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c) Revolutionen

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Revolutionen – der Begriff stammt aus der Astronomie[448] – hat es in der Staatsgeschichte immer wieder gegeben.[449] Als klassisch gelten die Revolutionen in England (1642–60 und die Glorious Revolution 1688), die Französischen Revolutionen (1789,[450] 1830, 1848) und die Russische Revolution (1917). Zu erwähnen sind aber auch die Chinesischen Revolutionen (nationale Revolution 1911–1927 sowie die kommunistische Revolution 1927–1949), die Kubanische Revolution (1953–1959), die Iranische („islamische“) Revolution (1979) sowie die Sawr-Revolution in Afghanistan (1978). Unter dem Begriff „Arabellion“ bzw. „Arabischer Frühling“ wird eine ganze Reihe von Protesten und Revolutionen zusammengefasst, die ab 2010 im nordafrikanischen Raum auftraten, letztlich allerdings nur bedingt als erfolgreich angesehen werden können.[451] In Deutschland sind die Paulskirchen-Revolution (1848/1849),[452] die Novemberrevolution (1918/1919) sowie die „friedliche Revolution“ in der DDR (1989) zu nennen. Ob es sich beim Abfall der britischen Kolonien und der anschließenden Gründung der USA ebenfalls um eine Revolution gehandelt hat, ist umstritten und hängt vom gewählten Begriffsverständnis ab, entspricht allerdings der gemeinen Bezeichnung dieser Vorgänge, deren zeitlicher Beginn meist mit dem Siebenjährigen Krieg[453] verknüpft wird[454] („Amerikanische Revolution“).[455] Nicht |79|zuletzt einige Marxisten bestritten den Revolutionscharakter, da es sich lediglich um den Austausch einer imperialen durch eine konservativ-koloniale Elite gehandelt habe[456] – ein Elitenaustausch also ohne gesellschaftlichen Wandel, was sich schon am Fortbestand der Sklaverei gezeigt habe. Andere hingegen mieden den Begriff gerade deshalb, um soziale Spannungen innerhalb der späteren USA zu vertuschen, die bereits im Vorfeld der Unabhängigkeit bestanden. Der Unabhängigkeitskrieg war danach keine inneramerikanische Revolution, sondern Ausdruck eines nachgerade übermenschlichen Kraftakts einer vollständig geeinten Nation.[457] Tatsächlich ging es aber, wie Carl. L. Becker später feststellte, keineswegs nur um die „home rule“, sondern selbstverständlich auch darum „who should rule at home“.[458] Und auch wenn die neue Ordnung konservativer war als sich das mancher Marxist gewünscht hätte, fanden sich mit der Idee der repräsentativen Demokratie und Gewaltenteilung sowie der Konstruktion des modernen Bundesstaates selbstverständlich „revolutionäre“ und die Gesellschaft verändernde Elemente, die die Staatenwelt fortan maßgeblich prägen sollten.[459] An diesem Beispiel zeigt sich daher vor allem die Abhängigkeit des Revolutionsbegriffs und der Einordnung bestimmter Ereignisse von den vorherrschenden Zeitauffassungen und Interessen, mithin vom politischen Kontext.[460] Gerade im Augenblick einer solchen Transformation ist die Verwendung des Begriffs „Revolution“ nur selten Ergebnis einer sachlich-objektiven Einordnung als vielmehr politische Kampfansage bestimmter gesellschaftlicher Schichten, die von anderen bewusst gemieden wird – nicht alles, was als Revolution bezeichnet wird, ist eine Revolution.

