der Dokumente erhielt Abetz Mitte September von Himmler die Zusage, „daß die im KZ befindlichen Juden im besetzten Gebiet nach dem Osten abgeschoben werden können, sobald dies die Transportmittel zulassen“. Zumindest teilte Zeitschel dies dem Leiter des Pariser Judenreferats Dannecker mit, den er gleichzeitig bat, seinerseits in Berlin auf die baldige Deportation der Juden aus Frankreich zu drängen.42 Abetz meinte nun gegenüber Kempner, diese auf dem Weg zur „Endlösung“ in Frankreich entscheidenden Vorgänge „spielend entkräften“ zu können, indem er Zeitschel als notorischen Lügner bezeichnete:
Kempner: Hat er [Zeitschel] Ihnen die jüdische Denkschrift gegeben? Abetz: Nein.
Kempner: Haben Sie sie mit nach Berlin genommen?
Abetz: Nein. Ich habe keine Gelegenheit gehabt, mit jemand darüber zu sprechen. Wenn ich das Einverständnis Himmlers bekommen hätte, hätte Zeitschel nicht Dannecker aufzufordern brauchen, das Reichssicherheitshauptamt zu bestürmen. [...]
Kempner: Kennen Sie diese Denkschrift?
Abetz: Sie ist mir in Paris [beim Verhör; A.M.] vorgelegt worden.
Kempner: Vom 22. August 1941. Ist das dieselbe, die ich Ihnen zeige?
Abetz: Ja.
Kempner: Sie haben sie nicht nach Berlin gebracht.
Abetz: Ich habe die Sachen nie gelesen.43
Schließlich machte Kempner einen letzten Versuch, den Tatsachen auf die Spur zu kommen. Er wußte, daß sich Zeitschel im März 1942 im Auswärtigen Amt nach dem Protokoll der Wannsee-Konferenz erkundigt hatte,44 und er wollte von Abetz hören, woher man das in Paris wußte und warum man so interessiert daran war, „die Sache weiterzutreiben“, zumal kurz darauf – mit Zustimmung des Auswärtigen Amts wie der Deutschen Botschaft – die Deportationen aus Frankreich begonnen hätten. Abetz antwortete mit einem rhetorischen Kunstgriff, der sämtliche Bemühungen Kempners um Wahrheitsfindung ad absurdum führte:
Kempner: Jetzt sind doch die Juden von Paris nach Auschwitz gekommen mit dem ok. des Auswärtigen Amtes. Was kann man dazu sagen?
Abetz: Das waren für mich Überraschungen.
Kempner: Das wußten Sie doch irgendwie.
Abetz: Wenn Sie an meiner Stelle wären und ich an Ihrer und Sie würden mir sagen, Sie hätten nichts gewußt, würde ich Ihnen nicht glauben.45
Das Argument gleicht jenem alten philosophischen Fangschluß, wonach einem Mann aus Kreta, der sagt: „Alle Kreter sind Lügner“, schwerlich nachzuweisen ist, ob er lügt oder die Wahrheit spricht. Offenbar war sich Abetz über die wirkliche Dimension des Verbrechens, zu dem er befragt wurde, selbst nicht im klaren. Anders ist es kaum zu erklären, daß der ehemalige Repräsentant Hitlers in Frankreich meinte, im Verhör nach Belieben die Rollen tauschen und sein Gegenüber in ein solches Gedankenexperiment verwickeln zu können.
