Читать книгу Killer-Zimmer: Krimi Koffer mit 1300 Seiten - Alfred Bekker - Страница 25

10. Kapitel

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Im Empire-Salon stand Colonel Auston mit einem verlegenen Lächeln auf den sonst so harten Lippen. Er war genauso gekleidet, wie es seiner Meinung nach einem pensionierten Stabsoffizier zukam: schwarzer Sakko, Cuthose, weißes Hemd mit weißem Kragen, schwarzer Binder. Susan stand mit geröteten Augen neben ihrem Vater und hatte ihren Arm unter seinen geschoben.

„Hallo, Twist!“, sagte der Colonel matt. „Vermutlich werden Sie mich jetzt für einen verkalkten Trottel halten, weil ich jahrelang meinem kleinen Mädchen so bitter Unrecht getan habe ...“

„Nein, du hast mir nicht Unrecht getan, Pa!“, widersprach Susan, ehe Twist ein Wort hatte sagen können. „Ich habe mich auch wirklich abscheulich gegen dich benommen!“

„Aber ich als dein Vater ebenfalls — und ich war der Ältere und Lebenserfahrenere!“ Auston wandte sich wieder direkt an Twist. „Mein Kind hat erst in Lebensgefahr kommen müssen, damit der Eispanzer schmolz, der um mein Herz lag. Gott sei Lob und Dank, dass alles noch einmal gut geworden ist!“

„Ja, wir haben allen Grund zu danken“, stimmte Twist ernst zu. „Wenn ich Sie recht verstanden habe, Sir, haben Sie nichts mehr dagegen, dass ich Susan heirate?“

„Ich nicht, Twist ... aber ...“ — ein ernster Blick streifte den Major — „... aber Sie müssen sich, natürlich darüber im Klaren sein, dass Sie eine geschiedene Frau heiraten, und Sie begeben sich damit auch des Rechtes, Susan jemals Vorwürfe wegen ihrer ersten Ehe zu machen!“

„Darüber bin ich mir absolut im Klaren, Sir! Ich denke, wir dürfen endlich die Vergangenheit tot sein lassen.“

Nach kurzem Nachdenken meinte Twist: „Morgen früh werden wir unsere Papiere fertig machen und zum Standesamt gehen, Susan — es ist dir doch recht?“

„Mir ist alles recht, was du bestimmst, Seldwyn! Wir müssen auch zu Mrs. Morgan fahren und meine bescheidene Habe abholen.“

„... und dann kommst du für eine kurze Spanne bis zu deiner Heirat ins Elternhaus zurück, Susan!“, bat Colonel Auston.

Susan blickte Twist fragend an.

„Ich habe nichts dagegen, Darling“, stimmte der Major zu, „stelle aber eine Bedingung: Zu deinem Schutz muss James mit nach Wood Green ziehen.“

„Unsinn!“, polterte der Colonel. „Die Gefahr ist doch jetzt beseitigt!“

„Das möchte ich nicht sagen!“ Twist zuckte die Achseln. „Wir haben es immer noch mit Shapiro und Louella Bendix zu tun!“

„Diese beiden werden sich im Augenblick um andere Dinge kümmern müssen als um mich“, meinte Susan, „aber du hast schon recht, sicher ist sicher. Dann soll mich also James nach Wood Green begleiten — wenn es Pa recht ist.“

„Alles ist mir recht!“ Colonel Auston nickte. „Und morgen wollen wir gleich Ma in Bath anrufen ...“

Das Telefon klingelte. Twist entschuldigte sich höflich und ging in die Diele, um das Gespräch abzunehmen.

Er blieb nicht lange weg. Als er ins Zimmer zurückkehrte, sah ihm Susan sofort an, dass schon wieder etwas geschehen war.

