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IV. Erfahrungsgeschichtliche Sichtweisen aus einer vergangenen Zukunft

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Um diese zu erfassen, ist das weitere Hineinhören in zeitgenössische, prinzipiell ergebnisoffene Selbstverständigungsdiskurse wichtig. Eine solche Revolutionsbetrachtung fasst die turbulente Phase des Übergangs 1918/19 als eine Orientierungskrise auf, die zu einer Vielzahl von Gegenwartsdiagnosen und zeitgenössischen Kommentaren herausforderte. In seiner ebenso konzisen wie ausgezeichneten Revolutionsgeschichte aus dem Jahr 2009 bemerkte Volker Ullrich zu Recht: „Die Historiker haben solchen zeitgenössischen Berichten aus der Umbruchzeit bislang zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt.“78

Die Erwartungen, Erfahrungen und Vorstellungswelten der historischen Akteure – die „Kronzeugen“ dieses Textes von Kessler über Kollwitz zu Troeltsch und Wolff dienten als punktuelle Belege – besaßen historische Prägekraft. Es war eben mit den Worten des großen Bielefelder Begriffshistorikers Reinhart Koselleck zunächst die „vergangene Zukunft“ der damaligen Zeitgenossen.79 Jene Zeitspanne, als in Deutschland Revolution war, präsentiert sich dann als eine Phase aufregender, ungewisser Entwicklung, die auch Paradoxien zu erfassen vermag, wie sie sich etwa im Verhältnis zwischen Alltagswelt und politischer Gewalt auftaten.

Nur kurze Zeit nach den Unruhen des Januars wunderte sich Troeltsch beispielsweise, mit wieviel Gleichmut das Berliner Großstadtleben trotz blutiger Kämpfe und omnipräsentem Gewehrfeuer voranschritt: Not und Unsicherheit herrschten, notierte er ein wenig konsterniert, und doch spielten die Theater unverdrossen weiter und wurde allerorten getanzt.80 Nur zwei Tage nach der Ermordung Luxemburgs und Liebknechts machte Harry Graf Kessler ganz ähnliche Beobachtungen. Er verglich Berlin, so ist seinem Tagebuch vom 17. Januar 1919 zu entnehmen, mit einem Elefanten, der mit dem Taschenmesser gestochen wurde, sich kurz schüttelte, um schließlich unbeeindruckt weiterzumarschieren.81

Die Revolution im Speziellen und Weimar im Allgemeinen nicht quasi-pathologisch zu untersuchen, sondern als offene historische Situation voller Lebendigkeit und Risiken gleichermaßen, die von den Zeitgenossen verlangte, Widersprüche und Widrigkeiten auszuhalten, könnte uns helfen in Zeiten, die selbst vom Gefühl neuer Krisenhaftigkeit gekennzeichnet sind. Das Zeitklima unserer Gegenwart kommt der Wiederentdeckung der Revolution von 1918/19 in jedem Fall zugute, sollte uns aber nicht dazu verführen, simple Analogien zu ziehen und allerorten Wiederholungsszenarien von Weimarer Verhältnissen zu erkennen.82

Unsere Aufmerksamkeit für 1918/19 als zentrale, zukunftsweisende Zäsur, die nicht nur im Schatten von 1914, 1917 und 1933 stehen sollte, mag dies indes nicht schmälern. Diese Jahreswende erlebte – ein letztes Mal in Troeltschs Worten – die „erste durchdringende Revolution großen Stils in Deutschland überhaupt,“83 weil mit ihr ungeachtet aller Mängel und Versäumnisse ein politischer Systemwechsel hin zu einer modernen demokratischen Staatsform vollzogen wurde. In der langen Perspektive signalisierte dieser – wie wir heute wissen – also eher einen Anfang als ein Ende.84 Um allerdings nicht zum Schluss in den Jubel eines überhöhten Demokratiebegründungsnarrativs zu verfallen, ist das erfahrungsgeschichtliche Korrektiv der Subjektivierung nochmals hochzuhalten. Dann entgehen wir der Gefahr, Geschichte vom Ziel her – ob des Scheiterns oder der Ankunft – zu schreiben. Der zeitgenössische Blick verkürzt die Sichtweite, hält die Geschichte offen und unruhig. Davon können nicht zuletzt auch wir berufsbedingt zur nachträglichen Besserwisserei neigenden Historiker einiges lernen.

Revolutionäre Aufbrüche  und intellektuelle Sehnsüchte

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