Als ein taktisch weniger geschickter Zeuge erwies sich Abetz’ Stellvertreter Rudolf Schleier, der den Botschafter längere Zeit in Paris vertreten hatte, während seiner Nürnberger Verhöre durch Rudolph Pins und Kempner im Jahr 1947. Die US-Ermittler wollten nicht Schleier selbst beschuldigen, auch wenn er in Haft war und Kempner zeitweilig erwogen zu haben scheint, ihn in die Anklage einzubeziehen, sondern es ging – wie beim Verhör von Abetz – um die Mitverantwortung des Personals der Wilhelmstraße für Transporte nach Auschwitz, um Weizsäcker und Woermann, die Vorgesetzten des für die Judenverfolgung zuständigen Unterstaatssekretärs Luther (der inzwischen verstorben war und von allen belastet wurde). Weizsäcker geriet in den Mittelpunkt des Vorverfahrens, als öffentlich bekannt wurde, daß das Auswärtige Amt im März 1942 gegenüber Eichmann der Deportation von 6.000 Juden aus Frankreich zugestimmt hatte,46 und Kempner versuchte zu begreifen, warum die hochrangigen Angehörigen der deutschen Ministerialbürokratie zu Komplizen des Massenmords geworden waren.
Doch der frühere Gesandte Schleier machte es den Ermittlern schwer. Sein „persönliches Verhältnis zu den Judenfragen“ wollte er dadurch charakterisiert sehen, daß die Familie einen jüdischen Hausarzt und er – obwohl schon seit 1920 wegen des Problems der „Zuwanderung des Ostjudentums“ Anhänger der nationalsozialistischen Bewegung und seit 1931 Parteigenosse – bis 1939 einen jüdischen Schneider gehabt hatte:
Ich habe viel mit Juden zu tun gehabt in Deutschland und außerhalb. Ich habe unter diesen Juden höchst korrekte, anständige Juden getroffen, genauso wie ich rücksichtslose Leute unter den Juden gefunden habe.
Auf seinen Reisen nach Frankreich hatte er in einem Hotel gewohnt, das einem Juden gehörte: „Wir haben immer zusammen gefrühstückt. Ich erwähne das nur deswegen, um zu zeigen, daß ich keine grundsätzliche Einstellung gegen das Judentum gehabt habe.“47 Die Berufung auf den „anständigen Juden“, den jeder Deutsche gekannt hatte, bildete den Gegenpart zur Unwilligkeit oder zum Unvermögen, relevante Aussagen zu machen. Wegen der Judentransporte aus Frankreich vernommen, kam Schleier auf seine früheren Bekanntschaften zu sprechen, als ließen sich noch die trivialsten Alltagsgewohnheiten in eine Relation zum Gegenstand der alliierten Anklage bringen. Mit seiner Ansicht, ein persönlicher oder geschäftlicher Umgang mit diesem oder jenem Juden während der Nazizeit liefere irgendeinen Unschuldsbeweis, stand Schleier nach 1945 indes keineswegs allein. Folglich identifizierte er sich auch – trotz seiner herausgehobenen Stellung in Frankreich und im Auswärtigen Amt,48 die ihm Einblicke in den tatsächlichen Zweck von Deportationen ermöglicht haben dürfte – mit „Millionen des deutschen Volkes“, die seiner Ansicht nach in „weiten Schichten“ nichts von dem, was erst nach dem Krieg als „Endlösung der Judenfrage“ bekannt geworden sei, gewußt hatten:
Ja, das wissen wir heute, aber damals haben wir das nicht gewußt. Wenn wir mit dem SD sprachen, haben sie uns immer gesagt, die Juden kommen zum Arbeitseinsatz.49
