Читать книгу In Berlin wird noch geschossen e-book - Alana Maria Molnár - Страница 10

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Adieu, Wolke sieben

Eines Tages kommt Judit ohne den täglichen Brief für mich in der Tasche an. Nein, gestern sei keiner im Briefkasten gewesen, sagt sie. Am nächsten und übernächsten Tag auch nicht. Auch am Donnerstag, da sonst der offiziell genehmigte Brief ankommt, liegt keine Post für mich im Büro des Drachens. Der Ratlosigkeit, die mich erfaßt, versuche ich mit Schreiben an László zu begegnen, ich will wissen, was das bedeutet. Eine weitere Woche vergeht, bis ich wieder einen Brief mit seiner Handschrift in Händen halte. Nichtssagende Sätze, keine Antwort auf meine Frage, warum so plötzlich alles zu Ende sei. Danach schweigt er sich aus.

Weil ich ihn schriftlich nicht mehr erreiche, halte ich endlose Gespräche mit ihm, überall, wo ich stehe und gehe, auch noch im Schlaf. Die Mädchen wecken mich nachts, weil ich weine oder rede.

Als mich in den nächsten Tagen beim Überqueren der Straße beinahe ein Laster überfährt, habe ich schon Fieber und entsetzliche Bauchschmerzen. Ich streune in den Straßen um das Krankenhaus herum, eine schöne grüne Gegend. Daß ich den langen Weg zum Internat zurück mit den Schmerzen nicht mehr allein schaffen würde, wird mir klar, darum frage ich mich zur Notaufnahme des Krankenhauses durch. Mir bleibt nur soviel Zeit, meine Beschwerden anzugeben, dann wird es schon dunkel um mich.

Die Stimmen aufgeregter Menschen können den Nebel nicht mehr ganz durchdringen, ich höre aber noch die Worte Blinddarm und Durchbruch und Notoperation.

In einem dunklen Raum schwebe ich bäuchlings knapp unter der Decke. Unter mir viele kleine Teufel mit spitzen Speeren, damit stechen sie mich in den Bauch, wenn ich nicht schnell genug bin. Lautlos schleichen sie im Raum unter mir umher, recken sich und strecken sich, versuchen mich immer wieder zu verletzen. Ich schreie, aber wie meistens im Traum, kommt kein Laut aus meiner Kehle. Irgendwann verwandeln sich die Schreckensgestalten in eine dichte graue Nebelwand, aber der stechende Schmerz bleibt. Dann spüre ich eine Hand, die meine Hand berührt, eine Stimme durchdringt das Grau: »Sie kommt zu sich.«

Als ich die Augen aufschlage, sitzt Mutter neben meinem Bett und streichelt meine Hand, die über der Decke liegt. Ihr Gesicht ist müde, sie hat dunkle Ringe unter den Augen, und ihre Küchenschürze um. Sie hat gestern nachmittag plötzlich das Gefühl gehabt, zu mir kommen zu müssen und statt einkaufen zu gehen ist sie zum Bahnhof gelaufen, hat unterwegs bei Bekannten Geld geborgt, eine Fahrkarte gekauft und die Nacht zum Teil auf Bahnhöfen und zum Teil im Zug verbracht.

Am frühen Morgen ist sie eingetroffen und sofort ins Internat gegangen. Sie hat lange klingeln müssen, bis jemand geöffnet hat. Der Drachen war ganz aufgelöst, sie hat erst am späten Abend einen Anruf aus dem Krankenhaus erhalten und konnte meinen Eltern noch kein Telegramm schicken. Daß Mutter ohne Benachrichtigung plötzlich vor ihr stand, fand unser Drachen, Frau Veres, mehr als seltsam. Sie hat sich erst sammeln müssen, ehe sie Mutter den Weg zum Krankenhaus erklären konnte.

Mutter ist im Internat und schläft sich aus. Die Frauen in meinem Zimmer erzählen, daß ich ihnen eine schlimme Nacht beschert habe. Stundenlang rief ich nach meiner Mutter, der Arzt war alle halbe Stunde bei mir. Sie alle befürchteten das Schlimmste.

Das unerwartete Auftauchen meiner Mutter hat großes Erstaunen ausgelöst. Für die Mitpatientinnen ist das ein wundergleiches Zeichen von Mutterliebe und mystische Verbundenheit zwischen Mutter und Kind.

