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7. Kapitel

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Um sieben Uhr dreißig trafen sie endlich in Liverpool ein. Seldwyn Twist, der zwei Tage und zwei Nächte kaum geschlafen hatte, war völlig erschöpft. Die dramatischen Ereignisse und gefährlichen Situationen der verflossenen achtundvierzig Stunden hatten das Ihre dazu beigetragen.

„Erst wollen wir den letzten Akt noch hinter uns bringen“, meinte Twist, „und dann unser müdes Haupt irgendwo zur Ruhe legen.“

„Letzter Akt?“, fragte Susan — „ich für meine Person bin davon überzeugt, dass die eigentliche Theatervorstellung erst nach unserem Besuch in der Bank beginnt.“

Dafür hatte Twist nur ein Achselzucken.

Kurz vor halb neun bog er langsam in eine Nebenstraße ein.

„Ist das schon die Old Bond Street, in der die Bank sein soll?“, wollte Susan wissen.

Twist nickte. Er stoppte und rangierte den großen Daimler meisterhaft in eine schmale Parklücke hinein. Dann half er Susan beim Aussteigen.

Twist fasste Susan am Arm, betrat mit ihr die Vorhalle und ließ ihr höflich bei der Drehtür den Vortritt.

Dann wandte er sich zur Anmeldung: „Ich soll hier bei Ihrer Bank den Inhalt eines Stahlfaches zu treuen Händen übernehmen.“

„Das ist ohne Weiteres möglich, Sir, sofern Sie den Schlüssel haben und sich über Ihre Person ausweisen können.“

„Ich bin der Major a. D. Seldwyn Twist aus London, habe aber für das Stahlfach keinen Schlüssel, sondern ein Stichwort.“

„Ein Schlüsselwort also“, korrigierte der Clerk befriedigt. „Und wer ist der Eigentümer des Schließfaches?“

„Der Großkaufmann Siki Bagdasarian aus London, er ist allerdings gestern gestorben ...“

„Ich fürchte, das wird Verwicklungen geben“, meinte der Clerk und wurde im gleichen Augenblick mit einem herrischen „Gehen Sie zur Seite, Selfridge, das hier übernehme ich!“ beiseite gedrängt.

Selfridge errötete unmutig, erwiderte aber nichtsdestoweniger leise: „Sehr wohl, Sir!“

Du meine Güte, dachte Twist verblüfft.

Jeden anderen hätte er hinter dem Schalter zu sehen erwartet, als den, der tatsächlich dort stand: Der bescheidene und freundliche Mr. Antonio Rocca.

„Das ist aber eine Überraschung!“, sagte Rocca strahlend und herzlich. Er reichte Susan und Twist spontan die Hand.

Twist, noch immer etwas überrascht, meinte: „Ich wusste zwar, dass Sie in Liverpool wohnen und Bankbeamter sind, aber ich hatte keine Ahnung, dass Sie Ihren Job bei der Anglo-Iberian Bank haben ...“

„Ich bin auch im Allgemeinen nicht hier“, erklärte Rocca salbungsvoll. „Ich bin Leiter der Inlandsabteilung der Bank in Culver Gardens. Aber der örtliche Zweigstellenleiter ist im Urlaub, und ich muss ihn vertreten. Ich habe das erst heute Morgen bei Dienstbeginn erfahren ...“

Rocca bot den Besuchern Platz an.

„Ich habe vorhin nicht alles mitbekommen, Mr. Twist. Würden Sie vielleicht die große Güte haben, mir Ihr Begehren von allem Anfang an erneut zu erklären?“

„Ich habe den Wunsch geäußert, dass man mir das Stahlfach 91 öffne. Ich besitze keinen Schlüssel zu diesem Fach, aber ein Schlüsselwort: 'Baudelaire'.“

Rocca nickte verbindlich. „Soviel habe ich vorhin schon mitbekommen. Sagten Sie nicht, der ursprüngliche Inhaber sei tot?“

„Dass er tot ist, davon konnten Sie sich gestern selbst überzeugen, Mr. Rocca!“

Rocca blickte Twist mit ungläubigem Erstaunen an: „Etwa Mr. Bagdasarian?“, fragte er etwas schnell.

