Читать книгу Killer-Zimmer: Krimi Koffer mit 1300 Seiten - Alfred Bekker - Страница 9
1. Kapitel
ОглавлениеKurz vor fünf Uhr nachmittags gab Twist endgültig die Hoffnung auf, nach Glasgow weiterfahren zu können. Der Nebel wurde dichter und dichter, von Sicht konnte überhaupt nicht mehr die Rede sein. Seldwyn Twist begann, sich ernsthaft nach einer Bleibe umzusehen.
Das Schild: „Little Soul's Joy — Komfortzimmer — Ia Küche — Bar“, kam ihm wie gerufen. Er brauchte nur links abzubiegen und in sanftem Bogen zu einem asphaltierten Parkplatz zu fahren, wo nicht ein einziger Wagen stand. Twist stieg aus, schlug die Tür zu und blieb einen Augenblick stehen, um seine Glieder zu dehnen und zu strecken. Dann schlenderte er langsam zu dem Rasthaus hinüber.
Twist betrat die Halle, die einen völlig verlassenen Eindruck machte. Zögernd ging er zur Anmeldung weiter, wo sich eine üppige junge Frau, die lesend vor dem Klappenschrank gesessen hatte, eben erhob und neugierig an die Barriere trat.
Als sie ihr Gesicht hob und Twist verwundert anstarrte, sah er, dass auf ihrer Haut Sommersprossen kaum mehr Platz fanden. Trotzdem wirkte sie irgendwie hübsch.
„Guten Tag!“, sagte Twist. „Ich suche ein Zimmer — Sie haben doch sicherlich etwas frei?“
Die junge Frau — Twist schätzte sie auf etwa dreißig — gab den Gruß befangen zurück und erwiderte, gewiss sei etwas frei, er könne Nummer 10, 12 oder Nummer 14 haben, die alle gleich eingerichtet seien.
„Ich bin Berenice Lowell, die Wirtin“, fügte sie stolz hinzu. „Wir haben das 'Litte Soul's Joy' erst vor zwei Jahren übernommen und zum Motel umgebaut. Die Zimmer liegen alle in der ersten Etage, und unter jedem Zimmer befindet sich die dazugehörige Garage. Wollen Sie sich vielleicht gleich einschreiben, Sir?“ Sie schob dem neuen Gast auffordernd das dicke Buch hin, und dieser machte groß und deutlich seine Eintragung: Oliver Seldwyn Twist, Major a. D., geboren am 14.9.1921 in London, London CI, 14 Cleopatra’s Gardens.
Mrs. Lowells Blick glitt bewundernd über Twists hochgewachsene, männlich elegante Erscheinung und blieb an dem aristokratisch schmalen Gesicht haften, über dem sich dunkelblondes, an den Schläfen bereits ergrautes Haar wölbte.
„Sie heißen genau wie der Titelheld des berühmten Dickens-Romans, Sir“, sagte sie lächelnd.
„Nicht genauso“, korrigierte Twist ärgerlich und dachte, was er schon oft in seinem Leben gedacht hatte: Welcher Teufel mag bloß meinen Vater geritten haben, mir den Vornamen Oliver zu geben?
Mrs. Lowell nahm einen Schlüssel vom Hakenbrett und schlüpfte aus der Anmeldung. „Bitte mir zu folgen, Sir — mein Mann kann nachher Ihr Gepäck besorgen. Personal ist hier leider mehr als knapp.“
Damit sagte sie Twist nichts Neues.
Die erste und einzige obere Etage des Motels war nur über die in der Halle mündende teppichbelegte Treppe zu erreichen. Zimmer 14 war der letzte Raum am Ende des Ganges und übertraf Twists Erwartungen bei Weitem. Alles machte einen guten, gediegenen Eindruck. Das große Fenster eröffnete den Ausblick auf einen großen Park mit altem Buchenbestand. Eine sauber gekachelte Duschecke war durch einen Plastikvorhang wasserdicht abgeteilt.
