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3. Zeitgenössische Wahrnehmung und Würdigung von Gewalt im liberal-bürgerlichen Spektrum

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Es ist eine Stärke von Mark Jones’ Revolutionsgeschichte der Gewalt, viele Zeitgenossen zu Wort kommen zu lassen: von Ernst Troeltsch und Theodor Wolff über Harry Graf Kessler bis zu den Historikern Karl Hampe und Gustav Mayer. Diese Kronzeugen werden jedoch meist so zitiert, dass ihre Beobachtungen zu jenem „Crescendo der Gewalt“ passen, von dem Jones ausdrücklich spricht und das eine ständig ansteigende Gewaltdynamik suggeriert.90

An einer Stelle kommt indes auch bei Jones eine andersgeartete Episode zur Sprache: ein Spaziergang Ernst Troeltschs im Berliner Grunewald, den er auf Anraten seiner besorgten Frau nur mit einem Revolver bewaffnet wagen sollte. Einigermaßen verblüfft stellte Troeltsch im Nachhinein fest, wie überflüssig dies angesichts der friedlichen Stimmung gewesen sei. Einen Monat nach den Januarunruhen wunderte er sich erneut, wie unbeeindruckt das Berliner Großstadtleben trotz aller Gräuel und Gewehrsalven weiterlief. „Musiker und Histrionen bieten sich an allen Plakatsäulen in Massen an“, notierte er in einem seiner berühmten Spectator-Briefe, „die Theater spielen weiter und versammeln ihr an Gewehrschüssen vorbeieilendes Publikum in gewohnter Masse, vor allem wird, wo irgend möglich, getanzt – ohne Rücksicht auf die Kohlen- und Lichtnot“.91

Am 17. Januar 1919, erst zwei Tage nach dem Luxemburg-Liebknecht-Mord, hielt Harry Graf Kessler nach einem Kabarett-Besuch Vergleichbares in seinem Tagebuch fest: „Rassige spanische Tänzerin. In ihre Nummer krachte ein Schuß hinein. Niemand achtete darauf. Geringer Eindruck der Revolution auf das großstädtische Leben. Dieses Leben ist so elementar, daß selbst eine weltgeschichtliche Revolution wie die jetzige wesentliche Störungen darin nicht verursacht. Das Babylonische, unermeßlich Tiefe, Chaotische und Gewaltige von Berlin ist mir erst durch die Revolution klargeworden, als sich zeigte, daß diese ungeheure Bewegung in dem noch viel ungeheureren Hin und Her von Berlin nur kleine örtliche Störungen verursachte, wie wenn ein Elefant einen Stich mit einem Taschenmesser bekommt. Er schüttelt sich, aber schreitet weiter, als ob nichts geschehen wäre.“92

Diese Erfahrungsgeschichte der Beruhigung und des Gleichmuts tritt bei Jones ganz hinter die Nervosität und Hypersensibilität der Zeit zurück, so als ob – zumindest im Geiste einer ganzen Bevölkerung – der Finger stets am Abzug gewesen wäre. Dazu passt die Rede von einer „Nachkriegsgeschichte des Maschinengewehrs“.93 Es gilt, gegen diese Deutung stärker die Paradoxien der zeitgenössischen Wahrnehmung zu erfassen, die sich aus den Eindrücken von alltagsweltlicher Normalität einerseits und aus außergewöhnlichen Taten politischer Gewalt andererseits speisten. Aber auch jenseits solcher ebenso kontingent wie bisweilen bizarr erscheinender Konstellationen ließe sich der These einer Radikalisierung der politischen Kultur im Zeichen von Bolschewismusfurcht und ostentativ eingesetzter militärischer Gewalt jene einer gezielten Mäßigung entgegenhalten. Politisch beruhte sie auf dem innerlinken Schisma zwischen moderaten und extremen Kräften ebenso wie auf einer bürgerlich-sozialdemokratischen Übereinkunft und dem Bemühen, vielfältige Ideen zur weiteren Ausgestaltung der liberalen und sozialen Demokratie zu integrieren.94