Twist nickte bestätigend. „Major Taylor war am Apparat. Die Fahndung nach Boole und Anneclaire Racklin hatte bereits Erfolg — einen ungeahnten sogar: Die beiden sind gestern Morgen um fünf Uhr in der Nähe von Grange-over-Sands mit Booles Wagen tödlich verunglückt ...“

Susan nickte unter Tränen. „Nun er tot ist, kann ich ihm nicht einmal mehr gram sein! Im Gegenteil — die Erinnerung beginnt völlig zu verblassen.“ Sie legte in einer Aufwallung jäher Zärtlichkeit ihrem Vater schüchtern die Hand auf den Unterarm. „Mir ist, als hätte ich mich nie von meinem Elternhaus getrennt.“ Sie wandte sich lebhaft an Twist. „Weiß man Näheres über den Hergang des Unglücks?“

„Ja — es hat den Anschein, als sei bei hoher Geschwindigkeit der linke Vorderreifen von Booles Wagen plötzlich geplatzt.“

„Grange-over-Sands“, wiederholte Susan nachdenklich, „das ist doch in der Nähe von Furness, also auch in der Nähe der Stelle, an der wir kurz nach zwei Uhr nachts beschossen wurden. — Höchstwahrscheinlich war also doch Martin der Schütze! Aber darüber waren wir uns schon an Ort und Stelle einig.“

Twist nickte. „Natürlich!“ Zögernd fuhr er fort: „übrigens — da ist noch etwas ...“

„Was?“, fragte Susan.

„Die zuständige Grafschaftspolizei hat eine Untersuchung über den Unfall eingeleitet. Gewisse Spuren sollen darauf hindeuten, dass der Reifen nicht infolge eines Materialfehlers oder dergleichen geplatzt ist, sondern angeschossen wurde.“

„Mord also?“, fragte Colonel Auston.

Twist zuckte die Achseln. „Da alles verbrannt ist, stößt die Klärung auf fast unüberwindliche Schwierigkeiten.“

*


Das Klingeln des Telefons riss Twist gegen zehn Uhr vormittags aus dem Schlaf.

Major Taylor war am Apparat, um Twist eine kurze Information zu geben. Was er zu berichten wusste, war nicht gerade erhebend:

Von Rocca, Shapiro und Louella Bendix fehlte nach wie vor jede Spur. Die Nachforschungen bei der Anglo-Iberian Bank in Liverpool und in Roccas privater Lebenssphäre waren fruchtlos verlaufen. Ebenso wenig hatte man in Bagdasarians Londoner Wohnung irgendwelche Hinweise gefunden. Bagdasarians alter Diener und einziger Hausgenosse hatte die Wohnung auf die ihm durch die Polizei übermittelte Todesnachricht seines Herrn hin gleich verlassen. Bei Bagdasarians Banken war ein Guthaben von etwa 2000 Pfund Sterling festgestellt worden. Alles andere hatte der Georgier vor seinem „großen Geschäft“ in bar abgehoben und seine immobilen Werte zu Geld gemacht. Auch Bagdasarians Anwalt, Goldoni, hatte über die letzte Transaktion seines Klienten keinerlei Aufschluss geben und nur mitteilen können, dass er ein Testament des Georgiers unter Verschluss habe, in dem Bagdasarians Ehefrau, die seit einem vollen Jahrzehnt von ihrem Mann getrennt gelebt habe, als Universalerbin eingesetzt sei. Sie halte sich seit längerer Zeit in einem Schweizer Sanatorium auf; er — Goldoni — werde in den nächsten Tagen persönlich nach Lugano fliegen, um ihr die Nachricht vom Tode ihres Mannes schonend beizubringen, da sie schwer leidend sei.

„Auch unsere drei Verhafteten haben nichts Neues ausgesagt“, meinte Taylor verzweifelt. „Sie bestreiten lediglich — unabhängig voneinander —, bei der bewussten Straßensperre auf Sie geschossen zu haben oder am Tod des Paares Boole-Racklin schuldig zu sein.“

„Und der Hubschrauber ...?“, fragte Twist.