„Schön, ich bin einverstanden“, sagte Twist. Er griff in die Tasche und übergab Mrs. Lowell die Wagenschlüssel. „Hier, bitte, Ihr Mann kann den Daimler in die Garage fahren und nachher gleich mein Gepäck mit heraufbringen!“
Er begleitete Mrs. Lowell in die Halle hinunter, wo einige Tische und Ledersessel standen, und näherte sich dem zweiten Tisch, weil er auf diesem ein Exemplar der „Times“ entdeckt hatte.
Als er sich setzte, fiel sein Blick auf eine junge Dame, die am Nachbartisch saß. Sie las in einem illustrierten Journal und wippte dabei nervös mit ihrem rechten Fuß auf und ab. Ihr blondes Haar reichte fast bis zu den Schultern und hatte die Farbe gesponnenen Goldes.
Twist sah erstaunt auf und meinte: „Die Welt ist doch wirklich und wahrhaftig ein Dorf! Susan — Sie hätte ich hier bestimmt nicht zu treffen erwartet.“
„Captain Twist ...? Du meine Güte, ist das eine Überraschung!“
Twist erhob sich rasch, ging zu ihr hinüber und reichte ihr die Hand. „Was hat denn Sie hierher verschlagen?“
Susan deutete mit einem Kopfnicken auf den Sessel ihr gegenüber. „Nehmen Sie doch Platz, Captain!“
Twist gehorchte nur zu gern. „Schon lange Major“, stellte er richtig, „aber leider außer Dienst.“
„So, hat man Sie also auch entlassen?“, meinte Susan erschrocken. „Nun, es mag Sie schwer getroffen haben — aber nicht so schwer wie Tausende Ihrer Standesgenossen, denn Sie sind reich ... Oh — Verzeihung, das ist mir eben so herausgerutscht ...“
„Macht nichts, Susan, macht nichts“, Twist wehrte lächelnd ab. „Wie geht es Ihrem Vater, meinem verehrten väterlichen Freund?“
Eine warme Woge überflutete Twists Herz. Der spätere Colonel Auston war im Zweiten Weltkrieg sein Vorgesetzter gewesen, und eine enge, nur durch den Rangunterschied distanzierte Männerfreundschaft hatte die beiden Offiziere verbunden. Twist hatte Susan Auston als einen entzückenden sechzehnjährigen Backfisch in Erinnerung, für den sein Herz schon immer warm geschlagen hatte — später hatte man einander aus den Augen verloren; umso erstaunlicher war dieses unvermutete Zusammentreffen nach neun Jahren.
Susan zuckte etwas verlegen die Achseln. „Pa ist pensioniert worden, wie Sie vermutlich wissen — Seldwyn ... ich darf Sie doch sicher noch Seldwyn nennen?“
„Welche Frage, Susan!“
„... aber wie es ihm geht, kann ich Ihnen nicht sagen, denn ich habe ihn seit vier Jahren nicht mehr gesehen. Meine Familie will nichts mehr von mir wissen ... nur Mutter schreibt mir ab und zu — aber heimlich ...“
Twist übersah die flammende Röte auf dem Gesicht des hübschen Mädchens diskret und wechselte gewandt das Thema.
„Wie Sie vorhin schon richtig bemerkten, Susan, ich war nie vom Gehalt abhängig, das hat zwar sein Gutes, hat mich aber andererseits daran gehindert, in dem Jahr, das nun seit meiner Entlassung vergangen ist, nach einer vernünftigen Männerbeschäftigung Umschau zu halten. Ich bin ein echter Reiseonkel geworden. Ich war gerade unterwegs nach Glasgow, um meinen Onkel Christopher zu besuchen, als mich der Nebel überraschte und mich dazu zwang, hier Station zu machen. Vorhin noch habe ich mich schrecklich darüber geärgert, aber jetzt segne ich den Zufall, der uns zusammengeführt hat. Sind Sie allein hier?“
Susan zögerte sekundenlang, ehe sie bejahte. „Ich arbeite seit einem knappen Jahr in London als Sekretärin in einer chemischen Fabrik.“
Twist war überrascht.