Twist nickte.

„Sie sind selbstverständlich im Recht, wenn Sie nach Nennung eines Stichwortes die Öffnung des dazugehörigen Stahlfaches verlangen: Indessen scheint mir doch ein entscheidend veränderter Tatbestand vorzuliegen, wenn ich bedenke, dass der wirkliche Berechtigte nicht mehr am Leben ist — hm — Sie verstehen — es könnte Schwierigkeiten mit den Erben geben ...“ Rocca erhob sich, trat zum Bücherschrank, schob die Glasscheibe zurück und zog ein dickes Werk heraus, in dem er lange blätterte. Allmählich wurde er ruhiger. „All right!“, murmelte er schließlich. „Es gibt keine Schwierigkeiten mehr. Aber leider muss ich Sie bitten, sich bis 14 Uhr zu gedulden, Mr. Twist, in einem solchen Fall ist aus Sicherheitsgründen vorgesehen, dass der Bankvorsteher ein kleines Protokoll anfertigt und dass dieses das Signum unseres geschäftsführenden Direktors trägt. Ich werde das alles vorbereiten — angesichts unserer persönlichen Bekanntschaft möchte ich von einer reinen Formsache sprechen. Sie können gegen vierzehn Uhr dreißig wiederkommen, worauf der Erfüllung Ihres Begehrens nichts mehr im Weg stehen wird ...“

Twist erhob sich. „Vielen herzlichen Dank für Ihre liebenswürdige Hilfsbereitschaft, Mr. Rocca. Also gut, ich beuge mich den Gesetzen und Vorschriften: Wir sehen uns um vierzehn Uhr dreißig wieder ...“

*


„Ich glaube, wir sind dem Hotelpersonal reichlich komisch, wenn nicht sogar verdächtig vorgekommen“, sagte Susan, als sie gegen vierzehn Uhr neben Twist durch die Drehtür des „Angleterre“ ins Freie trat. „Kommen da zwei junge Leute gegen halb zehn, mieten zwei Zimmer, verzichten auf Essen, Trinken und sonstige Nutzung und verlangen um dreizehn Uhr dreißig geweckt zu werden. Du — was mögen die bloß von uns gedacht haben?“

„Das ist mir vollkommen gleichgültig“, erwiderte der Major a. D. „Im Augenblick interessiert mich — außer deiner entzückenden kleinen Person natürlich — nur das Schließfach 91 der Anglo-Iberian Bank.“

Pünktlich um vierzehn Uhr dreißig betrat Twist mit Susan zum zweiten Male die Bank. In der Schalterhalle erwartete Mr. Rocca die beiden bereits. Er kam ihnen entgegen. „Da sind Sie ja schon, meine werten Herrschaften! Darf ich bitten, mich zu begleiten: Erlauben Sie gütigst, dass ich Ihnen vorausgehe?“

Rocca führte die beiden zu einer Wendeltreppe, die in kühnen Spiralen zu den unterirdischen Räumlichkeiten der Bank führte. Dort schloss Rocca mit einem Spezialschlüssel eine zentnerschwere Stahltür auf.

Als diese langsam zurückgeschwungen war, flammten automatisch Neonröhren auf, und Twist konnte sehen, dass er sich in einem fast quadratischen Raum befand, dessen Wände aus lauter kleinen, mittleren und größeren Stahlfächern bestanden.

Feierlich schob Rocca einen kurzen, dicken Schlüssel mit vielfach gezacktem Bart in das horizontale Schlüsselloch und entsperrte. Die Stahltür sprang auf.

