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e) Verfassungsgebung und Verfassungsänderung
ОглавлениеNeue politische Herrschaftsordnungen, vor allem solche, die aus umfassenden Reformen, Revolutionen, Dismembrationen, Sezessionen oder – wie die BRD – kriegerischen Niederlagen hervorgehen, konstituieren sich formal durch den Erlass einer neuen Verfassungsordnung.[478] Diese neue Verfassungsordnung ist Ausdruck der „verfassungsgebenden Gewalt“ des Volkes, die seit der Französischen Revolution und Abbé Emmanuel Joseph Sièyes von der „verfassten Gewalt“ des Volkes unterschieden wird:[479] „Als Autor der neuen staatlichen Ordnung setzt sich das Volk selbst ein […]. Man legt kraft autonomer Selbstorganisation und reklamierter Rechtsetzungskompetenz einen neuen normativen Grund für die gesamte Rechts- und |85|Staatsordnung.“[480] Die neu errichtete Verfassung wirkt insofern herrschaftsbegründend,[481] grenzt sich bisweilen implizit oder sogar explizit von vorherigen Herrschaftsordnungen ab – besonders deutlich wird das beim deutschen Grundgesetz, das sich nachgerade als Gegenentwurf zum nationalsozialistischen Terrorregime (nicht aber pauschal zur Weimarer Verfassung) versteht.[482] Moderne Verfassungen brechen insofern mit der Vergangenheit und richten den Blick in die Zukunft. Verfassungsordnungen haben mithin einen konkreten Anfang und machen dadurch zugleich ihre soziale Gesetzheit, ihre Unnatürlichkeit deutlich – es gibt keine „natürlichen“ Verfassungsprozesse[483] und erst Recht keinen historisch vorgegebenen Weg zum Verfassungsstaat. „Verfassungsgebungen waren (und sind) Transformationsprojekte ohne Anspruch auf Erfolg.“[484]
Von Volkssouveränität sollte allerdings nur für diesen Prozess der erstmaligen Verfassungsgebung gesprochen werden. Ist die Verfassung verfasst und in Geltung gesetzt, genießt im demokratischen Verfassungsstaat kein Organ – auch und gerade nicht das Volk – Souveränität.[485] Martin Kriele hat diesen Umstand treffend auf den Punkt gebracht: „Das Vorhandensein eines Souveräns in diesem Sinne einerseits und der Verfassungsstaat andererseits sind zwei polare, einander ausschließende Gegensätze, mit anderen Worten: Die Vorstellung eines Souveräns ist revolutionärer Sprengstoff gegen den Verfassungsstaat.“[486] Nach der Verfassungsgebung agiert das Volk mithin als von der Verfassung konstituiertes Organ mit spezifischen Zuständigkeiten, das wie die anderen Organe an die vorrangige Verfassung gebunden ist:[487] „Für die Figur der Volkssouveränität bleibt entgegen einer verbreiteten Ansicht in Literatur und Rechtsprechung somit wenig |86|Raum.“[488]
Wer sich den realen Prozess der Verfassungsgebung allerdings in Form einer sozial-romantischen Zusammenkunft aller BürgerInnen an einem Ort vorstellt, die nach anregender Debatte die neue gemeinsame Verfassungsordnung verabschieden, wird von der (historischen) Praxis enttäuscht – schon angesichts der großen Zahl an BürgerInnen in größeren Gemeinwesen wäre eine solche Zusammenkunft undenkbar.[489] Hinzu kommt der Umstand, dass die komplexe Ausarbeitung einer Verfassungsordnung eine begrenzte Anzahl an Personen voraussetzt.[490] Sieht man von einer oktroyierten Verfassung ab – wie in Preußen im Jahr 1850 – erfolgt die Ausarbeitung der neuen Verfassung daher meist in einer verfassungsgebenden Versammlung, die ihre Geburtsstunde in den amerikanischen „constitutional conventions“ Ende des 18. Jahrhunderts hatten.