„... wurde nicht von der Zurlini-Gruppe benützt, mein Lieber. Nach Lage der Dinge möchte ich diese Behauptung als wahr unterstellen. Well, muss jetzt Schluss machen. Mir ist die Arbeit inzwischen über den Kopf gewachsen. Was glauben Sie, welche Organisation ich aus dem Boden stampfen musste, um schnellstens in allen europäischen Häfen die Suche nach Bagdasarians Waffenschiff aufnehmen zu können. — Wiedersehen, Twist! In den nächsten zwölf Stunden bin ich nicht zu erreichen ...“

Twist betrachtete nachdenklich den Hörer in seiner Hand. Taylor hatte aufgelegt. Was kann ich tun?, fragte sich der Major a. D.

Der Hubschrauber ...!, durchzuckte es ihn plötzlich. Wie hatte Susan gesagt? ... dieser Typ wird nämlich auf dem zivilen Sektor kaum verwendet ...

Er erinnerte sich eines Kriegskameraden, der gleich nach dem Krieg aus dem aktiven Dienst ausgeschieden war und bei der Luftaufsichtsoberbehörde eine gute Position gefunden hatte. Sofort blätterte er im Telefonbuch und suchte die Nummer dieser Dienststelle. Als er sie gefunden hatte, rief er dort an, meldete sich mit Dienstgrad und Namen und bat, mit Mister Fabius Perreth verbunden zu werden.

Sekunden später meldete sich eine Stimme, die er schon jahrelang nicht mehr gehört hatte. — „Seldwyn — du? Das ist aber eine Überraschung!“ Nach der üblichen Begrüßung fragte Fabius Perreth, was er für Twist tun könne.

„Unter Umständen sehr viel, Jerry! Ich bin halbamtlich in ein Ermittlungsverfahren eingeschaltet, über das ich am Telefon keine näheren Angaben machen kann. Es würde mir sehr helfen, wenn ich wüsste, welche Zivilpersonen in England Besitzer eines 'Fairey-Ultra-Light-Hubschraubers' mit Turbinenmotor sind. Sehr groß dürfte die Liste nicht sein ...“

Kurze Pause. — Danach fragte Jerry vorsichtig: „Du kannst mir doch auf Ehrenwort versichern, alter Junge, dass du diese Angaben nur zu einwandfreien legalen Zwecken verwenden wirst?“

„Mit dem allerbesten Gewissen! Ehrenwort!“

„All right! — Gib mir deine Nummer, ich rufe dich wieder an, um dir die Namen durchzugeben, sofern es nicht allzu viele sind ...“

Twist war gerade mit seiner Toilette fertig, als schon wieder das Telefon klingelte.

„Fabius Perreth am Apparat; Seldwyn ...?“

„Hallo, Jerry, das ist aber schnell gegangen!“

„All right – ist auch nur ein einziger Name. Von dem bewussten Hubschraubertyp ist nur eine einzige Maschinen an einen zivilen Abnehmer abgegeben worden. Schreibbereit?“

„Ja!“

„Dann schreib dir auf: .Shapiros Flugdienst' — Besitzer Harold D. Shapiro — Croydon Airfield, Baracke 11.' — Hast du's?“

„Jawohl — alles mitbekommen. Tausend Dank!“

Das war also des Rätsels Lösung! Harold D. Shapiro: Sollte es sich etwa gar um einen Bruder J. Sturgess Shapiros handeln? Eine andere Erklärung war ganz einfach nicht denkbar ...

Twist rief sofort Major Taylors Dienststelle an, merkwürdigerweise meldete sich niemand.

Er schmetterte den Hörer auf die Gabel und sagte zu sich kurz entschlossen: „Bleibt also nichts anderes übrig, als selbst nach Croydon zu fahren und Taylor ins Handwerk zu pfuschen!“

Es wurde immerhin fünfzehn Uhr, bis er in Croydon ankam. Vorher hatte Twist bei einem Autovermieter einen unauffälligen Sunbeam gechartert und seinen schweren Daimler als Pfand hinterlassen.

Kurz vor drei erblickte Twist jenseits der Felder eine Reihe niedriger weißer Gebäude, Schuppen, Hangars und Baracken. Ein junger Mann in fleckigem Monteuranzug zeigte ihm den Weg: Nur ein paar Schritt trennten Twist von einer Baracke, über deren Eingang ein Schild:

HARRY SHAPIRO Flugdienst — Büro, angenagelt war.

