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2. Kapitel

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Ohnehin an ein Leben in frischer Luft gewöhnt, ließ sich Twist auch durch den immer dichter werdenden Nebel nicht abhalten, noch eine knappe halbe Stunde im Freien spazieren zu gehen. Mittlerweile war es einundzwanzig Uhr geworden. Als er zurückkehrte, fand er die Tür noch nicht versperrt, aber in der Halle sah er keinen Menschen. Leise schritt er die Treppe hinauf und bleib unwillkürlich stehen, weil er Mrs. Bendix' Stimme gehört hatte.

„Aber ich kann doch nicht ...!“, sagte die Amerikanerin kichernd. „Nein, nein, lieber Edgeland, das schickt sich nicht!“

„Ich meine, dass wir unseren einundzwanzigsten Geburtstag beide schon einige Jahre hinter uns haben“, hielt ihr eine amüsierte Männerstimme entgegen. „Ich will doch nichts Unrechtes von Ihnen, Teuerste — glauben Sie mir doch!“

„Hm — wenn es so ist, mein Lieber, brauche ich doch gar nicht erst mitzugehen!'' stellte die Amerikanerin verblüffend fest.

Die Stimme Edgelands wurde sanft und überredend. „Sie missverstehen mich, Teuerste, und halten mich für schlechter, als ich bin. Damit stehlen Sie mir die Show! Ich habe eine Flasche Whisky von einer Sorte, die Sie heute nirgends mehr im Handel erhalten — und da Sie Kennerin sind ...“

Mrs. Bendix unterbrach ihn amüsiert: „Ein Mann kann mich nicht reizen — exquisiter Whisky immer. Jetzt bin ich natürlich zu allen Schandtaten bereit!“

Twist sah tanzende, sich an der Wand bewegende Schalten, eine Tür quietschte leise in ihren Angeln. Mrs. Bendix machte eine Bemerkung, die Twist nicht verstand — und dann fiel die Tür mit leisem Knall ins Schloss.

Zweiundzwanzig Uhr zehn.

Als Seldwyn Twist den langen Korridor der Gästeetage eben erreicht hatte, sah er ganz am Ende zwei Gestalten, hörte er einen leisen Aufschrei und das Knallen einer Tür.

Nanu?, überlegte er, das war doch das Zimmer vor dem Mr. Bagdasarians, also Nummer 11; Nummer 11 ist unbelegt — was geht hier vor?

Neugierig eilte er über den Gang und blieb vor Zimmer 11 stehen.

Dass er sich nicht getäuscht hatte, bewies ihm die klaffende Tür, die offenbar nicht richtig ins Schloss gefallen und daher wieder aufgesprungen war.

Noch ehe sich Twist darüber klar werden konnte, wie er sich verhalten sollte, hörte er im Zimmer Susan Austons Stimme:

„Ich habe das ganze Affentheater satt! Mir steht es bis zum Hals! Warum bloß lässt du mich nicht in Ruhe?“

„Warum ich dich nicht in Ruhe lasse, Schätzchen?“ Boole lachte hässlich. „Das könnte dir dein eigener Verstand sagen! Welcher Mann würde schließlich um eine so reizende kleine Nebenerwerbsquelle einen großen Bogen machen?“

Mann ...?“, fragte Susan verächtlich. — „Wenn du ein Mann wärest, würdest du dich durch ehrliche Arbeit ernähren und nicht durch ... Erpressungen!“

„Was du über mich denkst, Süße, ist mir vollkommen gleichgültig. Hauptsache, du tust, was ich will!“ Die Stimme wurde drohend, brutal: „Sobald du wieder in London bist, wirst du mir wieder hundert Pfund schicken.“

„Oh nein, das werde ich ganz bestimmt nicht tun“, widersprach Susan matt. „Nicht einmal deswegen, weil ich nicht will, sondern weil ich ganz einfach die hundert Pfund nicht habe.“

„Well, dann wirst du eben deinem Chef ein wenig um den Bart gehen. Du hast eine dicke Nummer bei ihm. Er wird dir einen Vorschuss geben.“

„Und anschließend werde ich verhungern — wie?“

Twist erblasste vor Grimm. Da hörte er Susan wimmern: „Lass mich los!“

Er öffnete schnell die Tür. Boole hatte Susan am Handgelenk gepackt und verdrehte ihr den Arm. Seine Lippen hatten einen grausamen Ausdruck. Twist hörte Susan vor Schmerz wimmern. Er trat rasch näher; Boole ließ das aufschluchzende Mädchen los, wandte sich um und ballte die Fäuste.