„Sie brauchen sich gar nicht so verwundert zu geben, lieber Seldwyn, als ich vor vier Jahren mein Elternhaus verließ, wurde ich ausgezahlt — das Geld ist inzwischen längst verbraucht. Selbstverständlich würde mich Vater wieder aufnehmen — aber ich denke einfach gar nicht daran, zu Kreuze zu kriechen, wenn ich auch heute einsehe, dass er recht hatte und dass ich alles falsch gemacht habe ...“
Twist nahm behutsam ihre rechte Hand und sah sie fest an. „Sie sind ein erwachsener und selbständiger Mensch, Susan. Ich weiß nicht, was mit Ihnen los ist, und ich habe auch kein Recht, mich in Ihr Vertrauen zu drängen, aber wenn Sie je einen Freund brauchen, der bedingungslos und bis zum letzten für Sie eintritt, dann wissen Sie hoffentlich, wo Sie ihn zu suchen haben. Das ist keine Phrase.“
Susan sah ihn voll an. „Ja, ich weiß, dass das keine Phrase ist, Seldwyn ...“, sie errötete über und über — und ich freue mich wirklich aufrichtig, Sie hier getroffen zu haben, nein, ich bin sogar glücklich, aber ...“ Sie verstummte erschrocken.
Eben war ein hochgewachsener Mann in einem eleganten Tweedanzug durch die Drehtür eingetreten und hatte sich angeschickt, zu Susan an den Tisch zu kommen. Als er sah, dass sie nicht allein war, blieb er verblüfft stehen und fixierte sie drohend.
Sekundenlang konnte Twist ein leichtsinniges, dämonisch schönes, brutales Gesicht sehen, ehe sich der Fremde abwandte und pfeifend, die Hände tief in den Taschen vergraben, an der Treppe vorbei zum Speisesaal schritt.
„Einer der Feiertagsgäste“, stotterte Susan hilflos.
Das Auftauchen einer weiteren bemerkenswerten Erscheinung erlöste sie aus ihrer Verlegenheit. Ein mittelgroßer, schwarzhaariger Mann, dessen zierliche Figur auch der kostbare Gehpelz nicht entstellen konnte, kam vorsichtig die Treppe herunter. Er mochte etwa fünfundfünfzig Jahre alt sein und hatte ein schmales, kluges Gesicht mit regelmäßigen Zügen, dunklen Augen und einer wahren Habichtsnase. Wie Pergament spannte sich schmutzig graue Haut über die Knochen — er machte einen leidenden Eindruck.
Sich schwer auf einen Stock stützend, wollte er mit knappem Kopfnicken an Susans Tisch vorbeigehen, blieb aber stehen, als er von links angerufen wurde. Er wandte sich langsam um, seine buschigen Augenbrauen zogen sich ärgerlich zusammen.
Eine nicht mehr ganz junge, aber zweifellos bildschöne Frau in langen Flanellhosen und derbem Pullover schritt elastisch auf ihn zu, blieb dicht vor ihm stehen und legte ihm sanft die rechte Hand auf die Schulter.
„Wohin so eilig, lieber Freund?“, fragte sie mit blitzenden Augen. „Oder suchen Sie etwa die Einsamkeit?“
„Jetzt nicht mehr, Anneclaire“, wurde ihr verbindlich erwidert. Es klang wie ein Kompliment, obwohl dem Mann im Pelz die Begegnung nicht angenehm war. „Kommen Sie, begleiten Sie mich — sofern Sie Ihre kostbare Zeit einem alten Mann opfern wollen.“
„Interessante Gäste“, sagte Twist, nachdem sich die beiden entfernt halten, und Susan griff das Stichwort begierig auf. „Das kann man wohl behaupten, Seldwyn! Siki Bagdasarian — übrigens ein Georgier, der schon ein Menschenalter in London lebt — ist in der Tat eine bemerkenswerte Erscheinung und seine australische Freundin ist es nicht minder.“
„Sie ist eine bildschöne Frau und könnte manche zwanzig Jahre Jüngere ausstechen“, stimmte Twist zu. Er beugte sich vor. „Die Dame ist Australierin?“
„Man sagt so.“ Susan zuckte die Achseln. „Anneclaire Racklin ist Journalistin und soll drüben, im fünften Kontinent, in ihrem Beruf eine dicke Nummer sein ...“
„Ich bitte vielmals um Entschuldigung, wenn ich störe, Miss Auston ...!“
Twist sah erstaunt auf. Eine dicke, aufgedonnerte Person war vor Susan stehen geblieben. Als sie die Hand hob, funkelten kostbare Ringe an ihren kurzen Fingern.
