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IV. Fazit

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Das hohe Niveau an politischer Gewalt während der Weimarer Republik ist unbestritten.127 Fraglich ist allerdings, mit welcher Zwangsläufigkeit es aus fehlerhaften Entscheidungen und Handlungen während der Revolutionszeit 1918/19 abzuleiten ist. Markierte die Novemberrevolution im Sinne einer Geburtsfehlerthese jenen Wendepunkt der Gewalt, durch den das Scheitern der ersten deutschen Demokratie und der Weg ins „Dritte Reich“ wesentlich zu erklären ist?

Plausibler erscheint es zunächst, den Wendepunkt der Gewalt am Anfang der Revolution im Oktober und November, aber auch noch im Dezember 1918 zu betonen: nämlich ihr vor dem Hintergrund eines jahrelangen massenhaften Tötens während des Weltkriegs erstaunliches Maß an Friedfertigkeit und „Liebenswürdigkeit“ im Umgang mit den Herrschaftsträgern des Ancien Régimes.128 Manch zeitgenössischer Akteur äußerte daher den Verdacht, diese Revolution sei möglicherweise zu unblutig gewesen, um nachhaltige Durchsetzungskraft und eine kathartische Wirkung zu entfalten. So fragte beispielsweise die Frankfurter Rebellin Toni Sender in ihrer Autobiografie: „Ist die Novemberrevolution zu human gewesen?“129 Das anfänglich geringe Maß an Gewalt war indes keine spezifische Eigenheit der Novemberrevolution. Vergleichbares lässt sich auch im Falle anderer Revolutionen beobachten, deren gewaltsame, letztlich in Bürgerkrieg und Diktatur mündende Phasen nicht am Anfang standen. Das gilt für die Französische Revolution von 1789 ebenso wie für die Russische Revolution im Herbst 1917.

Wer das Panorama einer von militärischer Gewalt, Straßenkämpfen und kurzzeitigen bürgerkriegsartigen Zuständen geprägten ersten Jahreshälfte 1919 nachzeichnet, sollte nicht außer Acht lassen, dass es hierbei auch um die Re-Etablierung des grundsätzlich legitimen staatlichen Gewaltmonopols und nicht um einen normativ entkoppelten Primat der politischen Gewaltanwendung per se ging. Dieses Bestreben ist zudem als Voraussetzung und Ausdruck jenes bürgerlich-sozialdemokratischen Konsenses zu werten, der überhaupt erst die Schaffung der ersten deutschen Demokratie ermöglichte. Gewiss wurden im Kampf um die Behauptung des staatlichen Gewaltmonopols − dies blieb im Übrigen ein Dauerthema der Weimarer Republik130 − in unzulässiger Weise an sich autorisierte Mittel physischen Zwangs eingesetzt. Zwischen Gewalt als „ordnungszerstörender und ordnungsstiftender Kraft“131 verlief nur ein schmaler Grat. Die These von der Präformierung eines späteren totalitären Gewaltregimes überzeugt aber mitnichten. Die sozialdemokratisch-bürgerliche Regierung zielte gerade nicht auf die Perpetuierung des zeitweisen Einsatzes irregulärer Kräfte, sondern vielmehr auf die zeitliche Begrenzung von Gewalt, auf die Kontrolle und die Überwindung des Ausnahmezustands. Von einem neuen Herrschaftsprinzip oder der Tendenz hin zu einem autoritären politischen System kann keine Rede sein.

Die Novemberrevolution war ein schillerndes Geschöpf. Das zeigen auch und gerade die neuen gewaltgeschichtlichen Forschungen. Wer allerdings mit dickem Pinsel Kontinuitätslinien von der prekären Regierungsgewalt im Jahr 1919 hin zum Staatsterrorismus ab 1933 zeichnet, interpretiert die Weimarer Geschichte erstens in altbewährter Manier von ihrem Ende her. Zweitens werden besonders hohe, vor dem Hintergrund der realen Zeitläufte bisweilen konstruiert wirkende normative Maßstäbe – gerade mit Blick auf das Gewaltniveau – an diese Revolution angelegt. Drittens schließlich neigen die „Political-Violence“-Studien mit ihrer Tendenz zur dichten Beschreibung einzelner Gewaltexzesse samt der Annahme davon ausgehender prozesshafter Eigendynamiken dazu, politische und ideologische Prädispositionen und Motivlagen ebenso wie weitere Kontextbedingungen als Erklärungsangebote gering zu erachten.132 Dies führt im konkreten Fall dazu, den Zusammenbruch der staatlichen Autorität samt widerstreitender, multipler Herrschaftsansprüche als übergeordnetes Problem nicht ernst genug zu nehmen und Dynamiken durchbrechende Faktoren der Deeskalation unzureichend zu gewichten.

Wer abschließend nochmals gebündelt auf die zwei hauptsächlichen Interpretationslinien und Narrative zur Deutung des Umbruchs von 1918/19 blickt, wird Leitformeln erkennen, die zur überfälligen Wiederbelebung der aktuellen Debatte um Revolution und Republikgründung beitragen, ohne dass es ihnen gelingen würde, die historische Situation in überzeugender Weise von ihrer leidigen Ambivalenz zu befreien. Aus der vertrackten Situation 1918/19 lässt sich weder ein Lernbeispiel für die deutsche Demokratiegeschichte generieren noch eines des gewaltgeschichtlichen Abgrundes in die Diktatur. Die Vieldeutigkeit und Janusköpfigkeit der Ausgangslage zwischen Krieg, Nachkrieg, Revolution und Republikgründung machen es zu einer nahezu unlösbaren Aufgabe, daran eine überzeugende, die Geschichte glattziehende Meistererzählung zu knüpfen.

Der verheißungsvolle Gedanke der Demokratie konkurrierte nach 1918 schon bald mit extremistischen Ordnungsmodellen, der Wunsch nach parlamentarischen Aushandlungsprozessen mit politischer Gewalt auf den Straßen, das Freiheits- und Partizipationsstreben mit dem Bedürfnis nach autoritärer Führung in einer bedrohten Ordnung, die Erfahrung eines politischen Systemwechsels mit utopisch anmutenden Erwartungen gegenüber irdischen Heilswelten. Der historische Ort der Revolution von 1918/19 ist daher gerade in seiner schwierigen Koordinatenbestimmung und Zukunftsoffenheit zu erkennen. Es lassen sich in exemplarischer Weise die politischen Gestaltungskräfte, die Hoffnungen und Ängste einer Gesellschaft studieren, die sich mitten in einer Krise befand, deren Ausgang sie nicht kannte.133

Revolutionäre Aufbrüche  und intellektuelle Sehnsüchte

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