Aufs Äußerste gespannt trat Twist näher und griff in das Fach. Es enthielt weiter nichts als einen großen, fünffach gesiegelten Umschlag aus kräftigem, braunem Papier. Verblüfft betrachtete ihn Twist und drehte ihn in den Händen. Der Umschlag zeigte auf der Vorderseite eine mit Schreibmaschine geschriebene karge Notiz:

„Mein Beauftragter wird gebeten, diesen Umschlag uneröffnet gegen Bescheinigung abzuliefern bei Notar Baker, 368 Strand, London.“ Das war alles — sogar die Angabe des Datums fehlte.

*


„Du hast zu bestimmen, Lieber“, sagte Susan schlicht. „Was tun wir?“

Twist verzog die Lippen. „Susan, wir stammen beide aus einem guten Stall — wir werden es also weiter sieben Stunden über uns bringen, unsere Müdigkeit zu beherrschen. Wir holen unser Gepäck aus dem Hotel und fahren bis London durch.“

„Das ist eine wahre Weltreise!“, entsetzte sich Susan. „Aber vielleicht hast du recht! Je eher wir diesen vertrackten Umschlag aus der Hand bekommen, desto besser für uns — eine Bedingung stelle ich allerdings.“

„Eine Bedingung?“

„Es ist zwar lange her, dass ich zum letzten Male am Lenkrad saß, aber ich war früher eine gute Autofahrerin. Während des ersten Teils unserer Reise werde ich auf dem Rücksitz schlafen und dich im Fahren später ablösen ...“

Am süd-ostwärtigen Stadtrand von Liverpool hielt Twist ein letztes Mal an, um zu tanken. Dann fuhr er 100 Meilen durch, um hernach Susan ans Steuer zu lassen, die die ganzen 100 Meilen verschlafen hatte.

Vorsorglich schloss er nicht gleich die Augen, sondern blieb am Rücksitz wach, um sich ein Urteil über Susans Fahrkunst zu bilden — nach kurzer Zeit wusste er, dass er sich beruhigt ausstrecken durfte.

„Du sollst dich jetzt wirklich hinlegen, Seldwyn“, bat Susan vorwurfsvoll Sie erschauerte. „Puh — wenn ich an das unfreundliche Zimmer bei meiner noch unfreundlicheren Mrs. Morgan denke, wird mir ganz zweierlei zumute ...“

„Mrs. Morgan wirst du nur noch ein einziges Mal sehen“, sagte Twist mit fester Sicherheit, „nämlich dann, wenn du den Rest deiner Sachen abholst, das Zimmer kündigst und ihr eine großzügige Mietabfindung gibst. Selbstverständlich wohnst du ab heute in meinem Haus an Cleopatra’s Gardens.“

„Aber Seldwyn, das geht doch nicht!“, entsetzte sich Susan.

„Was geht und was nicht geht“, wurde ihr in einem Ton bedeutet, der keinen Widerspruch zuließ, „bestimme ab heute ich. Unsere famosen Freunde könnten immerhin auf die Idee kommen, mich dadurch treffen oder erpressen zu wollen, dass sie dich in eine prekäre Lage bringen — um es harmlos auszudrücken. Unter diesen Umständen ist es mir lieber, wenn sich die Klatschmäuler über uns die Zunge zerreißen, als wenn ich dein Witwer würde, noch ehe ich dich geheiratet habe.“

„Deine glänzende Formulierung ist wirklich zum Lachen“, sagte Susan schnell, fügte aber sofort nachdenklich hinzu: „Im Übrigen haben wir — wie mir scheinen will — im Augenblick recht wenig Grund zum Lachen ...“

Buchstäblich mit letzter Kraft — um dreiundzwanzig Uhr — bog Twist, der wieder das Steuer übernommen hatte, in eine in der Nähe des vornehmen Grosvenor-Bezirks gelegene Seitenstraße ein. Vor der Villa Nummer 14 hielt er. Neben der Gartentür war ein Gittertor mit einer eigenen Zufahrt zur unterirdischen Garage.

Erst als Twist in die Garage gefahren war, den Motor abgestellt und die Tore geschlossen hatte, weckte er Susan.

