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6. Kapitel

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Nach der entscheidenden Aussprache hatte Susan Auston in fieberhafter Hast ihre Koffer gepackt. Twist hatte beider Rechnungen bezahlt und Lowell die Koffer im Daimler verstaut. Und dann waren sie losgefahren.

„Was wollen wir eigentlich in Liverpool?“

Susans Frage riss Twist aus seinen Gedanken.

„Ich habe dort einen Auftrag Bagdasarians zu erfüllen, den er mir kurz vor seinem Tode erteilte“, sagte er ausweichend.

„Ach — dann bist du also doch in seine Dienste getreten?“, fragte Susan erschrocken.

„Keineswegs“, antwortete Twist beschwichtigend. „Die Affäre hat ganz andere Hintergründe. Ich habe mich zwar verpflichtet, zu niemandem darüber zu sprechen, begehe aber sicher kein Unrecht, wenn ich dir reinen Wein einschenke ...“

„Oh, Seldwyn“, murmelte Susan bang, als Twist seine chronologische Darstellung der Ereignisse beendet hatte, „ich bin ganz wirr im Kopf! Ich fürchte mich! Sag, was hat das alles bloß zu bedeuten?“

Twist räusperte sich, ehe er weitersprach.

„Bagdasarian besitzt — besaß, sage ich wohl besser, denn er ist schließlich, tot — heiße Ware unbekannter Art. Er suchte einen Abnehmer für diese Ware. Die Ware ist auf ein Schiff verladen, das in einem unbekannten Hafenplatz auf Ordre wartet. Im Little Soul's Joy traf Bagdasarian mit einer Gruppe von Leuten zusammen, die Abnehmer für seine Ware haben und sie dem Georgier abkaufen wollten: Zurlini, Edgeland und Sarketh. Als die Verhandlungen zwischen der Zurlini-Gruppe und Bagdasarian eingeleitet waren, tauchte in 'Little Soul's Joy' eine zweite — Zurlinis Gruppe keineswegs freundschaftlich gesonnene — Gruppe auf, die ebenfalls hinter Bagdasarians Ware her ist: Louella Bendix, ich halte sie sogar für den Kopf von Gruppe zwei, und J. Sturgess Shapiro. Bagdasarian war geneigt, mit beiden Gruppen zu verhandeln. Zurlini drängte auf Abschluss, er wollte Louella ausbooten. Louella ihrerseits gab sich aber die allergrößte Mühe, ihrerseits mit Bagdasarian zu einem Abschluss zu kommen, bevor Zurlini zum Zuge kam. In der entscheidenden Phase hatte es den Anschein, dass Zurlini weit vorne im Rennen lag — da griff ein Höherer ein. Bagdasarians Tod änderte die Situation von Grund auf.“

„Und um welche Ware handelt es sich?“, fragte Susan schnell.

„Ich habe leider keine Ahnung. Die Skala reicht von Rauschgift über Spionagematerial bis zu Mädchen.“

„Nun, unter Umständen werden wir mehr wissen, sobald du das Bankfach in Liverpool ausgeräumt hast.“

„Das hoffe ich auch!“

Susan wandte den Kopf und sah Twist besorgt von der Seite her an.

„Unter Umständen gerätst du in große Gefahr. Sowohl Zurlini als auch Louella Bendix nehmen — und, wie ich jetzt weiß, nicht ganz zu Unrecht — an, dass du mehr weißt, als du ihnen sagen willst; sie werden sich an dich hängen ...“

„Damit habe ich auch schon gerechnet“, gab Twist unbehaglich zu. „Das heißt, die Zurlini-Gruppe glaube ich fürs Erste entscheidend abgehängt zu haben. Sie wird sich in den Hafenplätzen des Moray Firth die Hacken abrennen. Inzwischen hoffe ich ungestört an das Bankfach heranzukommen. Sofern Bagdasarians Geschäfte den Gesetzen nicht zuwiderlaufen, werde ich sie als ein Treuhänder für ihn abwickeln. Dazu habe ich mich schließlich verpflichtet. Ist es aber — und davon bin ich eigentlich jetzt schon überzeugt — anders, so werde ich selbstverständlich die Behörden einschalten.“

„Das leuchtet mir alles ein. Nur eines erscheint mir ungeklärt: Welche Rolle spielt Martin Boole hierbei? Welche Anneclaire Racklin? Was hat es zu bedeuten, dass Boole und Anneclaire mit einem Male ein Herz und eine Seele sind?“