Ohne groß zu überlegen, betrat Twist durch eine Gittertür die eingezäunte Betonfläche und schlenderte zu dem Hangar hinüber, wo er den Hubschrauber neugierig betrachtete. Ein noch junger Mann in einem blendend weißen Pilotenanzug kam auf ihn zu: „Darf es etwas sein, Sir?“

Twist wandte sich langsam um und deutete auf den Hubschrauber. „Feines Stück, das! Zu vermieten, ja?“

„Nur mit Pilot. Eben fertig geworden. Kam gestern erst aus den Midlands zurück.“

„Guter Mann, der Pilot?“

„Der Chef selbst, Sir. Chefs sind immer gut, nicht wahr? Sie können übrigens gleich selber mit ihm sprechen, da kommt er gerade!“ Der Mann wandte sich um. „He, Chef, der Herr möchte den Hubby mieten!“

Harry Shapiro war nicht viel kleiner als sein Bruder Sturgess, aber wenigstens fünfzehn Jahre älter. Er blieb stehen und sagte: „Shapiro, mein Name ...“

„Ich heiße Henderson“, stellte sich Twist vor. „Ich brauche einen Hubschrauber. Was kostet die Flugstunde?“

„Dreiundzwanzig Pfund und sieben Schilling.“

„Goddam — so viel? Das kann ich mir nicht leisten.“

„Tja, der Laie macht sich da völlig falsche Vorstellungen.“ Shapiro grinste amüsiert. „Tut's nicht ein normales Flugzeug auch? Käme ganz wesentlich billiger!“

„Aber nein!“ Twist schüttelte betrübt den Kopf. „Ich brauche ganz dringend einen Hubschrauber und ...“

„Nichts da!“, fiel ihm Shapiro ins Wort. „Auf der Welt geht's nicht danach, was einer dringend braucht, sondern danach, was einer bezahlen kann. Guten Tag — hat mich gefreut!“

Twist stammelte einen Gruß und ging — scheinbar — mit hängenden Schultern zurück. Im Wagen überlegte er, wie er sich am geschicktesten verhielte.

Zehn Minuten später verließ Shapiro das Büro, stieg in eine schwarze MG-Magnette Limousine ein und startete. Twist folgte dem Wagen kurz entschlossen.

Shapiro fuhr in aller Gemütsruhe zur Innenstadt. Twist folgte ihm so vorsichtig wie möglich. Im dichten Verkehr der Innenstadt war es für Twist einerseits schwierig, „am Mann“ zu bleiben; andererseits war die Gefahr viel geringer, von Shapiro entdeckt zu werden.

Und doch ...! — Shapiros Verhalten änderte sich. Hatte er bisher eine bestimmte Route zielstrebig verfolgt, so begann er jetzt kreuz und quer durch die Randbezirke der eigentlichen Innenstadt zu fahren.

Sein Verhalten hat schon einen Sinn, dachte Twist ärgerlich. Er hat die Verfolgung bemerkt. Logischerweise hat er also etwas zu verbergen, vermutlich genau das, was ich wissen möchte.

Shapiro fuhr nach Norden zurück und von dort aus in Richtung Regent's Park weiter. Dann sah er den MG in die Camberwell Terrace einbiegen.

Twist parkte seinen Wagen bei den St. John's Wood Mews und ging das kurze Stück zurück, um die Suche zu Fuß fortzusetzen. Er schlenderte so unauffällig wie möglich durch Camberwell Terrace und erreichte eine kleine Siedlung. Vor Nummer 13 — wieder Nummer 13! dachte Twist — stand die MG-Limousine. Twist nahm vorsichtig in dem Torbogen des Treppentraktes Deckung. Seine Aufgabe war erfüllt.

Oder sollte er nicht vielleicht doch besser gleich selbst weitermachen? Er schloss einen Kompromiss mit sich selbst und eilte zur nächsten Telefonbox, um Major Taylor anzurufen. Wieder meldete sich niemand. Twist nahm es als versteckte Aufforderung, auf eigene Faust zu handeln.

