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Alfred Bekker

DER ZEILEN-VAMPIR



Gisela war alles andere als begeistert, als ich ihr eröffnete, wo wir unseren Urlaub verbringen würden. Aber ich kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie erst toben und sich dann damit abfinden würde. »Es ist eine einmalige Gelegenheit«, sagte ich ihr.

»Peter von Varoschy hat uns in sein Haus in Österreich eingeladen.

Wir brauchen nicht einmal etwas zu bezahlen!«

Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht und meinte: »Na, das wäre ja auch noch schöner! Meine Güte! Wie ich diesen Peter von Varoschy hasse, obwohl ich ihm nie begegnet bin! Aber seit du deine Doktorarbeit über ihn schreibst, bist du doch kein normaler Mensch mehr!«

Ganz Unrecht hatte sie da nicht. Peter von Varoschy -

eigentlich Peter Varoschy, das 'von' war nicht echt - war zweifellos ein ungewöhnlich begabter Schriftsteller, dem es meisterhaft gelang, sich in seine Personen hineinzuversetzen, so dass man fast den Eindruck gewinnen konnte, sie - und nicht Varoschy - hätten die Romane geschrieben. Ein lohnendes Thema für eine Promotionsarbeit, zumal sich noch niemand daran versucht hatte.

Auf einem Symposion ergab sich zufällig die Gelegenheit zu einem Gespräch mit Varoschy und als er erfuhr, dass ich an einer Dissertationsschrift über sein Werk arbeitete, lud er mich kurzerhand zu sich auf sein Anwesen in der Nähe von Klagenfurt ein. »An Ihrem Ring sehe ich, dass Sie verheiratet sind«, ergänzte er dann. »Sie können Ihre Frau selbstverständlich mitbringen...«

»Macht das nicht zu viel Umstände?«

»Aber nein, mein Haus hat so viele leere Zimmer... Seien Sie meine Gäste. Ich würde mich freuen. Und Ihrer Arbeit würde es sicherlich gut tun!«

Daran bestand kein Zweifel. Wir plauderten noch über dies und jenes, bevor ich schließlich auf jenen Punkt kam, der mich am meisten interessierte. »Wie schaffen Sie es, sich derart in Ihre Personen hineinzuversetzen? Nehmen wir den Obdachlosen in Ihrem letzten Buch. Man könnte meinen, Sie selbst hätten jahrelang auf der Straße gelebt...«

Varoschys hageres, etwas bleich wirkendes Gesicht zeigte ein mattes Lächeln. »Wer sagt Ihnen, dass dem nicht so war?«, fragte er zurück.

Ich beugte mich zu ihm vor und hakte nach: »Nein, im Ernst!

Ich vermute schon seit langem, dass Ihre Hauptfiguren reale Vorbilder besitzen!«

Varoschy hob die Augenbrauen. »Sie haben recht«, gab er zu.

»Und - wie gehen Sie vor, bei Ihrer Recherche?«

Ein halb amüsiertes, halb diabolisches Lächeln umspielte seine blutleeren Lippen. »Die Lösung ist ganz einfach!«, behauptete er in einem Tonfall, von dem sich nicht sagen ließ, wie hoch der Anteil an Ernst darin war. »Ich besitze die Fähigkeit, die Seelen von Menschen, die mich interessieren, in mich aufzusaugen. All die Personen, von denen meine Bücher handeln, hat es wirklich gegeben, und sie haben in gewisser Weise mit mir am Schreibtisch gesessen.«

Ich lachte. »Sie sehen sich also als eine Art Vampir? Ein Zeilen-Vampir, sozusagen!« Ich fand dieses Bonmot damals ungeheuer gelungen, zumal Peter von Varoschy mich mit einem gütigen Lächeln bedachte.

»Vampirismus dieser Art gibt es zweifellos schon Jahrhunderte«, fuhr er fort und machte dabei den Anschein, als würde er jedes Wort tatsächlich ernst meinen. »Der Volksglaube hat allerhand dazu gedichtet, was mit dem eigentlichen Phänomen nichts zu tun hat, so das Trinken von Blut, die langen Eckzähne und so weiter.« Er lächelte. »Und nicht alle Vampire der Geschichte waren Schriftsteller!«

Varoschy hatte uns für den Sommer eingeladen. Bis dahin waren es noch ein paar Monate, die ich nicht ungenutzt verstreichen lassen wollte. Ich wollte so gut wie möglich vorbereitet sein. Denn was nützte es, mit Peter von Varoschy für einige Zeit unter einem Dach zu leben, wenn man ihm nicht die richtigen Fragen zu stellen wusste? Sein Gerede auf jenem Symposion, auf dem ich ihn persönlich kennen gelernt hatte, hielt ich für ein Beispiel seines hintergründigen Humors. Der Vampir als Bild für den Schriftsteller. So hatte das noch niemand gesagt.

Wie ein Besessener machte ich mich an die Arbeit und fand etwas heraus, das mich gleichermaßen beunruhigte wie faszinierte.