„Wir sind zu Hause, Liebes“, sagte er weich, „ich hoffe, dass du recht bald auch deinen Einzug in dieses Haus halten wirst.“

Susan sagte wenig, sie war müde, schlaftrunken und benommen, über eine direkte Verbindungstreppe zwischen Garage und Haus erreichten beide eine kleine Diele. Diese war hell erleuchtet: ein robuster Mann mit derben Gesichtszügen und grauem Bürstenhaar in einem hocheleganten Morgenrock war gerade dabei, sich einen steifen Whisky zu mixen.

„Guten Abend, James“, grüßte Twist. Er war von Herzen froh, wieder zu Hause zu sein. „Welch ein Glück, dass Sie schon aus Ihrem Urlaub zurück sind!“

Der Diener, er mochte etwa zehn Jahre älter sein als der Major, stellte gelassen das Glas aus der Hand und kam näher. „Guten Abend, Sir! Sie empfinden genauso wie ich — wie mir Ihre vorzeitige Rückkehr beweist.“ Er nickte in Richtung der vor Müdigkeit torkelnden Susan. „Darf ich mir die ergebene Frage gestatten, ob die junge Dame hier übernachtet?“

„Jawohl, sie wird hier übernachten. Räumen Sie ihr das Blaue Zimmer ein und verzeihen Sie, wenn ich Sie noch zu so später Stunde mit Arbeit belästige!“

„Susan!“

„Bitte?“, fragte Susan verwirrt.

Twist deutete auf den Butler. „Susan, das hier ist James, mein Kriegskamerad, Diener und Freund! — James, ich mache Sie mit Miss Susan Auston bekannt. Ich kenne Miss Auston seit siebzehn Jahren, ihr Vater, Colonel Auston, war eine Zeit lang mein Vorgesetzter. Miss Auston und ich werden sehr bald heiraten.“

„In diesem Fall, Sir“, erwiderte der Diener ungerührt, „nehme ich mir die Freiheit heraus, Ihnen aufrichtig viel Glück, alles Gute und Gottes Segen zu wünschen!“

„Danke, James!“ Twist reichte dem Diener die Hand; Susan tat es ihm nach.

„Miss Susan bleibt nicht deswegen hier, weil wir gesonnen sind, die Konvention über den Haufen zu werfen“, erklärte Twist geduldig, „sondern weil wir uns in einer Art Notstand befinden. Ich hoffe, Sie haben es noch nicht verlernt, mit Ihrer Pistole umzugehen ...?“

„Keineswegs, Sir“, bestätigte der Diener, ohne auch nur im geringsten Verwunderung zu zeigen, „die Waffe ist einsatzbereit, geladen und entspannt ...“

„Morgen früh will ich Ihnen mehr über die Angelegenheit erzählen. Bitte, seien Sie so nett und richten Sie jetzt für Miss Auston das Zimmer. Die Koffer aus dem Wagen bringe ich selbst herein ...“

„Sehr wohl, Sir! Darf ich den Herrschaften noch etwas zu essen oder zu trinken servieren?“

„Ich für meine Person möchte nichts mehr.“

Susan erklärte entschieden, dass auch sie nur einen Wunsch habe: schlafen ...!

*


Am nächsten Morgen — es war der Mittwoch — wurde Twist, seinem Wunsch entsprechend, kurz nach sieben geweckt. Er fühlte sich zwar noch hundemüde, musste aber doch aufstehen, denn das, was er vorhatte, duldete keinen Aufschub.

„Frühstück in zwanzig Minuten in der Küche“, sagte der Major a. D. „Wir werden uns am Küchentisch zusammensetzen und gemeinsam unser Breakfast halten.“

„Ganz wie Sie befehlen, Sir“, erwiderte der Diener, ohne eine Miene zu verziehen, „wenn es auch gegen die Disziplin ist!“

Zwanzig Minuten später saßen die beiden Kriegskameraden am Küchentisch, jeder hatte einen großen Teller mit appetitlichen Speckseiten gebratenen Eiern vor sich.

