Читать книгу Revolutionäre Aufbrüche und intellektuelle Sehnsüchte - Alexander Gallus - Страница 14
2. Prägende Gründungsgewalt mit fatalen Langfristfolgen
ОглавлениеDie zweite Interpretationsrichtung, das Paradigma der Gewalt, wird am stärksten von Mark Jones’ Darstellung Am Anfang war Gewalt argumentativ unterfüttert, daneben auch von Klaus Gietinger und Joachim Käppner.35 Anknüpfend an die Grundthese der Marginalität der Gewalt während der Umbruchsphase 1918/19 arbeitet sich Jones an Winklers Studien zur Revolution ab. Er wirft ihm vor, „entscheidende Teile dessen, was sich damals zutrug, außer Acht“ zu lassen.36 Die Schärfe des Urteils deutet auf das Streben nach einer fundamentalen Revision des Revolutionsbildes hin. Jones’ Studie sticht dabei unter den aktuellen Publikationen heraus, weil sie eine neue Gesamtdeutung der Revolution wie der Weimarer Republik überhaupt – das signalisiert auch der Titel der englischen Originalausgabe Founding Weimar37 – mit intensiver Quellenarbeit verbindet.
Diese Gründungserzählung der Weimarer Republik entfaltet ein Gewaltpanorama, das nicht zuletzt von der neuen mehrheitssozialdemokratisch dominerten Regierung zu verantworten gewesen sei und, unter öffentlich-medialem Flankenschutz, eine nachhaltige Radikalisierung des Meinungsklimas befördert habe. Die genaue Schilderung einzelner Gewaltakte steht bei Jones im Mittelpunkt. Auch ihrer Wahrnehmung und Vermittlung wird viel Aufmerksamkeit geschenkt. Denn an physische Gewalt geknüpfte Ängste, Gerüchte, Panikreaktionen, Perzeptionen und Autosuggestionen sorgten seines Erachtens für die große Reichweite und die politisch-kulturelle Wirkung, die das Thema der Gewalt in und nach der Revolution ausüben sollte.
Dass die Novemberrevolution zu Beginn gewaltfrei geblieben ist, konstatiert auch Jones. Im ersten Revolutionsmonat kam es nur zu wenigen Ausschreitungen, und es waren kaum Todesopfer zu verzeichnen. Panikreaktionen und die Sorge vor einer „Offiziersverschwörung“ motivierten meist zu den frühen vereinzelten Gewaltakten. Eine „Offiziersverschwörung“ habe es dabei nicht gegeben, sie sei ein auf Gerüchten beruhendes „Produkt revolutionärer Mystik“ gewesen.38
Bei der – angesichts jahrelanger blutiger Kämpfe im Weltkrieg erstaunlichen – Friedfertigkeit blieb es aber nicht und sie war auch nicht typisch für das Gepräge und die Auswirkungen dieser Revolution, wie Jones zu zeigen versucht. Einen ersten wichtigen Wendepunkt der Gewalt markierte seiner Wertung nach der 6. Dezember 1918: Damals fielen in Berlin mindestens 16 Menschen einem auch im Nachhinein nicht vollständig aufzuklärenden Maschinengewehreinsatz zum Opfer, als Soldaten des Garde-Füsilier-Regiments, die für die Sicherung des Regierungsviertels zuständig waren, während tumultartiger Zustände auf einen Demonstrationszug von Spartakus-Anhängern und -Sympathisanten an der Kreuzung Invaliden- und Chausseestraße schossen.39 Die „Spirale der Gewalt“, so die regelmäßige Diktion,40 drehte sich ab den Weihnachtstagen, während der Januarunruhen („Spartakusaufstand“), der Märzkämpfe und der Niederschlagung der Münchner Räterepublik im Mai 1919 immer weiter und immer heftiger.