Er arbeitete sich zu Haus 13 vor, stieg neben Nummer 15 über den Gartenzaun, schlich gebückt durch den Garten und stand, nachdem er ein zweites Mal über einen Zaun geflankt war, vor dem Hintereingang von Nummer 13. Jetzt erst erkannte er, dass sämtliche Fenster durch Läden gesichert waren. Er erinnerte sich, dass man auch an den Vorderfenstern die Läden vorgelegt hatte.

An der Tür war ein Zettel mit Hilfe eines Reißnagels befestigt. Twist las: „Lou! Bin hier endgültig ausgezogen. Komm zu Abigail's Pension. Alles weitere mündlich. — St.“

Lou ist gleich Louella, und St. gleich Sturgess Shapiro, dachte Twist ärgerlich. Aber wo ist Shapiros Bruder geblieben?

Das sollte er gleich erfahren. Ein Motor heulte gequält auf, Reifen kreischten, eine Frauenstimme stieß einen Entsetzensruf aus und ein Männerbass fluchte in allen Tonarten.

Mit hängenden Schultern zog Twist ab, aber diesmal war seine Enttäuschung nicht gespielt. Abgehängt, rettungslos abgehängt! Twist beschloss, nach Hause zu fahren. Gegen halb sechs stellte er den Sunbeam in der Garage ab und stieg über die Treppe zur Diele seines Hauses hinauf. Er blieb stehen und schnüffelte misstrauisch. Nanu? Woher kam der Duft nach Quelques Fleurs? Jedenfalls nicht von dem Mann, der ihm im gleichen Augenblick schon von hinten den Pistolenlauf gegen die Rippen presste. Twist hob beide Arme.

„Sie sind wirklich ein reizender Mensch, Major!“, sagte eine amüsierte Frauenstimme, die Louella Bendix gehörte.

Twist „durfte“ in seinem Arbeitszimmer auf der Couch Platz nehmen, während Sturgess Shapiro sich hinter den Schreibtisch gesetzt hatte und Louella Bendix schamlos in der Hausbar wühlte, wie wenn diese ihr höchstpersönliches Eigentum gewesen wäre. Sie brachte triumphierend eine Flasche Old Scotch Special — eine im Handel längst vergriffene Marke, aus deren letzter Flasche Twist nur an hohen Festtagen nippte — und zwei Gläser zum Vorschein und goss ein.

Sie hob das Glas, kniff ein Auge zusammen und rief übermütig:

„Prost, Schlaukopf!“

„Möge es Ihnen gut bekommen!“, erwiderte Twist. „Ich komme nach!“

„... was ich sehr zu bezweifeln wage!“ Louellas Gesicht wurde hart und brutal. „Singen Sie schon, Kanarienvögelchen“, sagte sie gemein, „und singen Sie vor allen Dingen schön, sonst erleben Sie 'ne Gratisvorstellung, dass Ihnen kein Auge trocken bleibt! — Dass Sie Zurlini hopsgenommen haben, wissen wir schon. Also keine Vorreden! Wo sind die Papiere?“

„Welche Papiere denn?“

Shapiro federte auf und entsicherte seine Pistole knackend.

„Keine Zeit für Flachs, Mann! Raus mit der Sprache!“

„Das Verhör führe ich, Sturgess“, fuhr ihm Louella in die Parade, „damit das mal ist!“ Sie wandte sich wieder an Twist. „Sie wissen genau, was gemeint ist: Bagdasarians Dokumente und die Bankvollmacht für den Kapitän. Ich höre. Sie haben nicht viel Zeit, Schlaukopf!“

Das Gefühl, jetzt auch noch offen verhöhnt zu werden, jagte in Seldwyn Twist würgenden Ärger hoch und ließ ihn jede gebotene Vorsicht vergessen. Er brüllte mit krebsrotem Kopf:

„Aber die habt ihr doch, gemeine Saubande, ihr!“

Louellas Augen funkelten ihn empört an: „W a s haben wir?“

„Bagdasarians Dokumente doch! Aus dem Schließfach einundneunzig der Anglo-Iberian Bank in Liverpool ...“