Versucht man sich unter Berücksichtigung dieser Schwierigkeiten an einer ersten allgemeingültigen Definition des Begriffs wird man formulieren können: Eine Revolution ist der von einem Veränderungswillen getragene Umsturz herrschender Eliten durch eine neue Elite, durch den nach der Machtübernahme die bestehende Herrschafts- und Sozialstruktur fundamental (zur Erlangung der Freiheit) verändert wird; es geht mithin um die Ablösung des alten politischen Systems und die anschließende Begründung eines vollständigen politischen Neuanfangs. Im Hinblick auf den Revolutionsbegriff hält denn auch Hannah Arendt fest, dass dieser unlösbar in der Vorstellung behaftet sei, „dass sich innerhalb der weltlichen Geschichte etwas ganz und gar Neues ereignet, dass eine neue Geschichte anhebt.“[461] Und etwas später |80|schreibt sie: „Dass die Idee der Freiheit und die Erfahrung eines Neuanfangs miteinander verkoppelt sind in dem Ereignis selbst, ist für ein Verständnis der modernen Revolution entscheidend.“[462]

Ein solcher Umsturz impliziert gewalttätige Vorgänge, die man auch regelmäßig vorfinden wird. Allerdings ist Gewaltgebrauch kein notwendiger Bestandteil einer Revolution. Es gibt Beispiele friedlicher Revolutionen (Umsturz in der ehemaligen DDR 1989/1990). Allerdings werden sich auch dort meist punktuelle Gewalttätigkeiten finden – nicht zuletzt der Zusammenbruch des Ostblocks verlief nicht umfassend friedlich. Entscheidend ist dennoch weniger der Gewaltgebrauch als die Illegalität der Vorgänge nach der bestehenden Verfassungsordnung, die die Revolution zugleich von umfassenden Reformen abgrenzt.

Mit der fundamentalen und eruptiven Veränderung der Herrschafts- und Sozialstruktur unterscheidet sich die Revolution in ihrer zweiten Stufe von einem Staatsstreich, der sich in der bloßen Auswechslung der Machtinhaber erschöpft.[463] Auch die Erstürmung des Winterpalais am 24.10.1917 war daher zunächst einmal keine Revolution, sondern ein „gewöhnlicher“ Putsch. Selbst wenn es im Anschluss an einen solchen Staatsstreich zu formalen Veränderungen des Verfassungssystems kommt, haben diese auf die tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnisse meist keine besonderen Auswirkungen. Für die „einfache Bevölkerung“ ändern solche Machtwechsel dann im Alltagsleben vergleichsweise wenig. Sie werden denn auch nicht selten eher achselzuckend hingenommen. Zu größerem Widerstand kommt es möglicherweise erst dann, wenn und soweit die neuen Machthaber fundamentale gesellschaftliche Veränderungen „von oben“ durchdrücken wollen. Das zeigte sich auf dem afrikanischen Kontinent, wo die Aufstände der einheimischen Bevölkerungen erst extrem wurden, als diesen bewusst wurde, dass es bei der Kolonisation keineswegs nur um den Austausch der Herrschaftspersonen, sondern um einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel ging.[464]

Während ein solcher Austausch der herrschenden Eliten damit ohne größere Unterstützung in der Bevölkerung gelingen kann, wird eine Revolution nur bei einer ausreichenden Massenmobilisierung einschließlich des möglicherweise bestehenden Militärs erfolgreich sein; die Macht muss, wie Hannah Arendt formuliert „auf der Straße liegen.“[465] Che Guevara ist das in Bolivien ab 1966 nicht gelungen, weshalb seine Umsturzversuche erfolglos blieben. Auch in Venezuela dürfte der im Jahr 2019 versuchte politische Umsturz des Maduro-Regimes aus diesem Grund und bis heute nicht geglückt sein – das Militär sah sich zumindest wegen der unklaren Mehrheitsverhältnisse in der |81|Bevölkerung nicht gezwungen, die Seite des Regimes zu verlassen. Die Macht blieb dadurch beim Regime. In Bolivien war das Ende 2019 anders – Präsident Evo Morales musste nach dem Vorwurf der Wahlmanipulation das Land verlassen, weil das Militär ihn nicht mehr stützen wollte (allerdings handelte es sich auch hier vorerst nicht um eine Revolution, sondern um eine Auswechslung der Machthaber). Im Zusammenhang mit der Arabellion (ab Ende 2010) glückte die notwendige Massenmobilisierung hingegen (zunächst) durch die Nutzung sozialer Medien, die allerdings vor allem im klassischen Medium „Fernsehen“ (Sender: Al-Dschasira) weltweit gespiegelt wurde.[466] Ob eine neue Verfassung in Chile zur Beruhigung führen wird, bleibt abzuwarten.