Obwohl es Twist in den Fingern juckte, dem Lumpen eine handgreifliche Belehrung zu erteilen, nahm er sich zusammen. Er deutete zur Tür und sagte schneidend: „Hinaus!“

Nur das eine Wort.

Boole senkte wie ein geprügelter Hund den Blick, fragte aber trotzdem dreist: „Mit welchem Recht mischen Sie sich in meine Angelegenheiten, he? Das möchte ich einmal wissen!“

Twist ging nicht darauf ein. „Ich fordere Sie zum letzten Male auf, das Zimmer schnellstens zu verlassen!“

Boole blieb regungslos stehen. Twist erkannte, wie sich seine Muskeln plötzlich anspannten, er war auf der Hut. Der Jüngere sprang urplötzlich los und wollte Twist den Kopf in den Leib rammen, aber dieser wich ein klein wenig zur Seite, ließ den Angreifer stolpern und versetzte ihm gleichzeitig mit der steif gemachten Handkante einen kräftigen Schlag in den Nacken.

Boole ging krachend zu Boden, schrie erschrocken auf und blieb, sich vor Schmerzen windend, stöhnend liegen.

„Stehen Sie auf und verschwinden Sie schnellstens!“, befahl Twist scharf, aber ohne die Stimme zu erheben. „Und sofern ich noch einmal erfahre, dass Sie Miss Auston belästigen, schlage ich Ihnen alle Knochen im Leib kaputt!“

Boole stand schwerfällig auf, musterte die schluchzende Susan aus tückischen Augen, warf Twist einen Blick mörderischer Wut zu und verließ taumelnd den Raum.

Twist trat rasch auf Susan zu und legte ihr kameradschaftlich den Arm um die Schulter. „Nicht weinen, Susan“, flüsterte er, „es ist schon alles vorbei. — Wollen Sie mir nicht endlich erklären, was das alles zu bedeuten hat?“

Susan schüttelte errötend den Kopf. Sie stammelte:

„Ich ... schäme ... mich so sehr ...!“

„Ist es denn so schlimm?“

Sie nickte heftig.

„Aber Sie dürfen doch Vertrauen zu mir haben“, flüsterte Twist. „Ich werde Ihnen jederzeit helfen, selbst dann, wenn Sie ein Verbrechen begangen haben sollten.“

„Nein“, erwiderte Susan schnell, „ich habe kein Verbrechen begangen, außer dem einen, das das Gesetz nicht unter Strafe stellt: das der Dummheit ...!“

Twist verzichtete darauf, sie zu bedrängen. Er fragte lediglich, ob er sie zu ihrem Zimmer begleiten dürfe.

Susan nickte schweigend.

*


Zweiundzwanzig Uhr fünfzehn:

Twist wollte Susan vor ihrem Zimmer gute Nacht sagen, aber sie packte ihn schweigend am Handgelenk und zog ihn mit hinein.

„Danke, Seldwyn!“, sagte sie. Sie legte ihm sekundenlang die Arme um den Hals und küsste ihn zart auf den Mund. Es war ein kameradschaftlicher, netter Kuss, fern allen Begehrens; trotzdem durchrieselte er Twist wie ein elektrischer Strom. „Seitdem ich weiß, dass es Sie wieder in meinem Leben gibt, Seldwyn, erscheint mir mit einem Mal alles leicht und einfach. Vielen, vielen Dank! — Sie ahnen ja gar nicht, wie sehr Sie mir helfen.“

Twist sah Susan forschend an. „Morgen früh halb neun? Dabei bleibt es?“

Susan nickte. „Ich ändere meine Entschlüsse nicht. Gute Nacht, Seldwyn!“

„Gute Nacht, Susan! — Riegeln Sie sich auf jeden Fall ein.“

„Ich tue alles, was Sie von mir wünschen.“

Twist zwang sich zu einem optimistischen Lächeln und winkte Susan einen Gruß zu, ehe er sich abwandte.