„... Anglo-Iberian Bank, Liverpool ...?“ Louellas Lachen klang schrill und hysterisch. „Wollen Sie etwa damit andeuten, Sie schmutziger ...?“

„Aber gewiss doch, gnädige Frau!“, fiel ihr Twist schmunzelnd ins Wort. In diesem Augenblick hatte er die burleske Wahrheit auch schon erraten. „Ich kam am Dienstagmorgen bei Geschäftsbeginn in die Bank, verlangte die Öffnung des Stahlfaches 91, gab das Stichwort Baudelaire — das Sie jetzt ruhig auch noch erfahren dürfen — und stand plötzlich Mister Rocca gegenüber. Rocca vertröstete mich auf den Nachmittag. Bis dahin hatte er Bagdasarians Unterlagen aus dem Fach geklaut und für mich einen äußerlich schönen, aber nichtsdestoweniger 'blinden' versiegelten Umschlag hergerichtet. Danach vergingen über vierundzwanzig Stunden, ehe ich den Betrug merkte, und diese vierundzwanzig Stunden reichten Ihrem Chef, gnädige Frau, durchaus, um zu fliehen.

Leider wurde ich mir über den wahren Charakter des gemeinen Heuchlers zu spät klar, leider erfuhr ich zu spät, worum es bei eurem mysteriösen Geschäft ging. Dass er aber nicht nur mich aufs Kreuz gelegt hat, sondern auch euch, seine Komplizen, finde ich geradezu großartig! Ich wette, dass er euch den Auftrag erteilt hat, mich weiter sehr, sehr vorsichtig zu beschatten und euch damit Zeit zu lassen, mir die Würmer aus der Nase zu ziehen! — Und unterdessen hat er sein Schäfchen ins Trockene gebracht. Betrogene Betrüger nennt der Volksmund Leute wie euch! — So, jetzt ist mir wohler ...!“

„Wie reden Sie denn mit uns, Sie größenwahnsinniger Zwerg?“, tobte Shapiro los und erhob sich drohend. „Wollen Sie uns etwa mit Worten besoffen machen?“ Er kam um den Schreibtisch herum und holte drohend zu einem Schwinger aus. Louella fiel ihm in den Arm: „Lass ihn! Ich glaube ihm! Du kennst Antonius Gemeinheit noch nicht! Klarer Fall: Er hatte selbst keine Ahnung, dass Bagdasarian ausgerechnet bei seiner Bank die Unterlagen untergebracht hatte, und Bagdasarian hatte keinen Schimmer, dass Antonio der Boss ist und nicht du! Und als nun Twist in die Bank kam und sein Sprüchlein runterleierte, ging Antonio ein Kirchenlicht auf, und er handelte schnell. Auch auf unsere Kosten! Und uns hagelt er in London fest, dieser, dieser ...!“

„Lass mich los!“, brüllte Shapiro außer sich. „Ich schlage ihm ...!“

Zwischen den beiden entstand ein wildes Handgemenge. Sie ließen Sekundenbruchteile lang Twist aus den Augen, und dieser witterte Oberwasser. Er sprang blitzschnell auf und riss den Browning aus der Manteltasche. „Hände hoch!“

Twist krümmte durch. Klick!, sagte der Schlagbolzen. Das war auch schon alles. Geistesgegenwärtig warf Twist dem Verbrecher den Browning ins Gesicht, schoss vor und umklammerte Shapiros Handgelenk. Shapiros Waffe fiel polternd zu Boden. Twist kickte sie mit einem gewaltigen Fußtritt zur Seite. Shapiro versetzte ihm einen Schlag ins Gesicht, der Major revanchierte sich durch einen Nierenhaken, der den Verbrecher nach rückwärts halb über den Schreibtisch warf.

Twist sah seine große Chance und sprang den im Augenblick Wehrlosen an, wurde aber von der immer noch am Boden kauernden Louella am linken Fußknöchel erfasst, stolperte und stürzte über seinen Gegner. Nach kurzem Clinch trennten sich die beiden unentschieden. Der Major federte zurück. Shapiro schnellte auf, packte die Whiskyflasche und holte weit aus. Sekundenbruchteile lang standen die beiden Gegner einander gegenüber.

