Читать книгу Akrons Crowley Tarot Führer - Akron Frey - Страница 72
Analyse
ОглавлениеNormalerweise wird der Wagen als junger, kriegerischer Mann charakterisiert, behelmt und von Kopf bis Fuß bewaffnet, der aus Abenteuerlust, Durchsetzungswille und Wagemut in die Welt hinaus zieht. Vom Wunsch nach Freiheit beseelt, versucht er alles Einschränkende aus dem Weg zu räumen, denn jede Auseinandersetzung bietet ihm die Chance, Dinge durcheinander zu bringen und Gewohnheitsmuster zu zerstören, wodurch immer wieder neue Perspektiven der Entwicklung und der Erkenntnis auftauchen. In anderen Decks steht die Karte für die eigensinnige Autorität des Ichs, das in die Welt hinauszieht, um sich zu behaupten. Ein egoistischer Kern ist für einen jungen Menschen ein äußerst notwendiger Bestandteil der menschlichen Psyche, und wenn das Ich, wie es häufig geschieht, nicht stark genug ist, so ist es von äußerster Wichtigkeit, es aufzubauen. Erlösung durch tiefe Erkenntnis, wie sie Crowley im Wagen propagiert, wäre im traditionellen Sinn hier falsch, denn das junge Ich empfindet den Abstieg ins Unbewusste weniger als Selbstaufopferung oder spirituelle Aufgabe, sondern als Vernichtung.
Doch bei Crowley liegt der Schwerpunkt dieser Karte auf dem Gral: Dies ist das Geheimnis des Heiligen Grales, der das heilige Gefäß unserer Dame ist, des Scharlachweibes, Babalons, der Mutter der Greuel, der Braut des Chaos, die auf unserem Herrn, dem Tier, reitet.1 Der meditierende, in sich versunkene Wagenlenker in seiner mächtigen Goldrüstung steht für einen Gralskrieger oder Samurai, der sich durch seinen medialen Geist und seine fernöstliche Kampftechnik ausdrückt. Über ihm der Baldachin in der nachthimmelblauen Farbe von Binah. Der Krebs auf dem Helm verbindet den Wagen über den Mond (Herrscher von Krebs) mit der Hohepriesterin, denn auf der Rüstung des Wagenlenkers befinden sich die zehn Sterne von Assiah, das Erbe des Himmlischen Taus von seiner Mutter.2 Aber auch mit dem Hierophanten, denn als Symbol der Großen Mutter Binah repräsentiert der Meditierende den zu Geburah führenden achtzehnten Pfad, durch den das Wasser der Gnade auf die Libido des Menschen herabströmt, genauso wie es auf der anderen Seite des Lebensbaums der Hierophant mit dem Feuer seiner Imaginationen tut, das er von Chokmah hinab nach Chesed leitet.1 Zusammen bilden sie den Rahmen der Persönlichkeit, den C. G. Jung das Selbst nannte, denn Feuer und Wasser stehen für das Ziel der Alchemisten, deren spiritueller Sinn die Entwicklung der Reife des menschlichen Geistes darstellt. Auf der psychologischen Ebene sind sie auch ein Symbol für die Verschiebung oder den seelischen Wandel des heranwachsenden Menschen, wenn er sich von der Mutter löst und sich stattdessen auf das Innewerden der eigenen Bewusstheit und Persönlichkeit ausrichtet, die so viel tiefer in den Kosmos als das oberflächliche Ego reichen. Die konzentrischen Kreise im Hintergrund sind ein Symbol für die Relativität der Zeit, denn, obwohl Wagen, Lenker und Zugtiere in meditativer Stille sind und die ganze Szene völlig zum Stillstand gekommen erscheint, drückt die Karte auch im ruhenden Zustand noch immer ein gewaltiges Kraftpotential aus und eine Stimmung von Aktivität, Aufbruch und Bewegung. Zeit erscheint nur deshalb als Zeit, weil wir sie immer mit einem Ereignis verbinden und dabei die Veränderung dieses Ereignisses betrachten, also den (Zeit-)Punkt, durch den sich das Ereignis bewegt. Der Gral wird vom Wagenlenker mit der Öffnung nach vorne gehalten, also so, dass wir in den Kelch unserer Herrin Babalon hineinsehen können. Es handelt sich um einen prächtig geschliffenen Amethysten. Der Inhalt des Kelches wird aber auch das Blut der Meister des Tempels in der See von Binah genannt.2