Dass seine Romanfiguren tatsächliche Vorbilder besaßen, hatte Varoschy zugegeben, und so versuchte ich, wenn möglich einige von ihnen kennen zu lernen. Sie zu identifizieren war nicht sehr schwer, denn Varoschy hatte sich oft nicht einmal die Mühe gemacht, Namen und Orte zu verändern - und wenn doch, dann war dies so nachlässig geschehen, dass die tatsächliche Identität leicht herauszufinden war, wenn man danach suchte.

Merkwürdigerweise schienen allerdings sämtliche Vorbilder Varoschys verstorben zu sein. Noch merkwürdiger war, dass bei einigen von ihnen die Leichen unter ungeklärten Umständen verschwunden waren, nachdem man sie zunächst in einem seltsamen, mumifizierten Zustand gefunden hatte.

Im Sommer fuhren Gisela und ich nach Klagenfurt.

Peter von Varoschy quartierte uns in seinem herrschaftlichen Landhaus ein. Varoschy behandelte uns mit ausgesuchter Höflichkeit, so wie es seiner Art entsprach. Den Tag über müsse er arbeiten, so sagte er, aber am Abend stände er zu unserer Verfügung.

Gleich am ersten Abend lud er uns zu einem opulenten Mal ein, das uns sein Butler zubereitet hatte, der außer Varoschy selbst der einzige Bewohner dieses Hauses zu sein schien. Er selbst saß am Tisch, ohne mitzuessen. Ein Magenleiden, wie er sagte.

Gisela hatte zunächst noch gemault, aber Varoschys vollendeter Charme nahm sie von der ersten Begegnung an sofort für ihn ein.

»Es freut mich außerordentlich, auch Sie kennen zu lernen«, sagte Varoschy. »Ich kann mir vorstellen, dass es nicht immer einfach ist, einen Mann zu haben, der versucht, eine Doktorarbeit zu verfassen.«

»Das können Sie laut sagen! Ich sehe ihn kaum noch!«

»Seien Sie versichert: Das geht vorbei!«

»Ich will's hoffen!« Und dann fragte Gisela plötzlich: »Sie sind nicht verheiratet, Herr von Varoschy?«

»Sie starb sehr jung«, erwiderte Varoschy.

Gisela wurde rot. »Oh, entschuldigen Sie...«

»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Ich schrieb mein erstes Buch über sie.«

An den nächsten Tagen ging es Gisela nicht gut. Sie blieb im Bett und fühlte sich sehr schwach. Ein Arzt, den wir aus Klagenfurt kommen ließen, konnte nichts feststellen, außer einer allgemeinen Erschöpfung.

So verbrachte ich die Tage damit, an meiner Arbeit zu schreiben, und die Abende mit langen Gesprächen, die ich mit Varoschy führte. Ich sprach ihn auf die seltsamen Schicksale an, die die Vorbilder seiner Romanfiguren erlitten hatten.

»Sie waren sehr fleißig«, sagte Varoschy ungerührt. »Aber sagte ich nicht, dass ich eine Art Vampir bin?« Sein Witz war an dieser Stelle deplatziert, so fand ich. Er hatte an diesem Abend stark einem dunklen Rotwein zugesprochen, der seine Zunge wohl ziemlich gelockert hatte, und so schwadronierte er weiter: »Ich sauge meinen Opfern die Seelen aus, bis nur noch eine mumienhafte, kraftlose Hülle von ihnen übrig bleibt. Zumeist werden die Leichen gefunden, doch ihr Tod bleibt nur von kurzer Dauer, dann erheben sie sich zu neuem, unheimlichem Leben...

Manche von ihnen gewinnen in ihrer neuen Existenz sogar Literaturpreise!

Die meisten allerdings fristen ein Dasein im Schatten.«

Varoschy hatte in diesen Momenten eine erstaunliche Suggestivkraft.

Mein Lachen klang etwas gequält. »Sie wollen mich veralbern, was?«

»Hunderttausende von Hobby-Literaten treibt ein furchtbarer Drang zum Schreiben, und es werden täglich mehr... Haben Sie sich noch nie gefragt, wo die Wurzel dieses Übels liegt?«

»Eine zweifellos unkonventionelle Sicht«, erwiderte ich ironisch.

Die Tage gingen dahin, und als ich eines Nachts Giselas Arm fühlte, glaubte ich einen Moment lang, sie wäre tot - so kalt war sie. Aber ihre geöffneten Augen straften mich Lügen.

In den nächsten Tagen besserte sich ihr Zustand jedoch zusehends. Einige Wochen später - wir waren längst wieder zu Hause und ich war mit meiner Arbeit dank der Zeit auf Varoschys Landsitz sehr gut weitergekommen - bemerkte ich die ersten Anzeichen innerer Leere und Erschöpfung. Bei dem Arbeitspensum, das ich in der letzten Zeit hinter mir hatte, war das eigentlich auch kein Wunder.

Dann fand ich eines Tages zufällig ein kleines, eng beschriebenes Heft unter Giselas Sachen. Mir war nie aufgefallen, dass sie literarisch interessiert war, geschweige denn, dass sie selbst schrieb. Ich begann zu lesen, und es war, als ob sich mir eine kalte Hand auf die Schulter legte. Giselas Aufzeichnungen handelten von mir...



Die große Halloween Horror Sammlung November 2021

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