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a) Stiller Verfassungswandel
ОглавлениеMehr oder weniger im Hintergrund und von keiner zentralen Instanz koordiniert läuft der stille Verfassungswandel ab. Es handelt sich nicht um formale Änderungen der Verfassung,[423] sondern um ein im Laufe der Zeit |75|verändertes Verständnis zentraler Verfassungsbestimmungen, die zur Gewährleistung der erforderlichen Legitimität an den gesellschaftlichen Zeitgeist, europarechtliche Vorgaben[424] oder technischen Wandel[425] angepasst werden, ohne ihren Wortlaut zu verändern.[426] Mit der veränderten Interpretation der Verfassung verändert sich so zugleich das Fundament auf dem die politische Ordnung errichtet ist.[427] An die Existenz einer geschriebenen Verfassung ist ein solcher Wandel nicht geknüpft. Er findet auch in Staaten wie Großbritannien,[428] Neuseeland oder Israel statt, ist bei einer geschriebenen Verfassung allerdings zwangsläufig einfacher feststellbar (dafür aber möglicherweise auch verfassungstheoretisch problematischer). Das Problem eines solchen Wandels ist offenkundig. Es liegt in dem dunklen und dadurch undurchsichtigen Prozess, der entsprechende Veränderungen hervorbringt und der damit zusammenhängenden unklaren demokratischen Legitimation der neuen Interpretation bereits seit Jahrzehnten oder sogar länger bestehenden Verfassungsrechts.[429] Andererseits sind Verfassungsbestimmungen vergleichsweise offen formuliert und ermöglichen dadurch die Implementierung veränderter Verständnisse, wollen das partiell sogar.[430] Eine Verfassungsordnung, die stets die politische Grundlage der aktuellen Gesellschaft abbilden und die notwendige Legitimität der aktuellen politischen Ordnung herzustellen in der Lage sein muss, allzu starr zu interpretieren und keinerlei Veränderung zuzulassen erscheint insofern verfehlt: „Ihre vielfältigen Funktionen kann eine Verfassung letztlich nur erfüllen, wenn sie sich für die Probleme der Gegenwart öffnet und diese Wirklichkeit normativ verarbeitet.“[431] Die Auslegung der Verfassung nach der Idee des „original |76|intent“,[432] wie sie teilweise in den USA präferiert und selbst von einigen Verfassungsrichtern praktiziert wird,[433] ist vielleicht auf den ersten Blick besonders demokratisch, riskiert aber den Bestand der politischen Ordnung selbst, weil die Bedürfnisse und Vorstellungen der aktuellen Generation nicht hinreichend berücksichtigt werden[434] – gerade in Systemen wie den USA, in denen eine formelle Verfassungsänderung auf kaum zu überwindende prozessuale Hürden trifft.[435] Andererseits kann eine Verfassung ihrer Rahmen- und Eingrenzungsfunktion für den politischen Raum nicht gerecht werden, wenn ihr Inhalt nicht wenigstens partiell fixiert und beständig, mithin verlässlich ist (was aber von Unbeweglichkeit oder Starrheit zu unterscheiden ist).[436] Den richtigen Weg zwischen gefährlicher Verstarrung und interpretatorischer Beliebigkeit zu betreten ist für den dauerhaften Bestand eines politischen Systems und einer Verfassungsordnung damit essentiell. Diesen Weg zu weisen und den stillen Verfassungswandel ebenso zu ermöglichen wie ihm Grenzen zu setzen, bildet daher eine konstante Aufgabe der Verfassungstheorie,[437] der juristischen Methodenlehre[438] aber auch der Allgemeinen Staatslehre, die sich auch als normative Wissenschaft versteht und von der die Verfassungstheorie nach Matthias Jestaedt disziplingeschichtlich abstammt.[439] Sie kann zudem Beispiele aufzeigen, in denen dieses Spannungsverhältnis in schonender Weise aufgelöst worden ist. Die Aktualität dieser Fragen zeigt sich in Deutschland an der Diskussion um den Ehebegriff in Art. 6 Abs. 1 GG,[440] zuvor bereits bei der Auslegung des Art. 68 GG (Vertrauensfrage und Stellung des Bundespräsidenten),[441] in den USA bei der Interpretation des 2. Zusatzartikels (dem |77|Recht, Waffen zu tragen)[442] und in Großbritannien etwa im Hinblick auf die Reichweite der „Royal Prerogative“ und der beim Monarchen verbliebenen Letztzuständigkeiten.[443]