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a) Originäre Staatsentstehung
ОглавлениеDie Entstehung staatlicher Strukturen auf Territorien, wo zuvor keinerlei Staatlichkeit oder staatsähnliche Strukturen existierten wird als originäre Staatsentstehung bezeichnet. Originäre Staatsentstehungsprozesse sind heute praktisch nicht mehr denkbar – der gesamte Erdball ist von Staaten besetzt, allenfalls partiell finden sich innerhalb dieser Staaten abgeschiedene (und geduldete) Regionen, wo Staatsentstehungen theoretisch denkbar wären.[366] Auch die Entstehung von Staaten aus vorstaatlichen Herrschaftsgebilden, die immerhin noch bis ins 19. Jahrhundert zu beobachten war, ist keine originäre Staatsentstehung in diesem Sinne, sofern sie sich unter dem Einfluss und nach dem Vorbild anderer Staaten vollzieht, da ein bestehendes Staatensystem dann bereits vorausgesetzt wird.[367]
Auch wenn es schwierig ist, den genauen Anfangspunkt entsprechender „erster“ staatlicher Entwicklungen zu bestimmen,[368] da dieser im Dunkel der Frühzeit liegt und nur archäologisch erschlossen werden kann, steht fest, dass die neolithische Revolution[369] einen zentralen Wendepunkt |66|einleitete.[370] Mit der (ebenfalls prozesshaften)[371] Domestizierung von Pflanzen und Tieren und der damit einhergehenden Sesshaftwerdung – Jagen und Sammeln spielten allerdings zunächst weiterhin eine große Rolle – wurden zwischen 10.000–5000 v. Chr. weltweit Prozesse in Gang gesetzt,[372] die in einem mehrere Jahrtausende währenden komplexen, keineswegs geradlinigen und nicht immer erfolgreichen Prozess[373] zur Entstehung der ersten „staatlichen“ Hochkulturen als Vorläufer der heutigen modernen Staaten führten.[374] Zu Beginn der neolithischen Revolution handelte es sich vornehmlich um kleinere Dorfgemeinschaften, deren Zusammengehörigkeit auf verwandtschaftlichen Beziehungen und daraus resultierenden Lineages[375] beruhte und bei denen die Versorgung des je eigenen Haushalts im Vordergrund stand.[376] Auf diese Weise entwickelten sich segmentäre Gesellschaften[377] mit unterschiedlichen verwandtschaftlichen Verbindungen, die im Laufe der Zeit (nicht zuletzt über beachtliche Heiratsregelungen) eine erstaunliche Komplexität erreichen konnten und deren Fortbestand zudem von gemeinsamen Ritualen und Erzählungen, mithin von sprachlichen Narrativen[378] abhängig war. |67|Wichtig ist die Erkenntnis, dass diese segmentären Gemeinschaften weder als starr, noch als unpolitisch[379] angesehen werden können.[380] Sie unterlagen einem steten strukturellen Wandel, der mit den Reproduktionsproblemen der Sesshaftwerdung ebenso zusammenhing, wie mit wandelnden Einflüssen einzelner Lineages (Familien und Personen) und sich vor allem in veränderten Macht- und Herrschaftsstrukturen niederschlug. Einmal etablierte Strukturen waren nie von Dauer, weil sie angesichts der mit ihr einhergehenden sozialen Asymmetrie innerhalb der Gemeinschaft stets verletzlich blieben. Folgt man diesen Erkenntnissen der modernen politischen Anthropologie dürfte es vollständig egalitäre Gesellschaften entgegen früheren Vorstellungen zu keinem Zeitpunkt in der Geschichte gegeben haben,[381] was den heutigen Versuch entsprechende Gesellschaften errichten zu wollen aus historischer Perspektive fragwürdig erscheinen lässt. „Kurz gesagt: es gibt keine Gesellschaft ohne politische Macht und keine Macht ohne Hierarchie und Beziehungen der Ungleichheit zwischen den Individuen und den sozialen Gruppen.“[382] Schon Hans Kelsen hat zutreffend betont, dass „die Tendenz zum Zwang schon der die primitivste Gruppe konstituierenden sozialen Ordnung“ immanent sei.