„Ich werde anschließend in die Stadt fahren, James“, erklärte Twist, „und unter Umständen einen großen Teil des Tages außer Haus verbringen. Ihre Aufgabe ist es, Miss Auston zu bewachen und notfalls zu schützen. Und — Miss Auston hat das Haus nicht zu verlassen; wenn sie anderer Meinung sein sollte, haben Sie notfalls mit Gewalt zurückzuhalten — verstanden?“

„Selbstverständlich, Sir. Ihr Befehl war klar und deutlich. Sind Sie nicht auch der Meinung, dass Ihre Auffassung von der einer Braut zukommenden Behandlung etwas zu militaristisch ist?“

Sekundenlang grinste Twist jungenhaft. „Auf die Gefahr hin, dass Sie mir nicht glauben: nein!“

Damit war für James die Angelegenheit erledigt.

Twist beendete in aller Eile seine Toilette und zog das Telefonbuch zu Rate. Dort waren insgesamt sieben Notare des Namens Baker angegeben, keiner von ihnen hatte seine Kanzlei im Hause 369 Strand.

„Nanu?“, überlegte Twist betreten. „Sollte es tatsächlich einen achten Notar Baker geben, der so distinguiert, vornehm und verkalkt ist, dass seine Kanzlei nicht einmal Telefon hat?“

Unter den gegebenen Umständen blieb Twist, der sich immer noch an sein gegebenes Ehrenwort gebunden fühlte, nichts anderes übrig, als alle Notare mit dem Namen Baker aufzusuchen. Pedantisch ordnete er die sieben Adressen so, dass er eine nach der anderen unter Vermeidung von Umwegen aufsuchen konnte.

Bei Baker eins bis Baker sechs — überall das gleiche Bild: Keiner von ihnen hatte jemals mit Siki Bagdasarian dienstlich oder außerdienstlich zu tun gehabt.

Der letzte im Buch war der Notar Cyril Baker, 14 Drury Lane.

Als Seldwyn Twist seufzend kurz nach elf Uhr dreißig das in der vierten Etage eines alten Hauses gelegene Vorzimmer des Notars betrat, erhob sich ein brillenbewehrtes ältliches Mädchen jenseits von Gut und Böse und fragte ihn uninteressiert nach seinen Wünschen.

„Ich bin Major Twist — ich möchte Notar Baker sprechen ...“

„Sehr wohl, Sir — sind Sie angemeldet?“

„Das allerdings nicht — aber ...“

„Dann müssen Sie durch mich eine Vormerkung machen lassen, Sir. Wie ich gerade sehe, hat Mr. Baker in etwa vierzehn Tagen noch etwas frei ...“

Twist, der stets so Beherrschte, drohte zu explodieren. Er fasste die Erbleichende streng ins Auge und sagte hart:

„Mein liebes, gutes Mädchen, ich will Ihnen etwas sagen: Ich bin nicht zum Spaß hier, sondern ich erfülle das Vermächtnis eines Toten. Entweder Sie gehen gleich jetzt zu Ihrem Chef hinein und melden mich an, oder ich besorge das selbst.“

Die ältliche Jungfrau gehorchte schreckensbleich und verschwand nach leisem Anklopfen im Nebenzimmer. Minuten später trat sie mit hochrotem Kopf auf die Schwelle zurück und sagte böse, Mr. Baker lasse Major Twist bitten.

Dieser begrüßte Twist mit den Worten: „Ah — da haben wir ja den forschen Herrn vom Militär, der meine sensible Miss Owlhead zu Tode erschreckt hat! — Ich bin Notar Baker.“

„Ich bitte wegen der dreisten Art, in der ich mir den Zutritt zu Ihnen förmlich erzwungen habe, um Entschuldigung, aber ich habe sehr ernste Gründe.“

„Das glaube ich Ihnen ungehört.“ Baker nickte freundlich. „Ein Mann, der wie Sie aussieht, Major, hat gute Manieren.“

Twist schilderte dem teilnahmsvoll Lauschenden so viel, wie dieser unbedingt wissen musste, und berichtete dann über seinen Besuch bei der Anglo-Iberian Bank in Liverpool.