Auf die Rede vom Arbeitseinsatz im Osten, die der Sprachregelung gedient hatte, während sie nach dem Krieg als häufigstes Entlastungsargument benutzt wurde, wird später noch ausführlich einzugehen sein. Eine andere Erklärung lag für Schleier darin, bei den als Geiseln erschossenen oder unter dem Vorwand von „Sühnemaßnahmen“ aus Frankreich deportierten Juden müsse es sich um Leute gehandelt haben, „gegen die etwas vorlag“. Daß Kinder nach Auschwitz geschafft wurden, war ihm nicht bekannt, Frauen seien nur deportiert worden, „wenn etwas Politisches vorlag“.50 Zwar deutete er gegenüber Kempner an, es könne bei Gelegenheit eines Besuchs von Heydrich in Paris im Mai 1942 davon gesprochen worden sein, „daß ein genereller Plan zur Erfassung der Juden durchgeführt werden sollte“, was ihm vielleicht Abetz mitgeteilt habe. Dann jedoch dementierte er ausdrücklich, von einer „Judenfrage“ sei bei diesem Besuch nicht die Rede gewesen, und wich darauf aus, in Paris zu einem früheren Zeitpunkt – wahrscheinlich 1941 – gehört zu haben, eine „endgültige Regelung der Judenfrage“ solle „unmittelbar nach dem Kriege durch eine vollständige Aussiedlung erfolgen“.51
Im Grunde lief Schleiers Aussageverhalten darauf hinaus, den tatsächlichen Inhalt der ihm vorgehaltenen Dokumente seines eigenen Ressorts zu ignorieren. Im März 1942 war wie gesagt auch die Deutsche Botschaft Paris in die Entscheidung über die ersten Judentransporte aus Frankreich einbezogen worden; Schleier selbst hatte auf zwei Telegramme des Auswärtigen Amts hin, das eine Stellungnahme zur Deportation von insgesamt 6.000 Juden „in das Konzentrationslager Auschwitz (Oberschlesien)“ anforderte, das Einverständnis der Botschaft übermittelt. Kempner fragte ihn:
In Ihren eigenen Akten steht: „in das Konzentrationslager Auschwitz“.
Schleier: Das ist mir nicht bekannt. Ich denke nicht, daß das in den Akten drinstand.
Kempner: Sie haben das Auswärtige Amt angefragt, ob es dagegen Bedenken habe?
Schleier: Ich hätte das getan? Das ist mir nicht bekannt.52
Tatsächlich war es Schleier gewesen, der telegraphiert hatte: „Gegen beabsichtigte Judenaktion keine Bedenken.“53 Doch Kempner, der „die Akten sprechen lassen“ wollte, unterbrach die zwecklose Unterhaltung mit dem Zeugen. Er wisse, so sagte er nach monatelangen Vernehmungen, daß Schleier nur ein Ausführungsorgan gewesen sei, aber er solle aufhören, die Fakten selbst in Frage zu stellen:
Kempner: Herr Schleier, Sie sehen, daß die Sachen nicht stimmen. Ich könnte verstehen, wenn Sie heute sagen: ich habe all diese Dinge nicht erfunden. Ich war im Auswärtigen Amt. Ich war in der Sache drinnen. Die verantwortlichen Herren sind der Minister und die Staatssekretäre. Den Standpunkt kann ich verstehen. [...] Ich weiß, daß Sie die Sachen nicht erfunden haben, daß Ihre Minister und Staatssekretäre es erfunden haben. Daß Sie ein Ausführungsorgan waren, das weiß ich. Wenn Sie mir aber sagen – weismachen wollen, die Sachen haben nicht stattgefunden.
Schleier: Das habe ich nicht behauptet.
Kempner: Dem Sinne nach. Herr Weizsäcker, Herr Woermann haben gewußt, was in Auschwitz los war.
Schleier: Ich habe es nicht gewußt.54
Abetz’ engstem Mitarbeiter Ernst Achenbach schließlich – der gleichzeitig als Verteidiger in Nürnberg fungierte – blieb es vorbehalten, bei seiner Befragung durch Kempner das Terrain zu wechseln und als Sprachrohr deutscher Ressentiments gegenüber den Alliierten aufzutreten. Auch ihm war seiner Erinnerung nach nicht zur Kenntnis gekommen, daß die Botschaft im Zusammenhang mit der Deportation von Juden tätig geworden wäre:
Kempner: Hier ist ein Schreiben des Auswärtigen Amtes an das Reichssicherheitshauptamt [vom 20. 3. 1942; A.M.]. Das ging aus von den Leuten in der Botschaft in Paris.
Achenbach: Das kann ich mir nicht denken.
Kempner: Hier steht: Seitens der deutschen Botschaft sind Bedenken nicht geäußert worden. Das hat dann später jemand ausgestrichen, weil er das nicht in dem Erlaß an Eichmann haben wollte.
Achenbach: Ist die Botschaft in diesen Dingen gefragt worden?