Für die Ärzte ist es bloß unheimlich. Sie sind erleichtert, als Mutter wieder abreisen muß.

Nach einer Woche im Krankenhaus, einer weiteren auf der Krankenstation im Internat holt mich meine Mutter nach Hause. Sie will mich eigenhändig gesundpflegen, das überläßt sie niemandem, beteuert sie.

Mit der Schule gibt es keine Schwierigkeiten, weil ich die Bücher mitnehme. Lernen kann ich auch zu Hause, sagt Herr Dávid, er hat meinen Einsatz am Ende des ersten Schuljahres in guter Erinnerung.

Die Fahrt mit dem Zug ist beschwerlich, das mehrmalige Umsteigen machen mir zu schaffen, aber Mutter findet immer jemanden, der uns hilft. Am Bahnhof erwartet uns Vater und kaum ist das Gepäck aus dem Zug, kommt auch schon der Bus, der am Ende unserer Straße eine Haltestelle hat. Selbst wenn es nicht so wäre, der Fahrer würde für uns trotzdem halten.

Während der Fahrt erzähle ich meiner Mutter die Geschichte mit László, daß er von einem Tag auf den anderen nicht mehr geschrieben hat und jede Auskunft über seine Gründe verweigert. Mutter hört nur zu, sagt aber nur, daß ich erst einmal zu Kräften kommen muß. Alles andere ist jetzt nicht wichtig.

Mutter und Großmutter verwöhnen mich um die Wette, ich komme mir vor wie der heimgekehrte Odysseus nach seiner langen langen Abenteuerreise. Es ist merkwürdig, jetzt zu Hause zu sein, wo ich doch im Internat sein müßte. Nun habe ich Zeit, die Briefe von László noch einmal zu lesen. Die meisten habe ich bei Großmutter deponiert, die Holzkiste hat sie mir im letzten Sommer selbst ausgeräumt und die Fotos, die sie darin aufbewahrt hat, in einen Schuhkarton getan. Als ich Tage später zufällig gesehen habe, wie sie genüßlich meine Briefe las, Zeile für Zeile, beschloß ich, so bald es geht, alles zu vernichten.

Liebesbriefe von einem Verflossenen zu lesen ist eine betrübliche Angelegenheit und wenn es sich um die dreihundert handelt, deren Großteil drei bis vier Seiten Umfang hat, dann wird es auch noch anstrengend. Lászlós Schrift ist schwer zu lesen, aber mittlerweile kann ich seine Hieroglyphen entziffern. Trotzdem dauert es lange, bis ich ganz durch bin.

Es ist Spätherbst, die Nächte sind kalt, die Tage altweibersommerlich mild und an einem Nachmittag wird es in unserem hinteren Hof für eine Stunde noch ein paar Grade wärmer. Großmutter murrt zwar, daß ich ihren kostbaren Reisig für eine so schlimme Sache wie die Briefeverbrennung benutzen will, rückt aber doch einen Bündel heraus. Für sie kommt mein Vorhaben einer Bücherverbrennung gleich. Sie trauert jetzt schon um Lászlós schöne Sätze, obwohl sie noch heil auf dem Papier stehen. Wenigstens die prachtvollen Briefmarken sollte ich von den Umschlägen retten, zetert sie. Doch bevor sie eine philatelistische Rettungsaktion starten kann, kommt Mutter, hakt sich bei Großmutter ein und führt sie vom Tatort weg.

Damit alles restlos verbrennt, muß ich jedes Blatt aus den Umschlägen herausnehmen und zu einem Kloß knüllen, erst dann kann ich sie ins Feuer werfen. Die Asche schaufele ich in einen Blecheimer und verstreue sie unter den Himbeersträuchern. Ob sie einen guten Dünger abgibt? Wer weiß. Vielleicht wachsen hier im nächsten Jahr besonders große und auffallend rote Früchte.

Nach getaner Arbeit mustert Mutter mich prüfend und ich bin ihr dankbar, daß sie nichts fragt. Nicht heute. Tage später dann: »Willst du eine persönliche Antwort von diesem Schuft?« Sie meint natürlich László.

Der Kloß im Hals gestattet mir keine hörbare Antwort, ich nicke.

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