„Haben Sie zufällig Mr. Bagdasarian gesehen?“
„Oh, Mrs. Bendix!“ Susan lächelte gefroren liebenswürdig. „Mr. Bagdasarian und Miss Racklin sind eben gemeinsam ins Freie gegangen, um etwas Luft zu schnappen ...“
„Aber das ist doch ...!“ Mrs. Bendix seufzte ärgerlich, wandte sich, ohne sich zu bedanken, ab und stürmte den beiden nach.
Susan erklärte: „Sie stammt von ganz unten — sie ist Amerikanerin — sie ist heute reich — sie ist Witwe — das sagt wohl alles.“
„Was ich Sie schon vorhin fragen wollte“, fuhr sie etwas gedrückt fort. „Haben Sie die Absicht, lange hier zu bleiben?“
„Nein, auf keinen Fall. Wenn sich der Nebel bis morgen früh einigermaßen verzogen hat, fahre ich schnellstens nach Glasgow weiter. Es sei denn ...“ — Twist zögerte sekundenlang — „Sie würden meine Anwesenheit und meinen Beistand nötig haben. In diesem Fall bleibe ich, so lange Sie wollen, denn ich bin Herr meiner Zeit.“
„Ich weiß, dass Ihr Vorschlag ernst gemeint ist, Seldwyn! Unter Umständen nehme ich ihn an — das wird sich bald entscheiden — aber nicht so, dass Sie hier bleiben müssen — ich möchte Sie vielmehr bitten, mich mitzunehmen — irgendwohin ...“
„Sie können ganz über mich verfügen, Susan“, sagte Twist weich und haschte nach ihrer rechten Hand, die sie ihm ein paar Herzschläge lang überließ, aber dann — noch mehr errötend — schnell zurückzog.
Mit raschen Bewegungen betrat ein kleiner dicklicher Mann, der etwa in Twists Alter stehen mochte, die Halle. Er rieb sich die Hände und pustete hinein, ehe er freundlich sagte: „Es geschehen noch Zeichen und Wunder! Ein neuer Gast in 'Little Soul's Joy' — und unsere unnahbare Miss Auston in vertraulichem Gespräch mit ihm!“
„Mr. Twist ist ein alter Freund meiner Familie“, erklärte Susan vergnügt. Sie machte eine vorstellende Geste. „Mr. Rocca — Mr. Twist.“
Twist hatte sich höflich erhoben und reichte Rocca die Hand.
Dieser verbeugte sich tief, machte noch einige launige Bemerkungen und verschwand dann im Hintergrund.
„Jetzt hab ich's aber satt, hier mit Ihnen gewissermaßen auf dem Präsentierteller zu sitzen!“, rief Susan mit blitzenden Augen. Sie sah Twist mit einer wahren Verschwörermiene an. „Ich habe eine Idee. Ich werde Mrs. Lowell bitten, uns den Fünf-Uhr-Tee auf meinem Zimmer zu servieren, und dort können wir nach Herzenslust — und vor allen Dingen völlig ungestört — von alten Zeiten plaudern ...“
*
Erst gegen neunzehn Uhr kehrte Twist mit sehr zwiespältigen Gefühlen auf sein Zimmer zurück. Während der gemütlichen Teestunde war Susan wie in alten Zeiten ganz aus sich herausgegangen und hatte lebhaft und temperamentvoll geplaudert, aber mit keinem Wort die Dinge erwähnt, die auf ihr lasteten, und Twist war zu taktvoll gewesen, sie direkt zu fragen. Es sah fast so aus, als gebe es zwischen Susans Schwierigkeiten, denn in solchen steckte sie zweifellos, und dem hübschen jungen Teufel, den Twist kurz in der Halle gesehen hatte, eine Verbindung.