Twist wich dem Schlag im letzten Augenblick aus und stellte dem von der Wucht des eigenen Angriffs Vorwärtsgerissenen ein Bein, um ihm gleich darauf einen wuchtigen Nackenhaken zu versetzen. Das gab Shapiro den Rest.

Leider hatte Twist nicht mehr an Louella gedacht. Die Amerikanerin hatte sich lautlos zurückgezogen und Twists Malakka-Rohr entdeckt.

Twist hörte den pfeifenden Hieb und warf sich zur Seite — zu spät. Zwar zertrümmerte ihm das Rohr nicht die Schädeldecke, streifte aber doch noch die rechte Kopfseite, und Twist ging seinerseits zu Boden. Seine letzte Empfindung war die eines ungeheuren Schmerzes ...

*


Eine Frau schluchzte leise. Twist hatte den Eindruck, ihre Stimme schon einmal gehört zu haben. Jemand unterstützte ihn mit der flachen Hand im Rücken und richtete ihn zu sitzender Stellung auf. Eine andere Hand setzte ihm vorsichtig ein Glas an die Lippen. Twist trank einen Schluck. Der Armagnac war stark und unverdünnt. Er brannte auf der aufgesprungenen Lippe, rann wie sanftes Öl durch die Kehle, erreichte als eine weiche Welle den Magen und schuf dort anheimelnde Wärme, die sonst nur ein elektrischer Strahlofen zu erzeugen vermag.

Susan Auston kniete neben Twists Bett und begann mit einem nassen Schwamm sein zerschundenes Gesicht zu waschen.

„Ah, das tut gut!“, stammelte der Major.

„Was war los?“, fragte die energische Stimme Major Taylors. „Sollen wir nicht lieber einen Arzt rufen?“

„Das wird nicht nötig sein“, erwiderte Twist. Plötzlich erinnerte er sich der letzten Ereignisse.

„Zufällig rief ich um sechzehn Uhr fünfzehn bei Ihnen an und erhielt keine Antwort. Bei Colonel Auston erfuhr ich, dass Sie dringend meinen Typ gewünscht hatten.

Da ich in der Nähe war, nahm ich Miss Susan gleich mit, und da fanden wir Sie. Fühlen Sie sich stark genug, eine zusammenhängende Darstellung zu geben?“

„Aber ja!“ Als er gerade seinen Kampf mit Shapiro schilderte, unterbrach er sich nachdenklich: „Kann es eigentlich nicht verstehen, dass der Browning versagte.“

„Aber ich“, erklärte Taylor mitleidig. „Das Magazin war nämlich leer. Edgeland nahm Ihnen gestern Abend die Waffe ab. Einer von meinen Leuten fand sie, und ich gab ihm den Auftrag, sie Ihnen auszuhändigen. Er hat vorher das Magazin entleert — schätze ich. Ist Befehl, hätte aber in Ihrem Fall nicht gegolten.“

Twist lächelte schwach. „Nicht Ihre Schuld. Hätte mich selbst darum kümmern müssen.“

„Ganz klarer Fall!“, sagte Taylor überzeugt nach dem Bericht von Twist. „Well, Miss Susan, sehen Sie zu, ob Sie unserem Patienten einen starken Kaffee kochen können. Ich muss mich mit ihm noch weiter unterhalten, so leid mir's tut. Wir müssen ganz einfach das Waffenschiff finden, ehe es Verwicklungen gibt!“

Rasch nacheinander kamen telefonische Berichte für Taylor. Inzwischen hatte man Harold D. Shapiro in Croydon verhaftet, aber nicht viel aus ihm herausgebracht. Was das Haus 13, Camberwell Terrace betraf, so war nur festgestellt worden, dass es einem Beamten des Innenministeriums gehörte, der mit Kind und Kegel acht Tage zuvor nach Kenia geflogen war, um dort seinen Urlaub zu verbringen.