Gleichwohl steht fest: Die von Noske implementierte Regierungsgewalt verstärkte die Spaltung der Linken massiv. Clara Zetkin wies im Januar 1920 den Mehrheitssozialdemokraten die alleinige Schuld für den „breiten Blutstrom“ während der Kämpfe des Vorjahres zu. Dies sei ein Blutstrom, der fortan „nicht überbrückt werden“ könne.95 Wer sich ganz auf die Geschichte der Arbeiterbewegung kapriziert, wird dieser zeitgenössischen Einschätzung einiges abgewinnen können. Wer den milieufixierten Blick indes weitet, wird nicht nur das blutige Fanal des Luxemburg-Liebknecht-Mordes vom 15. Januar, sondern auch das Ergebnis der Wahlen zur Nationalversammlung vom 19. Januar 1919 zu würdigen haben. Bei diesen Wahlen, an denen erstmals in der deutschen Geschichte Frauen wählen und gewählt werden durften, errang die MSPD 37,9 Prozent der Stimmen vor dem Zentrum mit 19,7 und der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) mit 18,5 Prozent. Mit einer Dreiviertelmehrheit begründeten diese drei Parteien bekanntlich die sogenannte Weimarer Koalition. Schon die Regierungsbildung unterstrich den Grundcharakter der Republikgründung: Sie war ein Basiskonsens zwischen gemäßigtsozialdemokratischen und liberal-bürgerlichen Kräften.

Vor dem Hintergrund einer so ausgedehnten Perspektive mag man Heinrich August Winklers Kompromissformel einiges abgewinnen, bei der Spaltung der Arbeiterbewegung habe es sich um „eine schwere Vorbelastung und eine Vorbedingung der ersten deutschen Demokratie“ gehandelt.96 Ein solches Urteil begegnet zugleich einer gelegentlich verzerrenden Sichtweise in der Revolutionsforschung, die zumal in der kontrafaktischen Debatte über unerfüllte Möglichkeiten bisweilen suggeriert,97 Deutschland habe 1918/19 ausschließlich aus der Arbeiterbewegung und ihren unerfüllt gebliebenen Zielen bestanden. Um das Bild von der revolutionären Umbruchsperiode zu vervollständigen, sind die Bedrohungswahrnehmungen in bürgerlichen, liberalen und konservativen Kreisen sowie deren Erwartungen gegenüber der tonangebenden regierenden Sozialdemokratie ebenfalls zu berücksichtigen.

Diese Erwartungshaltungen sollen anhand einiger Beispiele illustriert werden: Ein „Vernunftrepublikaner“ wie Friedrich Meinecke forderte Mitte März 1919 eine „starke, straffe und einheitliche Zentralgewalt“ zur Rettung vor der „Diktatur des Proletariats“.98 Der Heidelberger Mediävist Karl Hampe, der der Monarchie nachtrauerte, sich aber fortan Stück für Stück mit der Republik arrangieren sollte, hielt es am 25. Dezember 1918 für den gravierenden Fehler der regierenden Sozialdemokratie, vor dem Einsatz physischer Zwangsgewalt im Innern zurückzuschrecken. Kurz nach Ausbruch der Weihnachtskämpfe kennzeichnete er diese Haltung als „Humanitätsdusel“, der „geradezu zum Verbrechen“ werde, „weil er bewirkt, daß Aufruhr, der anfangs mit wenig Blut erstickt werden könnte, lawinenartig wächst und schließlich ganze Ströme fordert“.99 Das rigorose Handeln seitens der Regierung in den Januarkämpfen begrüßte er und hoffte Anfang Februar 1919, dass sie „rücksichtslos durchgreifend“ bleibe.100

Der mit der Republik sympathisierende Ernst Troeltsch beobachtete im April 1919, dass sich viele Zeitgenossen ein resoluteres Vorgehen der Sozialdemokratie zur Wiederherstellung und Sicherung der Staatsgewalt wünschten. Die von ihm diagnostizierte Gewalt-Skepsis der MSPD wertete er als „Schlappheit“ und „mangelnde nationale Gesinnung“.101 Noch im Februar 1920 war Troeltsch voll des Lobes für Gustav Noske: „Regierung bedeutet Ordnung und Recht überhaupt. Daß beides wieder gewonnen worden ist, das ist das immerhin nicht zu verachtende Werk des Parlaments und Noskes. Noske, der die Furchtlosigkeit eines nie versagenden Tierbändigers an sich hat, ist der Retter des Deutschen Reiches.“102 In dieselbe Richtung weisen Notizen von Troeltschs DDP-Parteifreund Theodor Wolff. Der liberale Journalist bemerkte im Februar 1919 anerkennend, wie sehr sich Noske „gegen die Unruhestörer“ und „in der Berührung mit den harten Tatsachen“ entwickelt habe – wenngleich bisweilen etwas „merkwürdig“.103 Auch ein späterer Historiker wie Rüdiger Bergien konnte „Noskes Politik“ insofern etwas abgewinnen, als sie klar signalisierte, „dass auch Sozialdemokraten fähig waren, Sicherheit herzustellen und damit den Erwartungen gerecht zu werden, die sich traditionell an die Inhaber der Regierungsgewalt richteten“.104 Es waren solche mit großer Skepsis gegenüber der sozialdemokratischen Regierungsfähigkeit gepaarte Erwartungen, die im bürgerlich-liberalen Spektrum dominierten.