So ist der Lenker des Wagens in der Lage, den Kelch zu halten, die Kraft, die in ihm wirkt, gewissermaßen zu meistern. Damit ist ihm ein magisches Werkzeug der Macht in die Hand gegeben. Gleichzeitig ist diese Verbindung ein Symbol für den Menschen, der seine Mitte im Einklang mit dem höheren Selbst gefunden hat. Aus der Sicht des Ganzen könnte man auch mutmaßen, der Wagen drücke über die Eroberung und Durchsetzung hinaus schon die zukünftige Stimme um Vergebung aus, eine Art »erinnerte Zukunft«, die sich auf das ausrichtet, was der junge Mensch am Anfang seines Weges alles anrichten muss, um später im Alter daraus seine Erfahrungen und Weisheiten ziehen zu können. Man könnte auch sagen: Er hat zu einer Unschuld der Reife zurückgefunden, oder: Es ist der zukünftige Vater, der für seine jugendliche Unreife die Verantwortung übernimmt. Diese Reinwaschung des aufbrechenden Helden durch den Gral bedeutet schon die Vorwegnahme der (zukünftigen) Erlösung, und deshalb müsste man den Wagen vielleicht treffender als VII – Die Einweihung oder das (vorweggenommene) Karma des Kelch-Ritters charakterisieren.3
Wohin führt uns der Wagenlenker? Das Visier seines Helms ist heruntergeklappt, denn kein Mensch darf sein Gesicht sehen und weiterleben. Das zentrale und bedeutsamste Merkmal dieser Karte befindet sich in ihrem Zentrum – der Heilige Gral.3 Damit bringt Crowley seinen Helden mit dem Mythos der Gralsritter in Verbindung, die die Menschen, von denen sie gerufen werden, sofort verlassen müssen, wenn sie ihnen die verbotene Frage nach ihrer Herkunft stellen. Andererseits muss Parzival unerlöst in der Welt herumziehen, weil er es versäumt hat, die richtige Frage zur rechten Zeit zu formulieren. Ähnlich wie der Held der Artussage muss unser Wagenlenker vor seiner Siegesfahrt nun warten und erst meditieren, um die richtige Frage zu stellen bzw. die richtige Antwort zu finden, kurz: um das richtige Ziel zu »beabsichtigen«.4 Es geht aber nicht darum, Fragen zu stellen oder Antworten zu finden, sondern die richtige Haltung auf dem Wagen einzunehmen, damit sich die Sphingen in Bewegung setzen und die stehenden, roten (Schicksals-)Räder in Schwung bringen. Zwei der vier Wesen haben sich vom Leben abgewandt und blockieren den Weg. Das bedeutet, dass es in der Erinnerung des Helden noch etwas zu lösen gibt, das seine Weiterentwicklung behindert. Die beiden anderen Gestalten verkörpern die helle, dem Leben zugewandte Seite (sie blicken dem Betrachter direkt in die Augen), und der Umstand, dass die Köpfe und Körper aller vier untereinander vertauscht sind, bedeutet, dass sie doch untrennbar zusammengehören, denn es ist die notwendige Versöhnung dieser beiden Teile, die den Weg des Helden ausmacht.5 Der Krebs als Symbol intuitiver Weiblichkeit schließlich krönt das Haupt und ist ein schönes Gleichnis für die spirituelle Erkenntnis, dass Menschen ihre tiefsten Einsichten immer dann haben und Entscheidungen treffen, wenn sie am wenigsten daran denken. Deshalb steht der Wagen auch für den unbewussten Willen, den nächsten Schritt des Weges zu wagen, ohne sich über die Folgen im Kopf bewusst zu sein.