„Heute Morgen“, fuhr er wörtlich fort, „musste ich feststellen, dass es weder einen Notar Baker unter der angegebenen Anschrift, noch überhaupt ein Haus Nummer 369 Strand gibt. Unter diesen Umständen blieb mir nichts anderes übrig, als alle Londoner Notare, die den Namen Baker tragen, einen nach dem anderen zu besuchen. Sie, Mr. Baker, sind der siebte und letzte und damit meine letzte Hoffnung.“

Baker räusperte sich; sein kluges, intelligentes Gesicht war sehr ernst und nachdenklich gefurcht, als er sagte: „Es ist in der Tat möglich, dass ich mit der Adresse auf dem versiegelten Umschlag gemeint bin. Ich war für Bagdasarian 1949, also vor elf Jahren, zuletzt tätig. Und — vermutlich enthält der Umschlag sein Testament ...“

„Wenn ein Mann den Wunsch hat, nach seinem Tode sein Testament in den Händen eines Londoner Notars zu wissen“, bemerkte Twist, „dann deponiert er dieses Testament doch nicht im Stahlfach einer Bank in Liverpool!“

„Auch dafür gibt es durchaus eine Erklärung.“ Baker lächelte verächtlich. „Ich halte damals Veranlassung, Mr. Bagdasarian nach kurzer Bekanntschaft zu ersuchen, sich einen anderen Notar zu wählen ...“

„Warum?“, fragte Twist erstaunt.

Baker zögerte sekundenlang, ehe er fortfuhr: „Die Art der Geschäfte, die Mr. Bagdasarian vorzugsweise abzuwickeln pflegte, und die etwas undurchsichtigen Manipulationen, die mit seinen Transaktionen verbunden waren, zwangen mich dazu, mich klar von ihm zu distanzieren. Wenn er aber jetzt gestorben ist und mir sein Testament anzuvertrauen wünscht, dann muss ich diesem Wunsch wohl entsprechen.“

„Verzeihung, Baker“, fiel ihm Twist ins Wort, „ist es sehr dreist und unverschämt von mir, wenn ich frage, welcher Art Geschäfte Bagdasarian getätigt hat?“

„Bagdasarian war Waffenhändler — aber das steht nicht im Telefonbuch“, erklärte der Notar mit entwaffnender Offenheit. „Keiner von den ganz großen Waffenhändlern — dazu fehlte ihm wohl das Kapital — aber er hatte in gewissen internationalen Kreisen einen Namen. Und wenn irgendwo in Südamerika der Krach losging oder in Nordafrika, dann konnte man Gift darauf nehmen, dass die Waffen der Aufständischen wenigstens zu einem Teil durch Bagdasarian vermittelt worden waren. Bei einer Gewinnquote, die — grob geschätzt — im Allgemeinen nicht geringer als 250 und nicht höher als 1500 Prozent gewesen ist.“

„1500 Prozent?“, staunte Twist. „Ich kann mir fast nicht vorstellen, dass sich derartige Geschäfte in den Grenzen der Legalität bewegt haben sollen.“

„Eben!“, versetzte Baker knapp. „Das war auch der Grund, weshalb ich mit Bagdasarian nichts mehr zu tun haben wollte. Ja ...“ — er blickte sekundenlang nachdenklich vor sich hin — „... ich glaube, wir sollten den Umschlag öffnen.“

Er drückte auf einen Klingelknopf, worauf die eulengesichtige Miss Owlhead eintrat und bescheiden fragte, was Baker zu Diensten stünde.