Kempner: Sie ist jedesmal gefragt worden.
Achenbach: Diese Dinge sind zu meiner Kenntnis nicht gekommen. Ich war Leiter der politischen Abteilung. Diese Geschichten waren doch Sache des S.D.55
Er habe sich, fuhr er fort, „wahnsinnig geärgert über die Dinge, die der S.D. in Frankreich gemacht hat, wie die Sache mit dem Judenstern [...]. Meine ganze Einstellung zur Judenfrage erklärt sich auch aus meiner Vergangenheit. Ich habe von Juden nur Gutes erfahren. Ich lebte als Student bei einer alten jüdischen Witwe, die mich wie einen Sohn gehalten hat. Dieser Mist mit dem Judenstern usw. hat mich angekotzt.“56 Doch nachdem er auf diese Weise den Verdacht des Antisemitismus glaubte von sich gewiesen zu haben, holte Achenbach aus: „Was in den zwei Jahren nach dem deutschen Zusammenbruch am deutschen Volk gemacht worden“ sei, so der promovierte Jurist und Rechtsanwalt, ließe sich „nicht mit dem Völkerrechtsprinzip in Einklang“ bringen. Als Kempner ihn fragte, ob die Alliierten vielleicht auch Menschen vergast hätten, nutzte Achenbach ein Grundmuster der Nachkriegsrhetorik: „Ich vergleiche das nicht. Ich stelle nur fest, daß man diesen Aspekt berücksichtigen muß.“57
Sein zweites Ausweichmanöver bestand darin, sich als Exponenten der deutsch-französischen Versöhnungspolitik darzustellen und seine Tätigkeit in Frankreich, die ihn neben Abetz zum Architekten der Kollaboration hatte werden lassen und ihn mit den Spitzen des Vichy-Regimes in freundschaftliche Verbindung gebracht hatte, in ein zukunftsweisendes Programm umzuformulieren.58 Die Pariser Botschaft sei „eine Art Verschwörung“ gewesen, „die eine bestimmte politische Konzeption hatte, zusammengesetzt von Leuten, die bewußt der Meinung waren, daß ein vernünftiges Europa auf der Grundlage der deutsch-französischen Versöhnung entsteht“.59 Auch dies mochte Kempner, der die Rolle der Botschaft während der großen Deportationen nach Auschwitz aufklären wollte, sich nicht anhören:
Haben Sie überhaupt mit Judensachen zu tun gehabt oder [diese] zur Kenntnis bekommen?
Achenbach: Herr Dr. Kempner, das ist so lange her. [...] Ich sage immer wieder, daß man nach so vielen Jahren keine Erinnerung mehr hat. Sie müssen das verstehen. Wie ich nach Frankreich kam, war ich Anhänger der deutsch-französischen Verständigung.
Kempner: Hier handelt es sich nicht darum, sondern haben Sie Kenntnis oder nicht von den Judenmaßnahmen?
Achenbach: [...] Es ist für mich schwierig zu sagen, ich habe damals Kenntnis gehabt. Ich halte es für möglich, daß man Juden nach dem Osten gebracht hat. [...] Die Botschaft hat die Juden nicht weggebracht.60
Fünf Jahre, die seit Beginn der Deportationen vergangenen waren, reichten für Achenbach aus, um Erinnerungsverluste für sich in Anspruch zu nehmen. Die Möglichkeitsform seiner Aussage gibt allerdings mehr Aufschluß über die Mentalität der Mittäter, als deren verständliche Weigerung, im Verhör ihre eigene Verantwortung zu überdenken. Achenbach artikulierte nicht nur die deutschen Ressentiments, sondern seine Aussage stand auch für jene weitverbreitete Haltung im besiegten Deutschland, die Hannah Arendt eine Hinterlassenschaft des Naziregimes genannt hat: mit den Tatsachen, die inzwischen unabweisbar waren, so umzugehen, als handle es sich um bloße Meinungen61 und über den Judenmord nur unter dem Vorbehalt von Zweifeln zu sprechen.