Revolutionen laufen nicht nach einem bestimmten Schema ab, sind sowohl in ihren Voraussetzungen als auch ihrem Verlauf individuelle Ereignisse, an denen unterschiedliche Persönlichkeiten und Zufälligkeiten ihren Anteil haben. Aus der Perspektive der Allgemeinen Staatslehre stellt sich die Frage, inwieweit es gleichwohl möglich ist, gewisse Regelmäßigkeiten zu erkennen, die die gesellschaftliche Situation im Vorfeld der Revolution und den „typischen“ Ablauf einer Revolution markieren.[467] Betrachtet man die historischen und auch aktuellen Revolutionen (man denke an die „Arabellion“, den „Arabischen Frühling“ ab Ende 2010)[468] aus dieser Perspektive, so wird man im Hinblick auf die revolutionäre Situation Folgendes festhalten können:

 Ausgangspunkt revolutionärer Umstürze bildet meist ein beachtliches Elitenversagen, das sich entweder in einer erheblichen Uneinigkeit, Unfähigkeit oder schlicht Korruption widerspiegelt.

 Es zeigen sich meist bedeutende politische, soziale und/oder wirtschaftliche Diskriminierungen, die im Ergebnis zu nachgerade unlösbaren Gegensätzen zwischen sozialen Schichten führen.[469] Die Verfügung über die Ressourcen ist sehr ungleich verteilt, bisweilen kommt es zu Hungersnöten oder sonstigen humanitären Krisen.[470] Die alte Herrschaft fällt in eine fundamentale Legitimitätskrise, bei der gerade der Unterschied zwischen Arm und Reich, mithin die soziale Frage, eine zentrale Rolle spielt.[471] Anders gewendet: Die Revolution knüpft an einen existierenden Autoritätsverlust des bestehenden Systems an, ist aber nicht dessen Ursache.

 |82|In der gesellschaftlichen Stimmung offenbart sich ein allgemeines Krisengefühl und ein Gefühl des Niedergeschlagenseins.

 Es existiert eine passende neue Ideologie, die sich in der Gesellschaft verbreitet und hinter der sich die Revolutionäre versammeln können.

Frei nach Lenin handelt es sich also um eine Situation, in der „die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen.“[472] Konkreter Auslöser für die ersten (gewalttätigen) Unruhen können dann ausländische Interventionen oder aber – wie etwa in Russland und Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg oder in China ab 1911 – kriegerische Niederlagen sein. Der vollständige Niedergang der nationalen Armee bildet dann den Ausgangspunkt für eine grundlegende Umgestaltung der bisherigen Gesellschaftsordnung. Bisweilen können aber auch auf den ersten Blick eher marginale Ereignisse das „revolutionäre Fass“ zum Überlaufen bringen – in Chile kam es Ende 2019 zu Unruhen, nachdem die Preise für den öffentlichen Nahverkehr um wenige Cent erhöht wurden. Schon die Schilderung dieser gesellschaftlichen Zustände im Vorfeld von Revolutionen lässt im Hinblick auf die aktuellen Entwicklungen in manchen westlichen Demokratien aufhorchen – ohne dass damit eine baldige Revolution prognostiziert wäre. Das Ausmaß sozialer Spaltung und der Umgang der Eliten miteinander mahnen hier aber zu einer erhöhten, historisch fundierten Wachsamkeit.