Beruhigt wollte er die Tür öffnen, als er mitten in dieser Bewegung verharrte. Er glaubte draußen ein Geräusch gehört zu haben, das wie der gedämpfte Laut von Schritten klang, die sich von links — von der Treppe her — nach rechts — zum Ende des Ganges — zu bewegen schienen. Twist wartete noch einige Sekunden lang, dann aber zwang ihn die Neugier, vorsichtig die Tür einen Spalt breit zu öffnen. Er sah gerade noch den Rücken zweier Männer. Der linke war ein hoch gewachsener, schwarzhaariger Bursche, der rechte bedeutend kleiner, mit rührend krummen O-Beinen.

Otello Zurlini und Joey Sarketh also. Was hatten die beiden dort hinten zu suchen?

Das sollte Twist nicht lange verborgen bleiben. Die beiden verhielten erst am Ende des Ganges ihre Schritte. Zurlini klopfte an die Tür von Nummer 13 an. Twist sah deutlich, wie die Tür von innen geöffnet wurde and die beiden schnell ins Zimmer schlüpften. Bagdasarian hatte also ihren Besuch erwartet.

„Stimmt etwas nicht?“, fragte Susan leise, die das Zögern Twists ängstlich machte.

„I wo, Susan“, murmelte Twist beschwichtigend. „Nichts, was mit Ihnen oder mit mir zu tun hätte.“

Vorsichtshalber wartete er noch einige Minuten, ehe er rasch Zimmer 3 verließ und gemächlich zu seinem eigenen Zimmer schlenderte. Als er es erreichte, hörte er im gegenüberliegenden Gemurmel. Er konnte deutlich verschiedene Stimmen unterscheiden, aber nicht hören, was gesprochen wurde.

Das eine stand fest: Der Großhändler Otello Zurlini aus London und der Pferdetrainer Joey Sarketh aus Edinburgh gehörten zusammen und waren gemeinsam an Siki Bagdasarian interessiert. James Lowell, der Motelbesitzer, war mit ihnen im Bunde. Zurlini hatte sich bei Lowell bitter beklagt, weil dieser Sturgess Shapiro und Louella Bendix ebenfalls aufgenommen hatte. Waren die beiden etwa Gegenspieler Zurlinis? Welche Rolle spielte dann Willie Edgeland, der sich inzwischen mit Louella Bendix so weit angefreundet hatte, dass sie ihm willig auf sein Zimmer gefolgt war — angeblich, um eine besonders seltene Whiskysorte zu probieren ...?

*


Zweiundzwanzig Uhr fünfundvierzig:

Twist legte Jackett und Schuhe ab und entledigte sich seiner Krawatte. Da wurde leise an die Tür geklopft. Gleich darauf öffnete sie sich, Siki Bagdasarian trat ein.

Twist erhob sich überrascht.

„Mr. Bagdasarian ...?“

Das hagere Gesicht des Georgiers war dunkel gerötet. Er kam näher und nahm wortlos Twist gegenüber Platz. Jetzt erst sagte er: „Ich bitte wegen des Überfalls vielmals um Entschuldigung, Mr. Twist, aber mein Herz ...“ Er holte tief und keuchend Atem, dann fuhr er fort: „Es macht mir heute besonders zu schaffen. Das Nebelklima des schottischen Tieflandes ist geradezu Gift für mich. Höchste Zeit, dass ich meine Geschäfte hier abschließe und nach dem Süden fahre — sofern ich das noch schaffe.“

Twist musterte den Georgier besorgt.