„Ich habe hier einen Umschlag“, sagte der Notar eindringlich, „aus dem Besitz unseres früheren, inzwischen verstorbenen Klienten Bagdasarian. Sie und Major Twist werden der Öffnung des Umschlages beiwohnen. Sie, Miss Owlhead, werden eine kurze Verhandlung darüber aufnehmen, die wir anschließend zu dritt unterzeichnen wollen ...“

Vor den Augen seiner Zeugen schnitt Baker die eine Schmalseite des Umschlages vorsichtig auf, und dann zog er fein säuberlich gefaltetes Zeitungspapier heraus.

„Nanu ...?“, murmelte Twist erstaunt.

Mit gefrorener Miene faltete der Notar das bedruckte Papier auseinander und hatte am Ende eine nahezu vollständige Nummer des „Liverpool Spectator“ vom 2. Januar vor sich auf dem Tisch liegen.

„Mr. Twist — ich will Sie nicht kränken“, murmelte Baker unwillig, „aber sind Sie wirklich ganz, ganz sicher, dass Sie nicht eben dabei sind, sich einen köstlichen Spaß mit mir zu erlauben?“

„Mr. Baker ...!“, donnerte Twist empört. „Ich bin außer mir ...!“

„Schon gut, schon gut! Ich will Ihnen ja glauben — aber das ist eine verdammt mysteriöse Geschichte ...“

„Möglicherweise enthält die Zeitung eine Code-Nachricht“, mischte sich Miss Owlhead ein.

„Das könnte sein, aber ...! — Eine Frage, Mr. Twist — wann, sagten Sie, ist Bagdasarian nach Ardossanock gekommen?“

„Soweit mir erinnerlich ist, am 26. oder 27. Dezember vergangenen Jahres.“

„Die Zeitung, die in dem Umschlag war, stammt aber vom 2. Januar ...“ Der Notar schüttelte ärgerlich den Kopf. „Es hat den Anschein, als habe irgendjemand den ursprünglichen Inhalt des Stahlfaches entfernt und gewissermaßen als Staffage diesen 'blinden' Umschlag deponiert, um dem Abholer Sand in die Augen zu streuen ...“

„Was raten Sie mir zu tun?“, fragte Twist verzweifelt.

„Unter diesen Umständen wird es vielleicht das Beste sein, mit Bagdasarians Angestellten Verbindung aufzunehmen! Ich werde inzwischen zu erfahren versuchen — sofern Sie das wünschen — wer in den letzten Jahren Bagdasarians Rechtsanwalt war.“

„So könnte es gehen!“ Twist fiel ein Stein vom Herzen. „Kosten sollen keine Rolle spielen — wissen Sie zufällig Bagdasarians Adresse auswendig, oder kann ich sie mir aus dem Telefonbuch heraussuchen?“

„Bagdasarian ist weder im Telefonbuch noch im Adressbuch aufgeführt. Ich selbst habe keine Ahnung, wo er wohnt. Bis 1949 — ich glaube, bis Juni — hatte er eine Wohnung in Morton Grove; zufällig weiß ich, dass er sie später aufgab und seinen neuen Wohnsitz geheim hielt. Unter Umständen muss ich Ihnen sogar den Rat erteilen, Mr. Twist, sich mit der Polizei in Verbindung zu setzen.“

„Ich werde mir das allerschnellstens überlegen.“ Twist erhob sich. „Recht herzlichen Dank für Ihre wertvolle Unterstützung. Was bin ich Ihnen schuldig?“

„Selbstverständlich keinen Penny!“, murmelte der Notar erstaunt. „Und wenn Sie doch etwas tun wollen: Halten Sie in der mysteriösen Angelegenheit mit mir Verbindung.“

„Das verspreche ich Ihnen gern!“

Twist rief von der nächsten Telefonbox aus seine Wohnung an, um mit Susan zu sprechen und sie in die neue Entwicklung einzuweihen. Er schloss: „Ich werde mich mit einem früheren Vorgesetzten aussprechen und seinen Rat einholen.“

Killer-Zimmer: Krimi Koffer mit 1300 Seiten

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