Twist fasste den spontanen Entschluss, sich einmal die Gästeliste anzusehen, um zu versuchen, auf diese Weise etwas in Erfahrung zu bringen.
Als er die Tür hinter sich ins Schloss zog, kam eben der eindrucksvolle Georgier über den Gang. Er hatte inzwischen seinen Gehpelz abgelegt und verriet durch seinen meisterhaft geschneiderten, gedeckten Anzug den vermögenden Mann, wirkte aber rührend gebrechlich und hinfällig.
Twist grüßte durch ein höfliches Kopfnicken. Bagdasarian gab den Gruß ebenso höflich zurück und verschwand in Zimmer 13, das offenbar nicht abgesperrt gewesen war.
Twist erreichte über die Treppe das Parterre. In der Halle hörte Twist die Stimmen zweier Männer, die unterdrückt miteinander zu streiten schienen. Im Näherkommen konnte er einzelne Sätze verstehen. Die Stimme des Hotelbesitzers sagte gerade etwas grollend: „Jeder Fremde hat das Recht, hier zu wohnen, sofern er sich nur anständig benimmt und genügend Geld in der Tasche hat, seine Rechnung zu bezahlen.“
„Du redest Unsinn, James!“, erwiderte ein herrischer Bass mit kaum merklichem Akzent. „Ich dachte, mich rühre der Schlag, als ich vorgestern morgen Shapiro und dieser Bendix begegnete. Was diese beiden hier wollen, ist dir doch so klar wie mir! Wozu sonst, meinst du, habe ich die Besprechungen hierher verlegt, als zu dem Zweck, völlig unbeobachtet zu sein?“
„Tut mir schrecklich leid“, erklärte Lowell. „Shapiro und Mrs. Bendix kamen am späten Abend knapp nacheinander an; Berenice gab ihnen Zimmer — denn sie hat ja keine Ahnung — und schon war das Unglück geschehen!“
„Du hättest sie eben vorgestern Morgen wieder hinauskomplimentieren sollen.“
„Wie denn, Otello, du Phantast? Meinst du, ich hätte Lust, besonderen Verdacht zu erwecken?“
„Und ich hätte gute Lust, dir links und rechts ...!“
„Oho!“ Lowell erhob die Stimme. „So weit sind wir denn doch noch nicht!“
Der andere brach die Unterredung ärgerlich ab, als Twist aufkreuzte.
„Was darf es sein, Mister Twist?“, fragte der Hotelbesitzer ausgesprochen verlegen. Er mochte sich fragen, wie viel Twist von dem Streit mitbekommen habe.
„Darf ich einen kurzen Blick in das Gästebuch werfen?“, fragte Twist höflich.
„Aber selbstverständlich, Sir, bitte, nehmen Sie Platz!“
Twist setzte sich an den Tisch vor dem Klappenschrank und schlug das Buch auf, um sich die Zimmerbelegungsliste anzusehen:
Nummer 1: Otello Zurlini, Großhändler, London.
Das wäre also der aufgeregte Gimpel, überlegte Twist, der gegen die Anwesenheit anderer Gäste etwas einzuwenden hat ...
Nummer 3: Susan Auston, Sekretärin, London.
Nummer 5: Antonio Rocca, Bankbeamter, Liverpool.
Twist erinnerte sich an den gemütlichen dicken Biedermann und schmunzelte leise.
Nummer 7: Marlin Boole, Glasgow.
Nummer 9 und 11 erwiesen sich als unbelegt.
Bei Nummer 13 war Siki Bagdasarian, Großkaufmann, London, angegeben. Twist wandte seufzend seine Aufmerksamkeit den geraden Nummern zu:
Nummer 2: Willie Edgeland, Reiseschriftsteller, Stranraer (Wigtwonshire).