„Sie sind müde und überreizt, Mr. Bagdasarian. Es wird schon alles gut werden. Führt Sie ein besonderer Wunsch zu mir? Kann ich irgendetwas für Sie tun?“

Bagdasarian lehnte sich erschöpft in seinem Sessel zurück. Ohne auf Twists Fragen direkt einzugehen, murmelte er: „Ich bin an einem Wendepunkt meines Lebens angelangt. Nicht zum ersten Mal übrigens — aber vielleicht zum letzten Mal — so Gott will. Es ist alles in der Schwebe. Wenn das glückt, was ich vorhabe, mache ich das größte Geschäft meines bisherigen Lebens, glückt es nicht — bin ich ruiniert — oder meine Hinterlassenschaft ...

Plötzlich riss er weit die Augen auf, stöhnte schmerzlich und fuhr, sich eisern zusammennehmend, fort:

„Meine augenblickliche Situation wäre selbst für einen kerngesunden Mann schwierig genug, für einen Kranken ist sie äußerst prekär. Dazu kommt, dass ich hier allein bin, so jämmerlich allein — das heißt, jetzt nicht mehr. Der Himmel selbst hat mir die Begegnung mit Ihnen beschert und mir den einzigen Ausweg gewiesen.“

Er richtete sich entschlossen auf, sein Tonfall wurde feierlich. „Mr. Twist, meine untrügliche Menschenkenntnis sagt mir, dass ich Ihnen vertrauen darf. Dass Sie nicht nur ein Ehrenmann sind, sondern auch eine mutige, kraftvolle Persönlichkeit. Diese feste Gewissheit und die Überzeugung, dass mir jeden Augenblick etwas zustoßen kann, gibt mir den Mut, Sie zu fragen: Wollen Sie, falls mir heute Nacht etwas zustößt, in einer ganz bestimmten Angelegenheit mein Treuhänder sein?“

Twist beschlich ein mehr als unbehagliches Gefühl. Wie sollte er sich verhalten? Aber für einen Gentleman gab es nur einen Ausweg. Er sagte:

„Unter der, allerdings unabdingbaren, Voraussetzung, dass mir nichts zugemutet wird, was gegen meine Ehre geht, bin ich bereit, Ihren Wunsch nach besten Kräften zu erfüllen.“

Ein tiefer, befreiender Atemzug löste sich aus Bagdasarians Brust. „Dank, tausend Dank!“, murmelte er. „Ich wusste, dass ich Sie nicht vergebens um Hilfe bitten würde. Versprechen Sie mir ehrenwörtlich, niemand ein Wort von dem zu verraten, was jetzt zur Sprache kommt, auch der Polizei nicht? Ich versichere Ihnen meinerseits auf Ehrenwort, dass auch die Erfüllung dieser letzteren Forderung mit Ihrem Ehrenstandpunkt vereinbar ist, Sie müssen mir das schon glauben.“ Twist überlegte mit gesenktem Blick, dann reichte er in jähem Entschluss Bagdasarian die Hand, in die dieser einschlug.

„Sie haben mein Ehrenwort, Mr. Bagdasarian.“

„Tausend Dank, Mr. Twist!“ Bagdasarian dämpfte seine Stimme zu einem tonlosen Flüstern. „Falls mir in dieser Nacht etwas zustößt, werden Sie baldigst nach Liverpool fahren und dort die Anglo-Iberian Bank aufsuchen. Bitten Sie den zuständigen Bankbeamten, Ihnen das Stahlfach 91 aufzuschließen und geben Sie dem Beamten das Schlüsselwort: Baudelaire. Bitte, wiederholen Sie!“

Twist wiederholte laut und deutlich: „Anglo-Iberian Bank, Liverpool, Stahlfach 91 — Schlüsselwort Baudelaire.“

„Jetzt ist mir leichter“, atmete Bagdasarian auf. „Sie ahnen nicht, Mr. Twist, welche großherzige Wohltat Sie mir erweisen.“