„Auch darüber habe ich mir Gedanken gemacht. Vermutlich ist Boole wirklich nur deinetwegen ins 'Little Soul's Joy' gekommen, aber dann mag er etwas gemerkt und den Entschluss gefasst haben, auch ein Achtelchen in der großen Lotterie mitzuspielen. Was Anneclaire Racklin betrifft, bin ich allein auf Vermutungen angewiesen. Ich denke, dass sie längere Zeit mit Bagdasarian befreundet war und auch einiges von seinen Geschäften weiß. Sicher hat sich Boole nur deshalb so eng an sie angeschlossen, um ihr Wissen zu erfahren und zu verwerten. Abschließend wird er sie dann sicher mit einer langen Nase sitzen lassen ...“

Twist verstummte.

Auch Susan sagte lange kein Wort. Plötzlich deutete sie temperamentvoll nach links und sagte vergnügt: „Da sieh mal, Darling, ein Hubschrauber ...“

Von seinem Platz am Lenkrad aus konnte Twist den Hubschrauber, der in geringer Höhe die Straße kreuzte, nicht sehen, aber er hörte den Motor.

Die Autostraße stieg sanft an; Twist trat kräftig aufs Gaspedal, der Motor brummte dunkler und zog den Daimler mühelos zur Kuppe hinauf, wo die Straße den Wald verließ.

In diesem Moment kam der Hubschrauber aus Südwesten dem Daimler entgegen. Er musste den Kraftwagen in weitem Bogen überholt haben und danach auf dessen Kurs eingedreht sein. Einige Sekunden lang konnte ihn jetzt Twist genau betrachten.

In mäßiger Höhe überflog die Maschine die schwere Limousine, und Twist hatte ein paar Herzschläge lang ein hohes, dröhnendes Pfeifen in den Ohren.

Er machte keine Bemerkung, aber seine Miene verhärtete sich, sein Mund verkniff sich zu einem rasiermesserdünnen Strich.

*


Kurz vor achtzehn Uhr sichteten sie Mayport und dahinter die grünlich blaue Flut des Solway Firth.

Zum ersten Male machte Twist den Mund wieder auf: „Sieh mal nach rechts, meine Teure, und sag mir, was du dort kommen siehst!“

In den letzten Strahlen der sinkenden Abendsonne erkannte Susan ein silbernes Pünktchen über See, das rasch größer wurde und wenig später Form und Gestalt annahm: Der Fairey-Ultra-Light-Hubschrauber!

„Seldwyn“, murmelte Susan, „meinst du, der Hubschrauber hätte es auf uns abgesehen? Aber nein“, versuchte sie sich selbst zu beruhigen, „das ist doch unmöglich! Verbrecher, die vom Hubschrauber aus friedliche Bürger jagen, gibt es nur in Kriminalromanen.“

„Unter normalen Umständen würde ich dir beipflichten“, knurrte Twist ärgerlich, „aber von normalen Umständen kann leider nicht die Rede sein! Es geht um eine heiße Schiffsladung. Bagdasarian gab sich ganz bestimmt nicht mit Bagatellen ab. Ich bin sicher, dass es sich um ein Geschäft im Umfange von Hunderttausenden von Pfund handelt, mit dem ein enormes Risiko, aber auch eine enorme Gewinnchance verbunden sind; wer sich auf ein solches Geschäft einlässt, ist auch bereit, enorme Voraus-Spesen zu tragen.“

„Das leuchtet mir natürlich ein“, gab Susan zu.

Twist hatte seinen Entschluss gefasst. Er bog in eine Seitenstraße ein, nachdem der Hubschrauber wieder in Richtung Südost verschwunden war, und wartete im Schutz einer Baumgruppe den Einbruch der Dunkelheit ab. Erst danach wagte er es wieder, zur Hauptstraße zurückzukehren und auf Umwegen in die Hafenstadt hineinzufahren.

Susan wagte keine Frage zu stellen. Twist fuhr kreuz und quer durch die Altstadt, bis sie schließlich vor einem nicht gerade erstklassigen Hotel landeten.

Twist stoppte nicht vor dem Haupteingang, er fuhr daran vorbei, bog in eine Nebenstraße ein und steuerte von hinten den Garagenhof an. Sekunden später hatte er eine freie Box gesichtet und war auch schon hineingefahren. Er stellte den Motor ab.