Nummer 4: Anneclaire Racklin, Journalistin, Perth, Australien.
Nummer 6: Joey Sarketh, Pferdetrainer, Edinburgh.
Nummer 8: J. Sturgess Shapiro, Agent, Leeds.
Nummer 10: Louella Bendix, Witwe, New York.
Nummer 12 war wiederum unbelegt, und bei Nummer 14 waren Twists eigene Personalangaben eingetragen. Der Major schob das Buch zurück und erhob sich. Von den Genannten kannte er von Angesicht und mit Namen Zurlini, Susan Auston, Antonio Rocca, Siki Bagdasarian, Anneclaire Racklin und Louella Bendix.
Demnach musste der schöne junge Teufel Martin Boole, Willie Edgeland oder Joey Sarketh heißen.
Während des Abendessens erfuhr Twist, dass Martin Boole der junge Teufel war.
Die elf Personen, die um den Tisch saßen, bildeten alles andere als eine glückliche Familie. Anneclaire Racklin plauderte mit Bagdasarian über ihre letzte Normandiereise. Zurlini und Sarketh flüsterten unablässig miteinander. Einmal ertappte Twist, als er zufällig aufsah, Zurlini dabei, wie er dem Bankbeamten einen mehr als bösen, fast schon gemeinen Blick zu warf.
Nanu, fragte sich Twist, was mag der arme Rocca bloß verbrochen haben? Rocca und Zurlini — vermutlich sind beide italienischer Abstammung.
„... wird mir der letzte Abend in Ivy-sur-Mer unvergesslich bleiben“, schwärmte Miss Racklin.
„Sie meinen das Fischerdorf ostwärts der Bucht von Le Havre?“, fragte Bagdasarian und beugte sich höflich vor.
„Sicher.“
„Kleiner Irrtum“, berichtigte der Georgier mit schleppender Stimme, „Ivry-sur-Mer heißt der Ort, mit einem R zwischen V und Y.“
„Sie haben vollkommen recht, Sir, der Ort heißt Ivry-sur-Mer“, warf Twist höflich ein.
„Sie kennen ihn?“
„Ich wurde dort 1944 zum siebten Male verwundet.“
„Sie sind aktiver Offizier, Mr. Twist?“
„Ich war es bis vor einem Jahr, Sir“, antwortete der Major a. D. und wunderte sich insgeheim, dass Bagdasarian seinen Namen kannte.
„Es muss auch solche geben“, rief Boole ungezogen herüber, dem die freundschaftliche Art, in der Susan Auston mit Twist verkehrte, sichtlich gegen den Strich ging.
Twist ließ das Besteck sinken und richtete sich auf. „Wie soll ich Ihre Bemerkung verstehen?“, fragte er stirnrunzelnd.
Boole grinste ihn dreist an, sah das harte Funkeln in Twists Augen und wurde unvermittelt ernst.
„Nun“, meinte er verlegen, „war nicht so bös gemeint. Der Herrgott hat einen großen Tiergarten. Die einen lassen sich vom Steuerzahler erhalten, die anderen leisten produktive Arbeit ...“
„Und Sie, Mr. Boole, sind der Prototyp des produktiven Arbeiters, so ist es doch?“, nahm ihn zu Twists Verwunderung Bagdasarian an.
„Klar, so sieht er auch aus“, rief Anneclaire Racklin lachend. „Wissen Sie, Mr. Boole, wie Sie mir immer vorkommen? Wie einer der bewussten Vögel unter dem Himmel, die weder säen noch ernten und trotzdem vom lieben Gott ernährt werden.“
Boole bekam einen hochroten Kopf und schien die Beherrschung verlieren zu wollen, nahm sich aber dann doch zusammen.
Bagdasarian schob abrupt den Teller zurück und erhob sich. „Mahlzeit allerseits“, sagte er herausfordernd, wandte sich um und verließ den Raum.
