Читать книгу In Berlin wird noch geschossen e-book - Alana Maria Molnár - Страница 8

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Jeden Tag ein Liebesbrief

Vera spricht nicht mit mir, als ich zurückkomme, und ich kann und will ihr auch nichts erklären. Niemandem will ich was erzählen von dem, was mir passiert ist, oder besser gesagt, gerade passiert. Wir sehen uns wieder, László und ich, danach kommt er nicht mehr in die Schule zurück. Um vier Uhr am Nachmittag muß ich im Internat sein. Es ist Sonntag, und Mai, ich bin gestern fünfzehn geworden. Plötzlich ist alles anders. Ganz anders.

Zwei Tage später werde ich ins Lehrerzimmer bestellt, der Drachen hat Sehnsucht nach mir. Mir scheint, ihre Haare stehen zu Berge, als ich das Zimmer betrete, unsere Aufpasserin kommt gleich zur Sache. Ob ich nicht wisse, daß es verboten sei, Briefe von Männern zu bekommen. Sie sei schließlich dafür da, darüber zu wachen, daß Mädchen und Jungs keine Dummheiten machten. Das sei sie unseren Eltern schuldig. Sie hält mir einen Briefumschlag mit komplizierter Handschrift und einer auffallend schönen Marke unter die Nase.

Ob ich die Schrift kenne.

»Nein«, sage ich, und das stimmt.

Aber sie, sagt der Drachen, sie kennt diese Schrift sehr gut. Sie stammt von einem gewissen großen blonden jungen Mann, der ...

Ohgottogott. Wie kann ich bloß den kostbaren Brief diesem Raubtier entreißen? Ich habe keinen blassen Schimmer. Mein Herz hämmert vor Aufregung, ich mime aber die Unaufgeregte.

»Sie können den Brief ruhig öffnen, Frau Veres. Da steht nichts drin, was Sie nicht lesen könnten« und schaue den Drachen treuherzig an.

Was Frau Veres veranlaßt hat, mir den Brief ungeöffnet auszuhändigen, weiß ich bis heute nicht. Ich darf ab jetzt sogar einen Brief pro Woche von diesem jungen Mann erhalten, vorausgesetzt, ich besorge die Einwilligung meiner Eltern dazu.

Das Schreiben meiner Eltern liegt in einer Woche dem Drachen vor und ich bekomme von ihr Lászlós Briefe persönlich ausgehändigt. Die anderen, denn jeden Tag kommt mindestens einer, bringt mir eine Schulkameradin mit, die in der Stadt wohnt. Judit wedelt jeden Morgen grinsend mit einem dicken Umschlag mit schöner Briefmarke darauf, wir müssen allerdings darauf achten, daß es niemand mitbekommt.

In den Sommerferien kommt László oft mit einem kleinen knatternden Mofa, in unserer Gegend Gänseschreck genannt, zu Besuch, vorher aber plündert er jedesmal den Rosengarten seines Vaters. Vater ist entzückt, der junge Mann ist nach seinem Geschmack. Großmutter ist geradezu bezaubert von ihm, nur Mutter verhält sich abwartend, sie sagt vorsichtshalber wenig. Dafür stellt sie ein paar Nachforschungen an. Sie findet heraus, daß Lászlós Mutter ein kleines Milchgeschäft in Eger leitet und als sie mich zum erstenmal mitnimmt, begrüßen sich die beiden Frauen als wären sie alte Freundinnen.

László liebt Gedichte, in den vielen Seiten seiner Briefe findet sich immer eines, meist von französischen Lyrikern; ich verschlinge sie. Die Übersetzungen stammen von bekannten ungarischen Dichtern. In Ungarn erscheint in diesen Jahren regelmäßig eine Anthologie von Zeitgenossen unter dem Titel Schöne Gedichte, László schenkt mir die ersten.

Ein Jahr im Rausch, das Lernen tritt dabei etwas in den Hintergrund. Als ich einen Monat vor Abschluß des Schuljahres von Herrn Dávid meine voraussichtlichen Zensuren erfrage, bekomme ich einen gehörigen Schrecken. Dann setze ich mich auf den Hosenboden und büffele, was das Zeug hält und bitte um eine Chance der Nachbesserung. Die wird mir gewährt.