„Wir sind am Ziel“, sagte er überflüssigerweise und berührte sanft Susans Arm. „Tim, der Besitzer, ist mein Kriegskamerad. Ich kann ihm vertrauen. Wir fahren spätestens um ein Uhr los. Bei Nacht kann man uns vom Hubschrauber aus keinesfalls entdecken.“

Das sah Susan ein. Sie nahmen nur das nötigste Handgepäck und verließen die Garage, um über den Hof zu einem Hintereingang zu gehen und, an der Küche vorbei, die Hotelhalle zu betreten.

An einem Stehpult lehnte ein vierschrötiger, kahlköpfiger Mann mittleren Alters. Twist trat auf den Mann zu, klopfte ihm schmerzhaft auf die Schulter und sagte herrisch: „Sagen Sie nichts — guten Abend, Tim! Ich bin Direktor Gordon Holl. Wir — meine Sekretärin Dela Withers und ich — sind eben angekommen und möchten die vorbestellten Zimmer beziehen.“

Der Hotelier öffnete hilflos den Mund und schloss ihn stumm wieder — aber dann hatte er begriffen. „Sehr wohl, Mr. Holl“, sagte er laut, „15 und 17. Ist es so recht?“

Er führte die Neuankömmlinge persönlich in die erste Etage.

„Großer Gott, Sir“, fragte Tim steif, „was hat das bloß zu bedeuten!“

„Nichts, was Sie mit dem Gesetz in Konflikt bringen könnte, dafür bin ich Ihnen doch gut?“, erwiderte Twist herzlich. „Wir wollen etwas zu essen haben, Tim, anschließend ruhen wir ein wenig, und Punkt ein Uhr wecken Sie uns — Sie persönlich! Bringen Sie dann gleich die Rechnung mit.“

Tim zuckte stumm die Achseln. „Well, wenn Sie es sagen, Sir, wird es schon seine Richtigkeit haben.“

Das Essen war einfach, aber gut. Weder Susan noch Twist fanden gleich Ruhe. Sie saßen bis zweiundzwanzig Uhr beisammen. Susan erhob sich und gähnte unverhohlen.

„Ich meine, ich lege mich jetzt doch für ein Stündchen hin!“

Twist lächelte sie besorgt an. „Ja, tu das, du wirst todmüde sein ...“

Susan verabschiedete sich mit einem scheuen Kuss, ging zur Tür, blieb aber stehen und wandte sich gleich danach um, weil das Telefon geklingelt hatte. Twist zögerte sekundenlang, ehe er den Hörer abnahm.

Kurzentschlossen zog er ein Taschentuch heraus und bereitete es über die Sprechmuschel, ehe er sich meldete:

„Direktor Holl ...“

„Heißen Sie Holl?“, fragte eine bekannte Stimme.

„Noch nicht lange, erst seit meiner Geburt!“, erwiderte Twist herausfordernd. Darf ich Sie höflich darauf aufmerksam machen, dass es bereits zweiundzwanzig Uhr fünf ist? — Wollen Sie sich etwa einen Witz mit mir erlauben?“

„Um Himmels willen, Sir!“, verwahrte sich der Anrufer. „Sie sind genau mein Mann! Ich habe eine dringende geschäftliche Angelegenheit mit Ihnen zu besprechen. Ich werde in einer halben Stunde bei Ihnen sein — ist es Ihnen recht?“

„Nur, wenn es sich um größere Beträge handelt.“

„Dafür bin ich Ihnen schließlich gut! Also, in einer halben Stunde! Sie brauchen sich gar nicht erst schlafen zu legen.“

Twist legte mit einem wütenden Fluch auf.

Susan starrte ihn mit angstvoll geweiteten Augen an. „Was hat das jetzt wieder zu bedeuten? Wer war am Apparat?”