[491] Schon hier zeigt sich ein erstes kaum lösbares Problem des modernen Verfassungsstaats: Es liegt in der Legitimation dieser die Verfassung ausarbeitenden Versammlung. Die Zusammensetzung ergibt sich in Zeiten revolutionärer Unruhen nur selten aus vollständig freien und gleichen demokratischen Wahlen, hängt von Zufälligkeiten oder den Vorstellungen eventueller Siegermächte ab. Teilweise greift die verfassungsgebende Versammlung auch auf Vorarbeiten von Verfassungskommissionen (Herrenchiemseer Konvent, Verfassungskommission der Paulskirchenversammlung) oder gar Einzelpersönlichkeiten zurück (Weimar: Hugo Preuß), wodurch sich die Legitimationsfrage noch einmal verschärft. Insofern findet sich im Rückblick kaum eine Verfassungsordnung, die im Hinblick auf ihre Entstehung nicht gewisse Legitimationsdefizite aufweist,[492] schon weil der politische Körper und damit auch die Zugehörigkeit zu diesem erst mit der zu vereinbarenden Verfassung begründet werden.[493] Günter Frankenberg spricht von den „autoritären Gründungsmomenten“ demokratischer Verfassungen, die allzu oft hinter glorifizierten Entstehungsnarrativen versteckt werden: „Empirisch war und ist das Konstituieren überwiegend also nicht Selbstbindung des demokratischen Souveräns ‚Volk‘ im Singular oder Plural, sondern Fremdbindung durch Vertreter*innen, die für das Volk sprechen und entscheiden.“[494] Die Verabschiedung der neuen Ordnung durch eine solche „undemokratische“ Versammlung wird für sich daher kaum die Legitimität |87|erzeugen können, derer es für ihre Stabilität bedarf. Ihren eigentlichen „Legitimationsschub“ erhalten (demokratische) Verfassungen daher auf zweierlei Weise: Einerseits indem der Verfassungstext dem Volk zur Zustimmung vorgelegt wird. So verhielt es sich etwa mit der Verfassung der fünften Französischen Republik, die nach ihrer Ausarbeitung durch die Regierung unter Beteiligung eines aus Parlamentariern besetzten beratenden Verfassungsausschusses in einem Plebiszit vom Französischen Volk angenommen wurde. Etwas anders, im Hinblick auf die Legitimation allerdings kaum weniger, vielleicht sogar stärker ausgeprägt, erfolgte die Annahme der ausgearbeiteten Verfassung in den USA (1787) und in der Schweiz (1848) durch Plebiszite in den Einzelstaaten. Ein geringeres Legitimationsniveau wies die Ratifizierung des Grundgesetzentwurfs in den einzelnen Landtagen der Bundesländer auf – eine Volksbefragung wurde weder in den Ländern noch auf Bundesebene durchgeführt.[495] Aufgefangen wurde dieses Legitimationsdefizit durch den zweiten Legitimationsstrang moderner Verfassungen: Zeit.[496] Die politische Ordnung gewinnt mit jedem Tag, an dem sie von der Bevölkerung als auch vom politischen Betrieb als neue Grundordnung des Gemeinwesens anerkannt und geachtet wird an zusätzlicher Legitimationskraft: „Die erfolgreiche Revolution aber streift irgendwann den Makel ihrer Herkunft ab und erwächst in Legitimität.“[497] Für das deutsche Grundgesetz hält Christoph Möllers fest: „Die Legitimation des Grundgesetzes ergibt sich nicht aus der historisch anfechtbaren Behauptung, es sei vom demokratischen Volk gemacht, sondern aus dem demokratischen Anspruch des Grundgesetzes, das in praktischen Vollzug gesetzt wurde, namentlich aus der Tatsache, dass das Grundgesetz freie und gleiche Wahlen anordnet und diese so stattgefunden haben.