Im Hinblick auf den Ablauf einer Revolution lassen sich folgende Stufen unterscheiden, wobei sich Regelmäßigkeiten vornehmlich bei solchen Revolutionen zeigen, die letztlich in einer autoritären Ordnung, jedenfalls aber keiner demokratischen Verfassungsordnung enden. Historisch zeigt sich dabei, dass erfolgreiche Revolutionen in diesem Sinne ohnehin die Ausnahme sind; zu Recht hat daher Hedwig Richter zuletzt angemahnt, den vielfältig gelungenen Reformprojekten größere historische Aufmerksamkeit zu schenken, um dadurch gewonnene Erkenntnisse auch für die heutigen Herausforderungen nutzen zu können.[473] Im Folgenden ist vor diesem Hintergrund der Ablauf der Englischen, Französischen, Russischen und Chinesischen Revolution skizziert, Ähnlichkeiten zeigten sich aber auch bei einzelnen Teilrevolutionen des Arabischen Frühlings:

 In einer Situation eines geschwächten Staates, der häufig nur noch durch wenige alte Oberschichten repräsentiert wird, erzwingt die Gemeinsamkeit der Gegner dieser Elite den politischen Umsturz. Es ist dies die Phase, in der sich angesichts des gemeinsamen Gegners die größte Einigkeit der Revolutionäre zeigt. Im unmittelbaren Anschluss an die „Revolution“ wird nicht selten gemeinsam ausgelassen gefeiert.

 |83|Es folgt eine idealistische Phase, die jedoch angesichts der konkreten Realitäten und Probleme bei der Neugestaltung der zu transformierenden Gesellschaft alsbald zu einer Spaltung der Revolutionsführer in Gemäßigte und Radikale führt. Während die Gemäßigten in dieser realistischen Phase für einen behutsamen und graduellen Übergang plädieren, drängen die Radikalen auf den umgehenden Wandel und werden immer rigoroser im Umgang mit vermeintlichen Revolutionsgegnern, als die alsbald auch die gemäßigten Revolutionäre eingeordnet werden. Darin zeigt sich auch eine gewisse Ohnmacht im Hinblick auf die politischen Steuerungsmöglichkeiten revolutionärer Prozesse. Die Handelnden Akteure verlieren den Zugriff auf die Geschehnisse, ein Phänomen, dass Hannah Arendt vor allem für die Französische Revolution beschrieben hat.[474] Gleichwohl bleibt die Revolution die Folge konkreter Handlungen und ist nicht das Ergebnis historischer Notwendigkeiten.

 Aufgrund ihrer kompromisslosen Methoden steigen die Radikalen in der Revolutionshierarchie auf, verdrängen die Gemäßigten und konzentrieren die Macht um einen vergleichsweise kleinen Kreis an „echten“ Revolutionären.

 Es folgen Terror und Thermidor,[475] bis sich ein neuartiges autoritäres Regime herausgebildet hat, dass im Namen der Revolution herrscht und Gegner und unliebsame Opposition mit gewalttätigen Mitteln verfolgt.

Revolutionen können auch anders und vor allem erfolgreich ablaufen. Aus der Perspektive der Allgemeinen Staatslehre gilt es sich aber der Gefahr bewusst zu sein, die mit revolutionären Vorgängen einhergehen kann. Die weithin gescheiterte Arabellion mahnt hier zur Zurückhaltung und vor allem dazu, die anfangs festzustellende Einigkeit der Akteure nicht mit einer dauerhaften Einigkeit in allen zentralen Fragen der Gesellschaft und ihrer zukünftigen Ausgestaltung zu verwechseln. Der entscheidende Moment einer Revolution, der über Erfolg oder Niederlage entscheidet, dürfte der Übergang von der idealistischen zur realistischen Phase sein. Hier gilt es sicherzustellen, dass aufkommende Differenzen bei der Gestaltung des „revolutionären Alltags“ und der gesellschaftlichen Transformation nicht zu einer Spaltung und neuen Feindseligkeiten führen, die in Gewalt und Terror enden. Wege aufzuzeigen, wie dieser Übergang erfolgreich gestaltet werden kann, gehört damit zu den zentralen Aufgaben einer modernen Allgemeinen Staatslehre.

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