„Ich möchte nur wissen, wie dieser verdammte Kerl auf unsere Spur gekommen ist! Er hat zwar seinen Namen nicht genannt, aber ich habe ihn an seiner Stimme erkannt: Otello Zurlini!“

Twist wiederholte den Inhalt des Gespräches und sagte entschieden:

„Zurlini wird uns in einer halben Stunde nicht mehr im Hotel vorfinden. Tut mir leid, Liebling — heute Nacht wirst du nicht zum Schlafen kommen.“

„Aber der Anruf hatte doch gar keinen Sinn ...“, stotterte Susan nachdenklich. „Zurlini muss doch damit rechnen, dass du ihn an der Stimme erkennst. Wenn er dir selbst eine Frist von einer halben Stunde gibt, könnte doch auch ein Dümmerer als er annehmen, dass du diese dreißig Minuten dazu nützen würdest, die Flucht anzutreten ...“

„Zurlini hat einen Schreckschuss abgegeben, erwartete eine ganz bestimmte Reaktion und will sich an unsere Fährte hängen — well, er soll nicht enttäuscht werden! Das hat der alte Fuchs sehr geschickt eingefädelt, aber er hat nicht bedacht, dass er mich für dümmer hält, als ich bin ...!“

Fünf Minuten später saßen die beiden wieder im Daimler. In aller Ruhe fuhr Twist aus dem Garagenhof heraus und danach gemächlich zur Autostraße, die er ein paar Meilen in der gleichen Richtung verfolgte, auf der er gekommen war.

Hatte er bisher ein mäßiges Tempo bevorzugt, so gab er plötzlich mächtig Gas und raste so schnell über die Straße, dass es all seiner Aufmerksamkeit bedurfte, den Wagen auf dem Asphaltband zu halten.

Hinter einem Gewirr von Schlängelkurven bremste er abrupt, schaltete gewandt zurück und zog den Wagen quer über die Straße nach rechts in einen Feldweg hinein. Kurz zuvor hatte er die Scheinwerfer ausgeschaltet. Mit geringer Geschwindigkeit und ohne jedes Licht rumpelte der Daimler im ersten Gang nach Süden, und nur die Gartenzäune links und rechts gaben dem Fahrer die Möglichkeit, sich zu orientieren und den Wagen auf dem Weg zu halten.

Twist fühlte sich müde und zerschlagen, war aber zufrieden, denn er konnte absolut sicher sein, den Verfolger abgehängt zu haben.

Wenig später sah er am linken Straßenrand eine hell erleuchtete Tankstelle und dahinter die Silhouette eines niedrigen Gebäudes aus Glas und Beton.

„Wir wollen uns eine Tasse Kaffee gönnen“, meinte Twist, bog links ab und stoppte vor dem Rasthaus.

Ein junges Mädchen in langer Flanellhose und einem schneeweißen Rollkragenpullover kam heraus. Twist kurbelte die Seitenscheibe herunter.

Das Mädchen beugte sich vor und sagte: „Guten Abend, die Herrschaften! — Darf ich Ihnen hier etwas servieren — oder kommen Sie doch lieber ins Warme?“

„Danke, wir haben es eilig und bleiben hier. Bringen Sie uns zwei Tassen Kaffee und ein paar Sandwiches, aber zum Mitnehmen eingewickelt.“

Die Kellnerin kam mit einem Tablett wieder, sie reichte Twist durch die geöffnete Seitenscheibe zwei Becher mit dampfendem Kaffee und danach die eingewickelten Sandwiches.

Twist zahlte bei dieser Gelegenheit gleich und gab ein großzügiges Trinkgeld.

„Wollen Sie in dieser Nacht noch nach Furness fahren, Sir?“, fragte das Mädchen sachlich.

„Ja — warum?“

„Weil hinter Crabtree ein Stück Straße völlig gesperrt ist. Am besten biegen Sie eine halbe Meile hinter unserm Rasthaus nach Osten ab.“

„Das würde aber einen riesigen Umweg über Windermere bedeuten, wenn ich nicht irre“, bemerkte Twist.

„Das allerdings. Sie können auch, wenn Sie wollen, auf dem geraden Weg bleiben und das Sperrstück auf einem Ackerweg umfahren. Das ist an sich verboten, Sie tun es auf eigene Gefahr. Aber der Daimler ist doch hoch gebaut, er könnte unter Umständen durchkommen.“

„Heißen Dank, mein Kind!“, sagte Twist und nickte der Kellnerin freundlich zu.

Erst als sie wieder im Haus verschwunden war, fiel ihm ein, dass er soeben die beiden letzten Zigaretten angeraucht hatte.