„Was habe ich weiter zu tun, sobald man mir das Stahlfach geöffnet hat?“

„Sie nehmen die Unterlagen heraus, bewahren sie sorgsam auf und nehmen Kenntnis. Nach Kenntnisnahme werden Sie unmissverständlich darüber informiert sein, welche Schritte Sie weiter zu ergreifen haben.“

„Nun, das alles kommt mir reichlich mysteriös vor“, murmelte Twist, „aber Sie haben mein Ehrenwort und können sich auf mich verlassen.“

*


Dreiundzwanzig Uhr fünf:

Nach dem positiv verlaufenen entscheidenden Gespräch besserte sich Bagdasarians Zustand fast augenblicklich — der beste Beweis dafür, dass seine Schwäche nicht nur physische, sondern auch psychische Ursachen hatte. Er begann ruhiger zu atmen, die krankhafte Röte seines Gesichtes begann zu verblassen.

„Allein durch das Bewusstsein, dass ich mich auf Sie, Seldwyn Twist, stützen und verlassen kann, sind achtzig Prozent meiner Lastenden Sorgen beseitigt. Ich verzichte darauf, Ihnen ein viertes Mal zu danken, denn ich hoffe, dass ich Ihnen eines Tages meinen Dank durch die Tat abstatten kann. Und noch etwas — vergessen Sie das eine nicht: Sie wären der ideale Partner für mich. Wenn diese Nacht glücklich vorübergeht und wir einander morgen früh gesund und munter wiedertreffen, wollen wir uns weiter darüber unterhalten. Würden Sie jetzt bitte das Licht verlöschen, niemand braucht zu bemerken, dass ich mich eine knappe halbe Stunde bei Ihnen aufgehalten habe.“

Twist knipste das Licht aus und öffnete lautlos die Tür. Als er hinaussah, verschwand in dem neben Nummer 13 gelegenen Zimmer 11 blitzschnell ein Mann, in dem er Martin Boole erkannt zu haben glaubte. Aber auch die Tür des ebenfalls unbelegten Zimmers 9 war mit leisem Knall ins Schloss gefallen, allerdings ohne dass Twist über die Person des zweiten Lauschers eine Wahrnehmung hatte machen können.

Twist wartete noch einige Minuten ab, bis er Bagdasarian einen Wink gab, worauf dieser ohne ein Wort hastig Nummer 14 verließ, über den Korridor huschte und in Nummer 13 verschwand.

Oliver Seldwyn Twist war nicht der Mensch, der auf Aufklärungen verzichtete, die er sich verschaffen konnte. Er öffnete seine eigene Zimmertür weit, sprang zum Schrank, nahm seine große Reisemappe, die dort neben zwei Koffern stand, an sich und hastete wieder zur Schwelle. Ohne dabei die Türen von Nummer 11 und 9 aus den Augen zu lassen, nahm er eine Browning-Pistole, Kaliber 7,65 mm heraus.

Als er sie gesichert hatte, sprang er zu Zimmer 11 hinüber, riss die Tür auf und drang ein. Gedankenschnell ging Twist in die Hocke. Das Zimmer war vollkommen dunkel, aber das Fenster stand offen, was im Licht des zunehmenden Mondes deutlich zu sehen war. Twist trat zum Fenster und beugte sich weit hinaus. Von Martin Boole war nichts zu sehen — dafür aber links neben dem Sims die Feuerleiter. Damit war das Rätsel gelöst.

Twist trat ärgerlich zurück und schloss das Fenster. Zu spät dachte er daran, dass er durch sein Verweilen in Zimmer 11 dem unerkannt gebliebenen zweiten Lauscher in Zimmer 9 die Chance geboten hatte, sich ebenfalls unerkannt abzusetzen. Eilig verließ er den Raum, schloss die Tür leise hinter sich und drang in Nummer 9 ein.

Dort bestätigte sich seine Befürchtung: Zimmer 9 war leer.

Wütend auf sich selbst ging Twist in sein eigenes Zimmer zurück, um endlich zu Bett zu gehen.

*


Dreiundzwanzig Uhr fünfunddreißig:

Seldwyn Twist fühlte sich müde, zerschlagen und unlustig, aber er brachte trotzdem kein Auge zu. Unablässig beschäftigten ihn diese mysteriösen Ereignisse.