Danach habe ich in allen Fächern Bestnoten, bis auf Sport. Unser Sportlehrer erklärt mit sauertöpfischer Miene, daß er mir nur deshalb ein Gut ins Zeugnis geschrieben hat, weil er es nicht mit einem Ungenügend verunzieren wollte. Für ihn bin ich der hoffnungsloseste Fall, dem er in seiner gesamten Laufbahn begegnet ist.

Die Predigt lasse ich über mich ergehen, freue mich über das Zeugnis und noch mehr über die Anerkennung von László, als er erfährt, daß ich mich in allen Fächern verbessert habe. Um seinen Ehrgeiz ranken sich Legenden in der Schule, Herr Dávid, dessen Lieblingsschüler er war, singt Lobeshymnen über ihn. Er weiß natürlich vom Briefwechsel zwischen László und mir, und als ich um die Verbesserung meiner Noten bemüht war, kam er mir wohlwollend entgegen und meinte, der László Farkas, der hätte das genauso gemacht.

Der Ruf einer Streberin haftet mir nur deshalb nicht an, weil hier alle bestrebt sind zu lernen. Lernen, das Zauberwort in ungarischen Schulen. Kein Tag vergeht, an dem wir nicht daran erinnert werden, daß es ein Privileg ist, lernen zu dürfen, was bei früheren Generationen nicht selbstverständlich war. Und daß Mädchen alles werden können, was sie nur wollen, ohne Rücksicht auf das Geschlecht. Und daß Bildung allen offensteht.

Daß ich allerdings Glück gehabt habe, einer verarmten Großgrundbesitzer-Familie zu entstammen, wird mir später klar. Kindern von ehemals Reichen und aus Intellektuellen-Familien stehen die Türen und Tore zur Bildung nicht offen, sie bleiben ausgesperrt. Wollen die Eltern, daß ihre Kinder trotzdem in den Genuß eines Studiums kommen, müssen sie entsprechende Beziehungsnetze aufbauen, in diverse Trickkisten greifen, - und oft tief in die Geldbörse.

Denn Vitamin B funktioniert auch in einer sozialistischen Gesellschaft und die Vorzüge von Beziehungen kosten eben Geld. Oder eine andere Gegenleistung. Seitdem ich mich erinnern kann, führt bei uns jeder ein imaginäres Kassenbuch über erhaltene und zu erwartende Gefälligkeiten. Selbst Arztbesuche müssen der in Anspruch genommenen Leistung entsprechend sondervergütet werden. Im Krankenhaus und bei Untersuchungen in den Polikliniken wandern diskret verschlossene Briefumschläge aus der Hand des Patienten in die Tasche des weißen Kittels des behandelnden oder konsultierten Arztes. In Ermangelung von Barem wechseln auf dem Land Naturalien ihre Besitzer und es kommt schon vor, daß die verehrte Frau Doktor, die Gattin des Arztes, das Zusatzhonorar in Gestalt eines Huhns oder einer Gans eigenhändig ins Jenseits befördern muß, will die Familie am Sonntag einen Festtagsbraten vorgesetzt bekommen.

Das Privileg, an dieser Schule lernen zu dürfen, verdanke ich den Bemühungen meines Vaters. Außer den Quotenschülern aus Arbeiter- und Bauernfamilien sind alle übrigen ausgesucht aus dem großen Topf der Vitamin-B-Benutzer mit den besten Leistungen bei der Aufnahmeprüfung. Nach Ende des ersten Schuljahres von anfänglich vierzig Schülern sind dreißig übriggeblieben, Herr Dávid nennt das natürliche Auslese. Die praktische Auswirkung für die Internen: ein paar leere Betten in den Zimmern, die wir zweckentfremdet benutzen dürfen. Auf die Idee, die Betten zu entfernen, um mehr Platz zu schaffen, kommt hier niemand.

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