„Warte einen Augenblick hier“, bat er Susan, „ich will nur Zigaretten holen ...“

Auf dem Rückweg fiel Twists Blick zufällig durch die verglaste Pendeltür in den Gastraum. Er war wegen der nächtlichen Stunde nur sparsam beleuchtet, nur wenige Tische waren besetzt. Ganz vorne am Eingang sah Twist eine dickliche junge Frau in langer Hose und Überfalljacke sitzen. Sie hatte eine aschblonde Mähne und ein fettes Gesicht ...

Twist wandte sich ab und hastete zum Wagen. Mit einem leisen Knall flog die Tür ins Schloss. Er startete den Motor und sagte gleichzeitig zu Susan: „Du wirst es nicht glauben wollen, aber im Gastraum sitzt keine andere als Louella Bendix!“

„Und du wirst es nicht glauben wollen, mein Lieber, in dem Morris dort drüben sitzt Edgeland! Ich habe es genau gesehen, als er vorhin ausstieg, um die Scheinwerfer abzuwischen. Er m u s s uns ganz einfach bemerkt haben!“

„Goddam“, fluchte Twist, „das gibt mir sehr zu denken! — Sollten sich beide Gruppen vereinigt — oder sollten sie sich vielleicht nur vorübergehend geeinigt haben — so lange, bis sie mir die Würmer aus der Nase gezogen haben?“

Im Anfahren flüsterte Twist: „Ich muss so bald wie möglich in Liverpool sein. Ich habe den Eindruck, dass es dringend nötig ist, Bagdasarians Fach schnellstens auszuräumen.“

Etwa eine halbe Stunde nach der Abfahrt vom Rasthaus sah Twist von Weitem ein rotes Flackerlicht. Im Näherkommen tauchte eine rotweiß gestrichene Barriere auf, die sich über die ganze Breite der Straße zog und mit einem Sperrschild gekennzeichnet war. Dahinter war der Oberbau ein kurzes Stück aufgerissen. Mehr als 250 bis 300 Fuß konnten es nicht sein. Twist fuhr ganz langsam an die Sperrstelle heran.

„Überleg dir gut, was du tust, Seldwyn“, bat Susan ängstlich. „Wir sollten erst zu Fuß erkunden. Das Straßenstück hier ist überhaupt nicht befahren. Wenn wir nachher festsitzen, sind wir früh um acht Uhr noch hier!“

„All right“, stimmte Twist nach einigem Zögern zu, „ich lasse dir meine Pistole zurück — für alle Fälle.“

„Trotzdem ist es mir hier zu unheimlich — ich werde dich ganz einfach begleiten.“

Twist schickte sich an, auszusteigen, wurde aber von Susan zurückgehalten. „Bitte, Lieber“, bat sie ängstlich, „wende den Wagen — damit wir für alle Fälle schnell starten können!“

„Aber, Närrchen — was sollte uns hier schon passieren?“

„Tu's, Seldwyn, ich bitte dich! Du verlierst damit keine drei Minuten Zeit!“

Twist gab seufzend nach. Er wendete den Wagen, fuhr rückwärts an die Barriere heran und schaltete die Scheinwerfer aus.

Hand in Hand gingen die beiden den Weg, der sich oft verdächtig schmal zwischen Blöcken durchschlängelte, etwa bis zur halben Länge der Strecke ab. Die Nacht war sehr finster. Von See her wehte ein eisiger Wind. Trotz ihres wolligen Flauschmantels erschauerte Susan und begann mit den Zähnen zu klappern. Auch Twist fühlte sich so unbehaglich wie möglich. Nicht allein wegen der Kälte. Ein unerklärliches Gefühl legte sich wie ein eisernes Würgeband um seine Kehle. Vorsichtig stapfte er auf dem hart gefrorenen Untergrund weiter. Er blieb alle paar Schritte stehen, um zu lauschen, konnte aber außer dem leisen Pfeifen des Windes und dem grollenden Murmeln der Wellen keinen Laut vernehmen.

Plötzlich packte ihn Susan am Handgelenk. Sie brachte ihre Lippen an sein rechtes Ohr.

„Ich glaube, es dürfte gehen“, meinte sie.

Fast im gleichen Moment übertönte ein leiser Knall Wind und Wellen. Etwas kam aus dem Dunkel geflogen, prallte über Twists Kopf gegen den Fels und verwandelte sich in einen heulenden Querschläger. Gedankenschnell stellte Twist Susan ein Bein, warf sie zu Boden und stürzte sich über sie, sie so mit seinem eigenen Körper deckend.