“[498] Eine besondere legitimatorische Bedeutung kommt hier dem ersten friedlichen Regierungswechsel zu, der sich in Deutschland etwa im Jahr 1969 vollzog. Spätestens mit dieser gelungenen, weil friedlichen Übergabe der Macht von der Regierung an die bisherige Opposition wird man von legitimatorischen Defiziten mit Blick auf die Bundesrepublik nicht mehr sprechen können[499] – im Jahr 2022 gilt das erst Recht. Legitimitätsschwankungen, |88|ablesbar etwa in sinkenden Wahlbeteiligungen, sind dadurch nicht ausgeschlossen, da die Legitimation immer nur einen notwendigen aber nicht hinreichenden Faktor für die Legitimität einer demokratischen Ordnung darstellt.[500] Voraussetzungen und dogmatische Einordnung der Verfassungsgebung bleiben gleichwohl umstritten.[501]
Noch nicht gelöst ist damit ohnehin das zweite allgemeine Legitimationsproblem von Verfassungen, das in der Bindung kommender Generationen liegt. Wie lässt es sich rechtfertigen, dass sich eine frühere Generation über den Erlass einer Verfassung anmaßt, auch über die politische Grundordnung kommender Generationen zu entscheiden? Von einer Selbstbindung kann schwerlich gesprochen werden, wenn die aktuelle Generation an der ursprünglichen Ausgestaltung der Ordnung in keiner Weise beteiligt war: „Der Zeitfaktor macht aus Selbstbindung Fremdbindung, aus Autonomie Heteronomie.“[502] Tatsächlich wurde aus diesen Überlegungen – nicht zuletzt von Thomas Jefferson[503] – teilweise der Schluss gezogen, dass eine Verfassungsordnung stets nur für eine Generation Geltung beanspruchen könne. Jede Verfassung müsse mit einem obligatorischen Verfallsdatum versehen werden, um jeder Generation die Möglichkeit zu geben, selbst über die für sie geltenden Spielregeln des politischen Betriebs zu entscheiden. Die Verfassungstheorie entwickelte hingegen eine andere Lösung des Generationenproblems, die den Spagat zwischen notwendiger Stabilität und generationengerechter Flexibilität sachgerecht auflöste: Die Möglichkeit der Verfassungsänderung.[504] Die moderne Verfassungstheorie kennt dadurch neben der verfassungsgebenden und der gesetzgebenden mit der verfassungsändernden noch eine dritte besondere Legislativgewalt, deren Existenz von der Verfassung anerkannt und ausgeformt wird. Damit ist eine Änderung der Spielregeln jederzeit möglich, ohne die Verfassung als Ganzes ablösen zu müssen. Die konkreten Änderungsverfahren müssen allerdings einen gewissen Abstand zum gewöhnlichen Gesetzgebungsverfahren aufweisen.[505] Ist der Abstand |89|sehr groß – wie in den USA – kann die Verfassungsänderung einer formalen Verfassungsablösung nahe kommen und spielt damit im alltäglichen Geschäft keine Rolle. Ist der Abstand gering, wie in Deutschland, werden Verfassungsänderungen hingegen zu einer regelmäßigen politischen Option.[506] Das Grundgesetz ist im internationalen Vergleich daher schon (zu) häufig geändert worden.[507] Für die Allgemeine Staatslehre ist die Analyse dieser Änderungsverfahren und ihrer Auswirkungen auf die Stabilität einer politischen Ordnung von Interesse. Darüber hinaus zeigt sich, dass die Rechtfertigung qualifizierter Mehrheiten für das Änderungsverfahren – das ein Vetorecht der Minderheit begründet – bis heute unter einem legitimatorischen Defizit leidet, praktisch in allen Verfassungsordnungen aber zur Anwendung kommt. Wie Diego Pardo-Alvarez gezeigt hat,[508] lässt sich die notwendige Distanz zum gewöhnlichen Gesetzgebungsverfahren auch auf eine Weise herstellen, die diese Defizite und insbesondere den nicht gerechtfertigten Einfluss von Minderheiten vermeidet.[509] Anders als zu erwarten, wird diese Diskussion aber weder in der Verfassungstheorie noch in der Allgemeinen Staatslehre gegenwärtig ernsthaft geführt.