Eine komische Gesellschaft, dachte Twist, beugte sich zu Susan hinüber und fragte leise: „Werden Sie mir den Abend schenken?“
„Das ist leider nicht möglich“, erwiderte Susan schnell. Dabei vermied sie hartnäckig seinen Blick. „Ich ... ich habe noch etwas zu erledigen; und außerdem will ich packen.“ Sie warf trotzig den Kopf in den Nacken und sagte es so laut, dass es jeder am Tisch hören konnte: „Ab morgen früh halb neun Uhr bin ich zur Abfahrt bereit. Ich bin Ihnen wirklich dankbar, dass Sie mich mitnehmen wollen, Seldwyn.“
Susan Auston entfernte sich so eilig, dass es fast wie eine Flucht aussah.
Twist verließ als letzter den Speisesaal. Zu seiner Verwunderung sah er sich plötzlich von dem Georgier aufs Korn genommen. Dieser sagte unvermittelt:
„Ich liebe diese Abendstunde — wenn ich die Ereignisse des Tages noch einmal Revue passieren und in mir abklingen lasse. Hier gibt es übrigens eine Bar — hätten Sie Lust, mir noch eine Stunde Gesellschaft zu leisten?“
Twist nickte zustimmend. „Gewiss, Mr. Bagdasarian, wenn ich auch nicht weiß, wie ich zu dieser Ehre komme.“
„Muss man denn immer alles wissen ...?“ Der Georgier lächelte eigen.
James Lowell schien Bagdasarians Gewohnheiten bereits zu kennen und spielte den Mixer.
„Mir wie immer Old Scotch“, bat der Georgier. Er wandte sich an Twist. „Und was nehmen Sie?“
„Dasselbe!“
Bagdasarian trank einen kleinen Schluck und setzte vorsichtig das Glas ab. Er schwieg einige Minuten verbissen, um sich dann plötzlich mit einem temperamentvollen Ruck zu Twist umzuwenden. „Sie sind also einer der vielen Offiziere, die über die drastische Etatkürzung gestolpert sind?“
Twist, der über diesen Punkt nicht gerne sprach, nickte knapp.
„Und wie haben Sie sich ins Zivilleben eingefügt.“
„Gar nicht.“
Der Georgier wandte sich auf seinem Hocker noch weiter nach rechts um. Twist bemerkte erstaunt, dass Bagdasarian eine Pistole in einem Achselholster trug.
„Wer mit Leib und Seele Offizier war, der taugt nicht für Büroarbeit — habe ich nicht recht?“, setzte der Georgier sein Verhör fort.
„Allerdings!“
„Schade, dass Sie ein reicher Mann sind ...“
„Wie kommen Sie darauf, Sir?“, fragte Twist, unangenehm berührt.
„Ich sehe es Ihnen an – in meinem Beruf ist man entweder Menschenkenner oder man geht unter“, war die rätselhafte Antwort. „Wirklich schade, dass Sie kein armer Teufel sind! Ich hätte nämlich genau den richtigen Job für Sie gehabt: interessant, und manchmal auch gefährlich ...“
„Eine Vertrauensstellung also“, sagte Twist mit sanftem Spott. „Woher wollen Sie wissen, dass ich Ihres Vertrauens würdig wäre?“
„Ich weiß es eben! Sie sind ein Kavalier der alten Schule, ein absoluter Ehrenmann. Bleiben Sie länger hier?“
„Ich habe die Absicht, morgen früh abzureisen.“
„Vielleicht könnten wir doch miteinander ins Geschäft kommen, Mr. Twist? Sie gefallen mir — Sie gefallen mir außerordentlich. Nein, sagen Sie jetzt bitte nichts. Sie waren Major?“
„Stimmt.“
„Ich würde Ihnen eine interessante Reisetätigkeit offerieren und Ihnen absolute Selbständigkeit, großzügige Vertrauensspesen und das Gehalt eines Oberst zugestehen — schlafen Sie eine Nacht über meinen Vorschlag und lassen Sie mich morgen früh vor Ihrer Abreise Ihre Entscheidung wissen.“