[383] Was daraus zugleich folgt, ist die Historisierbarkeit der ersten segmentären Gesellschaften; sie sind nicht geschichtslos und können und müssen aus einer prozesshaft-historischen Perspektive beleuchtet werden, was denn auch seit der Mitte des 20. Jahrhunderts vermehrt geschieht. Der entscheidende Sprung dieser Gesellschaften zur staatlichen Hochkultur hängt damit aber nicht an ihrer seit jeher vorhandenen Politisierung,[384] und erst recht nicht an einem wie auch immer gearteten Monopol |68|legitimer Gewaltausübung, wie in Nachfolge Max Webers[385] bisweilen angenommen wird,[386] oder aber an der Existenz von Zwang überhaupt, da diese jeder sozialen Ordnung jedenfalls latent immanent ist.[387] Entscheidend ist vielmehr ihre veränderte mitgliedschaftliche Struktur. Während vorhochkulturelle Gesellschaften zwar komplex aber gleichwohl verwandtschaftlich organisiert waren, gelang es den staatlichen Hochkulturen auch nicht-verwandte Personen in das Gesellschaftssystem als ordentliche Mitglieder (und nicht als reine Sklaven) zu integrieren. Die Mitgliedschaft in der Gesellschaft wurde von der verwandtschaftlichen und positiven Reziprozität gelöst,[388] der Führungsanspruch des Häuptlings beruhte nicht mehr auf familiär-traditionellen, sondern anderen Kriterien und konnte dadurch auch von nicht verwandten Mitgliedern akzeptiert werden (balancierte Reziprozität).[389] Dass die Verwandtschaft im Hinblick auf die soziale Stellung weiterhin eine bedeutende Rolle spielte, versteht sich von selbst (und ist in vielen modernen Staaten, bisweilen auch in Demokratien,[390] bis heute der Fall). Im Übrigen aber lösten sich die Herrscher aus den Bindungen der Verwandtschaftssysteme und gewannen an Entscheidungsfreiheit und Bestimmungsgewalt. Diese in der veränderten Mitgliederstruktur neuartige Integrationsleistung wird man im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Entstehung moderner Staatlichkeit kaum überbewerten können. Umso beachtlicher ist der Umstand, dass sich solche hochkulturellen Gesellschaften praktisch auf allen Erdteilen unabhängig voneinander herausbildeten, wenn auch zeitlich auseinanderliegend. Es handelte sich also mitnichten um eine europäische Entwicklung:[391] Zunächst in Mesopotamien (in den sumerischen Städten bereits um 3500 v. Chr.), sodann in China und Südamerika.[392] Ägypten dürfte ebenfalls als Beispiel einer unabhängigen originären Staatsentstehung anzusehen sein, wenngleich wohl bereits frühzeitig Handelsbeziehungen zu Mesopotamien bestanden.[393] Im Industal ist die archäologische Forschung nicht ganz |69|eindeutig, gleichwohl wird man der Harappa-Kultur[394] (um 2300 v. Chr.) Eigenständigkeit und Unabhängigkeit in der Entstehung zusprechen können. Die genauen Hintergründe und Voraussetzungen dieser Entwicklung sind weiterhin nicht umfassend geklärt.[395] Am wahrscheinlichsten dürfte eine Mischung aus institutionell-organisatorischen Herausforderungen der neolithischen Revolution (vor allem im Hinblick auf die nunmehr begrenzte Territorialität der Anbauflächen) und eines sich daraus ergebenden kognitiven Wandels sein,[396] mithin eines veränderten Weltbildes, bei dem vor allem die frühen Tempelanlagen und die Tempelwirtschaft eine entscheidende Rolle spielten. Hinzu kommt die zuerst in Mesopotamien zu beobachtende Urbanisierung,[397] eine Knappheit an Großwild sowie die Bevölkerungsstruktur. Unabhängige Hochkulturen entwickeln sich nur in wenigen Kerngebieten mit hoher Bevölkerungsdichte, in denen ein größeres Netzwerk politischer Herrschaftsgebilde („Cluster“) entsteht,[398] die in einem permanenten auch kriegerischen Wettbewerb zueinander stehen.[399] Hier wird die archäologische Forschung weitere Erkenntnisse liefern, die neben der (politischen) Anthropologie und der historischen Soziologie vornehmlich gefordert ist. Hinzu kommt die Sozio-Biologie, die erhellende Einblicke liefern kann, wie unlängst Mark W. Moffett gezeigt hat.[400] Die Allgemeine Staatslehre, die sich nicht als genuin historische Wissenschaft ansehen sollte und dem Anspruch, das Wesen der Staatlichkeit auch in geschichtlicher Perspektive zu ergründen von vornherein nicht gerecht werden könnte, kann dazu nur wenig beitragen. Gleichwohl kann sie bei einer Beschreibung der heutigen Staatenwelt und der heutigen Herausforderungen in zumindest drei Bereichen von den Erkenntnissen |70|bezüglich der Entstehung der ersten staatlichen Strukturen und ihrer Prozesshaftigkeit profitieren:
Erstens im Hinblick auf den Begriff des Politischen, der in seinem Inhalt nicht vorschnell mit den politischen Institutionen des modernen europäischen Staates oder wie bei Georg Jellinek überhaupt mit dem Begriff des Staates verknüpft werden sollte.[401] Politisches Handeln in Form von Herrschafts- und Machtausübung[402] im Weber’schen Sinn und darin begründeter sozialer Schichtung hat es seit jeher und nicht nur in Europa gegeben. Das Politische[403] wird insofern durch den Bezugspunkt der Herrschaft konstituiert. Adressat und Autor der kollektiv verbindlichen Entscheidung ist das öffentliche Gemeinwesen, auch wenn lediglich Einzelne durch die Entscheidung betroffen sind oder die Entscheidung durch Einzelne getroffen wird. Das entspricht dem ursprünglichen Sinn des Begriffs, der auf die Polis und damit auf die überindividuelle öffentliche, nicht ausschließlich private Bedeutung von Entscheidungen verweist.[404] Die Bestimmung des Politischen ist daher auch von den Betroffenen und den Akteuren des Gemeinwesens abhängig und damit von den Anschauungen der politischen Gemeinschaft geprägt.[405] Damit ist die verbindliche Entscheidung individueller Konflikte durch ein Gemeinwesen nichts anderes als politische Herrschaftsausübung – und die findet sich in allen frühen Gesellschaftsformen, die daher als politisch angesehen werden können und müssen. Politische Herrschaft ist nicht zwingend an ein bestimmtes, fest umgrenztes Territorium gebunden, wenngleich sie sich regelmäßig dort auswirkt,[406] hängt aber auch nicht an einem irgendwie gearteten Gewaltmonopol.[407] Wie solche Entscheidungen zustande kamen und woraus sie ihre Legitimität schöpften ist auch für eine moderne Allgemeine Staatslehre bedeutend. Der Staat, erst recht der moderne Staat, ist dagegen eine spätere Entwicklungsstufe, die in komplexeren Gesellschaften entstehen |71|kann und durch eine Ausdifferenzierung verschiedener Herrschaftsfunktionen und -strukturen gekennzeichnet ist. Er ist natürlich politisch, bildet aber nicht den gesamten Raum des Politischen ab.
Zweitens im Hinblick auf das Verständnis des Wandels von Staatlichkeit. Solche transformatorischen Prozesse lassen sich auch in vorstaatlichen Strukturen nachweisen und machen nachgerade das Wesen jeder (politischen) Gemeinschaft aus. Darüber, wie ein solcher Wandel unter welchen Voraussetzungen friedlich ablaufen kann, lassen sich durch diesen Blick zurück auch heutige Transformationsprozesse besser einordnen und verstehen. Hier werden zu einem gewissen Grad wohl auch genuin menschliche Eigenschaften wirksam, die ihre Gültigkeit nicht verloren haben. Jedenfalls wäre es verfehlt zu glauben, dass die ersten Gemeinschaften bis zur Ankunft der Europäer keine solchen Prozesse durchlaufen hätten.
Schließlich und drittens dürften die Integrationsleistungen (insbesondere der ersten Hochkulturen) auch für das Verständnis heutiger Integrationsbemühungen von Interesse sein (Stichwort: Flüchtlingskrise). Wie konnte es gelingen, nicht-verwandte Personen in die Gesellschaft aufzunehmen? Lässt sich eine solche Integrationsleistung wiederholen? Die Ausweitung der Reziprozitätsleistungen auf nicht-verwandte „fremde“ Personen bleibt eine staatliche Daueraufgabe, selbst wenn man diesen Vorgang nicht wie Rudolf Smend sogar als nachgerade staatskonstituierend ansieht. Wir brauchen mit Danielle Allen auch heute eine „Kunst des Brückenbauens“,[408] um eine „Interaktionskultur zu schaffen, die dazu beiträgt, dass den Menschen soziale Verbundenheit gelingt.“[409] Kunst und Kultur könnten hier eine wichtige Rolle spielen.