*


Nach einer ganzen Weile richtete sich Twist im Bett auf und sagte zu Susan, die ihren Stuhl daneben gestellt hatte, um ihrem Verlobten kühlende Umschläge machen zu können:

„Verzeih, Susan, wenn ich dir durch die Beschwörung der Vergangenheit Kummer mache — aber es muss sein. Mir ist eine Idee gekommen.“ — Er fixierte Taylor scharf. „Sie sind doch wohl auch der Meinung, dass Bagdasarian bei seiner Verhandlung mit Zurlini — insbesondere bei der letzten vor seinem Tode — keine Andeutung über das Schiff, seinen Hafenort oder über eine Person gemacht hat, die Bescheid wusste?“

„In diesem Punkt hat Zurlini wohl kaum gelogen, außerdem spricht die Wahrscheinlichkeit dagegen, dass Bagdasarian seinem Verhandlungspartner — den er als Verbrecher kannte — den entscheidenden Trumpf gewissermaßen geschenkt hat ...“

„Trotzdem bin ich sicher, dass Martin Booles plötzliches Interesse für das Geschäft erst durch diese letzte Besprechung geweckt wurde, die er mit ziemlicher Sicherheit belauscht hat, und durch die Mitteilungen der Journalistin.“

„Miss Racklin hätte aber nie und nimmer ihr Wissen ohne Gegenleistung preisgegeben“, warf Susan rasch ein, während sie Twists Umschlag wechselte. „Außerdem hat Bagdasarian bestimmt auch einer ihm sehr nahestehenden Person nicht das Allerwichtigste verraten, also wusste Martin von dem Geschäft; die Racklin wusste auch etwas; aufgrund ihres Wissens hatte Martin plötzlich die Idee, das Schiff finden zu können ...“

„... oder die Papiere. Verrennen Sie sich nicht in einen Fehlschluss!“, warnte sie Taylor.

Twist sagte:

„Glaube ich nicht! — Susan, erinnere dich an das Dinner im 'Little Soul's Joy' am Sonntagabend. Miss Racklin sprach von der Normandie. Mehrere Male wurde dabei — auch von Bagdasarian — das mir zufällig ebenfalls bekannte Fischerdorf Ivry-sur-Mer erwähnt ...“

Susan fuhr mit rotem Kopf hoch. „Mon dieu — Ivry-sur-Mer, das gleiche Dorf, das Martin damals immer mit der 'Penelope' ansegelte, um ...“ Sie verstummte hilflos.

„Warum, spielt hier keine Rolle! Aber vielleicht war Ivry-sur-Mer für Boole das Stichwort! Vielleicht erinnerte er sich daran, Bagdasarian dort gesehen oder den Namen dort gehört zu haben. Das könnte nur ...“

„... bei seinem Freund Charles de La Riviere gewesen sein“, sagte Susan atemlos.

„Charles ist — das habe ich nicht erwähnt — Hochseeschiffer mit dem Patent für große Fahrt!“ Sie sah Twist mit großen Augen an, in denen der Ausdruck ungläubigen Erstaunens stand. „Unter Umständen stand de La Riviere auch mit Bagdasarian in Verbindung. Die Schlussfolgerungen wären nicht auszudenken!“

„Bitte von vorne!“, bat Taylor kalt. „Der Faden muss richtig gesponnen werden ...“

Stunden vergingen mit weiteren Beratungen hin. Kurz vor Mitternacht erhob sich Major Taylor und sagte:

„Ich fliege kurz vor Tagesanbruch nach Frankreich. Es wäre nicht schlecht, wenn Sie mich begleiten würden, Miss Auston.“

„Wenn Sie es für richtig halten, Major — ich bin bereit!“

„Und was wird mit mir?“, fragte Twist kläglich.

„Gar nichts, mein Lieber!“ Taylor lächelte ein klein wenig boshaft. „Bleiben Sie unter dem Schutz Ihres Dieners hier und pflegen Sie die Wunden, die Ihnen eine Frau in ehrenvollem Kampf beigebracht hat ...“

Twist stöhnte ärgerlich auf. „Das hat man nun davon! Wer den Spaten hat, braucht für den Schutt nicht zu sorgen.“

Killer-Zimmer: Krimi Koffer mit 1300 Seiten

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