Träge verrannen die Minuten. Plötzlich zerriss ein greller Blitz die Finsternis, grollender Donner folgte, und schon war eine jener seltenen, aber in Schottland sehr gefürchteten Wintergewitter im Gange.

Twist wurde von der unerträglichen Vorstellung gefoltert, er habe es unterlassen, das Fenster in Nummer 11 vollkommen zu verriegeln. Rasch sprang er aus dem Bett und machte Licht. Er angelte nach seinen Hausschuhen und schickte sich an, sein Zimmer zu verlassen.

Als er die Tür öffnete, sah er auf halbem Weg zur Treppe eine Gestalt in einem weinroten Morgenrock und fragte sich verblüfft, was das jetzt wieder zu bedeuten habe. Nach der Figur zu schließen, blieb nur der Schluss übrig, dass es sich um Anneclaire Racklin handelte, die australische Journalistin, die freilich auf Zimmer 4 wohnte, also hier am rückwärtigen Ende des Flures auch nicht das Mindeste zu suchen hatte ...!

Ein entsetzlich laut krachender Donnerschlag brachte plötzlich das Haus zum Erzittern, das Licht erlosch — vermutlich hatte irgendwo der Blitz in die Freileitung eingeschlagen und „Little Soul's Joy“ stromlos gemacht.

Twist betrat Zimmer 11, spürte aber sofort, dass das Fenster geschlossen war. Trotzdem tastete er sich zur Außenwand vor, überzeugte sich, dass das Fenster zugeriegelt war, und kehrte kopfschüttelnd wieder zum Flur zurück.

*


Null Uhr fünfzehn:

Twist hatte sich wieder zu Bett begeben, aber der Schlaf wollte und wollte sich nicht einstellen. Er beschloss, den Rest der Nacht lesend zu verbringen, richtete sich im Bett auf, tastete mit der Rechten nach dem Druckknopfschalter der Nachttischlampe, drückte auf den Knopf — aber es blieb im Zimmer finster. Jetzt erst erinnerte er sich wieder daran, dass „Little Soul's Joy“ stromlos war.

Plötzlich hörte er Geräusche: einen lauten Knall und einen wüsten Fluch.

Du meine Güte, dachte Twist entsetzt, wohin bin ich hier bloß geraten! Schon wieder jemand in Bagdasarians Zimmer? Er sprang verärgert aus dem Bett und tastete sich zum Tisch, wo er am Abend seine Taschenlampe abgelegt hatte. Als er sie gefunden hatte, verließ er sein Zimmer und trat auf den Gang hinaus. Der Lichtstrahl der Taschenlampe erhellte einen menschenleeren Korridor — nichts ...!

Mehr zu seiner eigenen Beruhigung als aus Überzeugung von der Notwendigkeit dieser Maßnahme beschloss Twist, einen Blick zu Bagdasarian hineinzuwerfen.

Twist hatte gehofft, dass sich Bagdasarian eingeschlossen hätte, aber das war nicht der Fall, die Tür ließ sich aufklinken. Twist hörte ein rasselndes Schnarchen. Sekundenbruchteile lang glitt der Lichtkegel der Taschenlampe über das Bett, wo Bagdasarian auf der Seite, mit dem Rücken zur Tür, in tiefem Schlummer lag. Der blitzende Sektor wanderte zum Nachttisch weiter — dort lag seine schwere Repetierpistole in abgeschnalltem Holster, daneben stand ein Glas Wasser und dahinter ein Medizinfläschchen. Twist leuchtete es knapp an und las das Etikett:

Tinctura strophanthi. Bei Bedarf höchstens 20 Tropfen in Wasser zu nehmen! Gift!

Beruhigt wandte er sich zum Gehen.

Twist kehrte unbemerkt in sein eigenes Zimmer zurück, legte sich ins Bett und fand endlich Schlaf.

Killer-Zimmer: Krimi Koffer mit 1300 Seiten

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