Vom zweiten Abschuss war abermals nicht viel zu hören. Wieder klatschte etwas in den Fels hinter Twist, ein Geschoss, das sich ebenfalls in einen Querschläger verwandelte. Twist schob sich mit einer halben Rolle von Susan, hob die Pistole und feuerte blindlings ein halbes Magazin dorthin, wo er eben noch Mündungsfeuer gesehen hatte und den heimtückischen Schützen vermutete. Nichts deutete darauf hin, dass einer seiner Schüsse getroffen hatte; alles blieb still. Die sonderbare Ruhe quälte Twists Nerven mehr, als es etwa ein mörderisches Handgemenge getan hätte. Er wartet zwei Minuten ab, danach wälzte er sich herum, federte halb auf und meinte zu Susan: „Hier können wir beschlichen werden. Aufstehen und zurück! Aber schnell, sehr schnell ...“

Glücklicherweise begriff Susan sofort, worauf es im Wesentlichen ankam. „Lass mich bitte nicht aus den Augen!“, flüsterte sie, schnellte auf und machte sich in hastigen Sprüngen auf den Rückweg. Twist folgte ihr, nach allen Seiten sichernd.

Jenseits der Sperrstelle hörten sie plötzlich das Heulen eines Motors und das Quietschen von Reifen, die sich haltlos drehten. Sekunden später flammten Scheinwerfer auf, ein Lichtstrahl schob sich über das jenseitige Anschlussstück der Straße, und zu gleicher Zeit wurden die Geräusche leiser und das Scheinwerferlicht schwächer, bis beide völlig verschwanden ...

Twist half Susan beim Einsteigen, sprang dann um den Wagen herum und klemmte sich hinters Lenkrad.

„Nur fort“, bat Susan ängstlich, „schnell! Fort von hier!“

Der Motor sprang an, die Reifen kreischten, der Daimler machte einen Satz in die Nacht hinein.

„Glück muss der Mensch haben!“, sagte Twist nach einer langen Weile philosophisch. „Wem verdanken wir nun die reizende Einlage: Louella Bendix oder Otello Zurlini? Das möchte ich gerne wissen.“

„Hör zu, Lieber, was ich dir sage: Du weißt etwas, was weder Zurlini weiß noch Louella Bendix. Beide wissen, dass du es weißt, oder sie haben zumindest eine schlüssige Vermutung darüber. Wäre es da sehr sinnvoll, wenn einer von beiden, oder beide gemeinsam, den Versuch machten, dich zu ermorden? Liegt es nicht vielmehr näher, dass als Täter nur eine Person infrage kommt, die mindestens so viel weiß wie du oder sogar noch mehr ...?“

„Wo hatte ich nur meine Gedanken!“, murmelte Twist betreten. „Wenn ich dich nicht hätte, Susan! — Damit wäre also eine neue, bisher unbekannte Person im Spiel! — Das hat uns gerade noch gefehlt ...“

„Du irrst, Seldwyn, wir kennen die Person: Martin!“

„Ach — du meinst ...?“, murmelte Twist verblüfft.

„Aber das ist doch ganz klar“, erklärte Susan. Wir sind den Gruppen Zurlini und Bendix um eine Nasenlänge voraus; Marlin Boole und Anneclaire Racklin sind wiederum uns um eine Nasenlänge voraus; unter Zugrundelegung dieser Tatsachen haben Gruppe eins und zwei das allergrößte Interesse, uns weiterhin am Leben zu sehen, um sich von uns an die Stelle führen zu lassen, an der die gebratenen Tauben herumfliegen, während im Gegensatz dazu Martin danach trachten muss, uns auszuschalten, die einzige Konkurrenz, die ihm gefährlich werden kann ...“

„Ich bewundere deine Logik, Susan!“, sagte Twist, und er meinte es ehrlich.

Je näher die Abzweigung nach Windermere kam, desto vorsichtiger wurde Oliver Seldwyn Twist. Längst hatte er die geladene, gespannte und gesicherte Pistole Susan in die Hand gegeben, um sie im Falle eines Falles schnellstens von ihr übernehmen zu können.

Wider Erwarten verlief alles glatt. Niemand legte Twist etwas in den Weg. Er konnte ungestört in die Landstraße nach Windermere einbiegen und gab mächtig Gas, um wenigstens einen Teil des Zeitverlustes wieder aufzuholen.

Killer-Zimmer: Krimi Koffer mit 1300 Seiten

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