Dieses Wechselspiel aus Erwartung und Erfahrung sorgte für eine durchaus fragile Konstellation. So notierte Theodor Wolff schon rund einen Monat nach seinem Noske-Lob – Mitte März 1919 – ebenfalls, dass sich „auch in der nicht-radikalen Bevölkerung vielfach Mißstimmung über das Auftreten u. Verfahren eines Teils der Freiwilligen-Offiziere“ breitmache. Denn diese Militärs würden „schon wieder die alten Manieren annehmen“.105 Darin deutete sich zusammengenommen eine differenzierte, von Ambivalenzen durchzogene Haltung zur Gewalt an. Vergleichbare Positionen finden sich auch beim „roten Grafen“ Kessler106 oder bei der eindeutig linken, nach Parteiaffinität aber nicht leicht einzusortierenden Käthe Kollwitz. Anfang des Jahres 1919 tat Harry Graf Kessler sein Unbehagen gegenüber einer ganz ohnmächtigen Staatsgewalt kund. Es schien ihm, als seien „die Zeiten des Faustrechts zurück“.107 Noch Mitte Januar 1919 fürchtete er eine „Entwicklung wie in Rußland“ und sogar ein „Verduften des Staates“.108 Zugleich erkannte er in der „Verbrüderung mit der Gewalt“ die Entwertung eines genuin politischen Denkens und Handelns.109 Nun machte er eine „leichtsinnig und frech mit dem Leben ihrer Mitbürger spielende Regierung“ dafür verantwortlich, „einen in Jahrzehnten nicht wieder zu heilenden Riß in das deutsche Volk gebracht“ zu haben.110

Kollwitz schließlich notierte an der Jahreswende 1918/19 zunächst erleichtert, dass bei allen Widrigkeiten und Kämpfen endlich kein Krieg mehr sei. „Der entsetzliche, immer unerträglichere Kriegsdruck ist fort und das Atmen ist wieder leichter. Daß wir damit gleich gute Zeiten bekämen, glaubte kein Mensch, aber der enge Schacht in dem wir staken, in dem wir uns nicht rühren konnten, ist durchkrochen, wir sehen Licht und atmen Luft.“111 Was die Kämpfe zwischen mehrheitssozialdemokratischer Regierung und Spartakus betraf, zeigte sie sich zwiegespalten. Bei aller Sympathie für den linken Radikalismus war sie mit der Zurückdrängung der Spartakus-Anhänger doch einverstanden. Für so notwendig sie ein solches Vorgehen grundsätzlich hielt, nannte sie die „rohe Gewaltanwendung“ gleichwohl „entsetzlich“. Sie brachte Verständnis für den Ruf nach dem Militär auf, fürchtete im selben Atemzug aber, dass dies der Beginn einer marschierenden „Reaktion“ sein könnte.112

Diese Stimmen vermitteln einen Eindruck davon, wie komplex und ambivalent das Gewalthandeln während des „langen Novembers“ der Revolution in bürgerlich-intellektuellen, vorwiegend linksliberalen Kreisen bewertet wurde, als wie notwendig und fragwürdig zugleich es erschien. Es wäre angesichts dieser Stimmen irreführend, selbst das ausdrückliche Lob für Noske als Zeichen von kruder Gewaltverherrlichung zu interpretieren. Dies würde das vorrangige Anliegen dieser liberalbürgerlichen Zeitzeugen verkennen: nämlich die staatliche Ordnung und das Gewaltmonopol wiederherzustellen. Insofern sind diese Quellen nicht als Ursprung und Akzeptanz extralegaler und illegitimer Gewalteinsätze zu werten, wie sie später unter den Nationalsozialisten zur Regel werden sollten. Im Gegenteil: Die Äußerungen zielten auf die Legalisierung und Konzentrierung der Gewalt, sie spiegeln ein Bedürfnis nach bürgerlicher Sekurität.

Revolutionäre Aufbrüche  und intellektuelle Sehnsüchte

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