Der Einsatz schweren Geschützes im aufständischen Osten Berlins im März 1919, verbunden mit Gustav Noskes Befehl standrechtlicher Erschießungen, markiert für Jones schließlich einen weiteren, ja den entscheidenden Wendepunkt hin zu „staatlich lizenzierter“, „staatlich gebilligter“, „staatlich verordneter“, „staatlich geförderter“ oder „staatlich legitimierter Gewalt“.41 Ausgelöst wurde das drakonische Vorgehen im Frühjahr 1919 durch die Meldung eines von Spartakisten verübten Massakers an 150 bis 200 Polizisten in Lichtenberg. Dieses Massaker hatte allerdings nicht stattgefunden, wie sich bald herausstellen sollte. Es handelte sich um einen frühen Fall von Fake News mit gravierenden Konsequenzen.42 Die Angst vor dem Bolschewismus, angetrieben von Fehlannahmen und Phantasmagorien, die durch die Propaganda der Roten Fahne freilich befördert wurden, stand in keinem Verhältnis zu seiner tatsächlichen Kraft in Deutschland, war aber folgenreich. Ein regelrechter „Liebknecht-Mythos“ suggerierte den Status eines mächtigen Hohepriesters der Revolution, der diese Rolle gar nicht ausfüllte und weit von einer solchen realen Machtposition entfernt war.43
Umso schärfer fällt die Kritik an der Mehrheitssozialdemokratie aus, die von einem „Herrschaftswillen um jeden Preis“, einem „unbedingten“ oder „absoluten Herrschaftswillen“ geleitet gewesen sei.44 Der sozialdemokratisch geführten Regierung komme danach eine große Mitverantwortung dafür zu, dass die „Novemberrevolution und ihre Nachwehen eine entscheidende Weggabelung auf dem Weg Deutschlands in das dunkelste Kapitel seiner Geschichte“ dargestellt und einen „Inkubationsraum für das Dritte Reich“ bereitgestellt hätten.45 Auch wenn Jones sich gegenüber der These eines zwangsläufigen Scheiterns Weimars verwahrt, betont er abschließend, „dass die dunklen Zeiten der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert nicht erst 1933 oder 1939 begannen“, sondern während der Novemberrevolution und der an sie geknüpften fatalen Gewaltpolitik.46 Aus solcher Deutung geht in aller Klarheit jene Kontinuitätsthese hervor, der zufolge der Umbruch von 1918/19 eher als diktaturgeschichtliche Urszene denn als Ursprung demokratiegeschichtlicher Entwicklungspfade aufzufassen sei.
In dieser Interpretation rückt die blutige Etappe der Revolution ab der Jahreswende 1918/19 in den Mittelpunkt der Betrachtung. Sie wird – gegen Winkler und andere – gleichsam zur formativen, den weiteren Gang der Geschichte besonders prägenden Phase einer Revolution, die auf militärische Gewalt setzte, die kurzfristig die Regierung zu schützen schien, langfristig aber nichts anderes als die Abschaffung der verhassten Republik beabsichtigte. In ebenso fataler wie paradoxer Weise setzte die Regierung Ebert-Scheidemann demnach auf die Unterstützung durch ihre Todfeinde statt auf die eigenen Anhänger, deren Radikalität sie vielmehr im Übermaß fürchtete. Dieses Argument streicht im Übrigen auch Joachim Käppner in seiner aktuellen Revolutionsdarstellung heraus. Er hält die ausgebliebene respektive nicht umgesetzte Militärreform zur Schaffung republikanischer Streitkräfte für „das große Übel der Revolution von 1918/19“, für ihren „Sündenfall“.47 „Die einmalige und auch letzte Gelegenheit vor 1945, dem deutschen Militarismus den Garaus zu machen“, sei verpasst worden. Gegenüber der Ebert’schen Sozialdemokratie formuliert Käppner ein vernichtendes Verdikt, weil an ihr der „Aufstand für Frieden und Freiheit“ gescheitert sei.48
Selbst ohne ausdrückliche Übernahme des Verratsvorwurfs steht die zweite Deutungsrichtung49 in der Tradition Sebastian Haffners. So schreibt Käppner gleich zu Beginn seiner Studie: „Hätte die Ebert-SPD die Massenbewegung genutzt, statt sie zu fürchten, das alte Militär zum Teufel gejagt, statt sich mit ihm zu verbünden, wäre die Republik 1933 wahrscheinlich nicht untergegangen oder wenigstens nicht den Nazis in die Hände gefallen – so der Gedankengang Haffners, und seiner Logik kann man sich schwerlich verschließen.“50 Haffner mag also in gewisser Weise die geistige Vaterschaft für das Paradigma der Gewalt zugesprochen werden.51