Читать книгу Die große Halloween Horror Sammlung November 2021 - Alfred Bekker - Страница 20
Оглавление5
Moses Jordan stieg in die dunkle Limousine und setzte sich zu dem Mann mit dem Engelsgesicht auf die Rückbank.
Er war diesmal nicht wie ein Business-Mann gekleidet, sondern trug einen schneeweißen Anzug, der an die Gala- Uniformen der US-Marine erinnerte. Die helle Kleidung ließ sein Gesicht noch etwas blasser erscheinen.
"Fahren Sie los, Nolan!", sagte er an den Chauffeur gewandt.
Jordan atmete tief durch.
"Ich war etwas überrascht, dass du mich jetzt noch sprechen wolltest, Gabriel", sagte Jordan. "Ich meine, um diese Zeit..."
"Es ist genau die richtige Zeit, Mo!"
"Worum geht es denn?"
"Um den Kampf gegen den Vampirismus."
"Und wohin fahren wir?"
"Zum Trinity Cemetery."
"Ich verstehe nicht..."
Gabriel lächelte kalt. "Du wirst bald verstehen, Mo! Ich habe dir gesagt, dass wir einen Schritt weiter gehen müssen in unserem Kampf. Und außerdem gibt es so viele Fragen, die ich dir bisher nie beantworten durfte. Aber in dieser Nacht wird dir vieles klar werden."
Gabriel musterte den bärtigen Prediger einige Augenblicke lang.
Moses Jordan schluckte.
Die Art und Weise, in der dieser weiß gekleidete Mann mit dem Engelsgesicht ihn ansah, verursachte ein Gefühl des Unbehagens. Gabriels Blick war sehr intensiv. Beinahe so, als würde er direkt in die Seele des Predigers zu blicken vermögen.
Gabriel lächelte.
"Hab keine Angst, Mo. Du bist ein Hirte unter ahnungslosen Schafen. Ein Hirte im Auftrag des Herrn. Einer wie du sollte keine Angst haben - und keinen inneren Zweifel, denn der Zweifel ist der Tod des Glaubens."
Jordan musste unwillkürlich schlucken.
Was weißt du bis jetzt über diesen Mann?, ging es ihm durch den Kopf. Gabriel... Wie aus dem Nichts war er nach einer der zahllosen Predigt-Veranstaltungen aufgetaucht und hatte Jordan angesprochen.
Der Prediger erinnerte sich noch genau daran.
Ein Augenblick, den er nicht vergessen würde.
Gabriel hatte davon gesprochen, ihn in seinem Kampf um die Seelen unterstützen zu wollen. Er sei ein Diener Gottes, so hatte er behauptet. Und er hatte ihm gezeigt, wie man die Seelen Toter für kurze Zeit ins Leben zurückholte.
Er besaß ein umfassendes okkultes Wissen und war bereit, es mit Moses Jordan zu teilen. Jordan war der Faszination der neuen Möglichkeiten erlegen, die ihm nun zur Verfügung standen.
"In jedem von uns schlummern ungeheure Kräfte von denen die meisten Menschen nicht den Hauch einer Ahnung besitzen!", hatte er Gabriels Worte noch im Ohr. "Das gilt auch für dich, Mo!"
Bis sie den Trinity Cemetery erreichten, schwiegen sie.
Dort angekommen stiegen sie aus.
Die Limousine fuhr weiter.
Dann betraten sie den Friedhof, gingen die Reihen der Gräber entlang. Die emporragenden Bäume und Sträucher sorgten dafür, dass es hier in der Nacht dunkler war als an den meisten anderen Orten im Big Apple.
Nebelschwaden waren vom nahen Hudson River aufgestiegen, hatten sich wie Tentakelarme eines formlosen Ungeheuers langsam durch die Straßenschluchten gedrängt. Wie Bänke aus grauer Watte standen sie vor den Hecken und zwischen den Gräbern.
Ein Anblick, der Moses Jordan unwillkürlich schaudern ließ.
>Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt wird leben, wenn er auch stürbe>.
Jesus hatte das gesagt.
Die Angst vor dem eigenen Tod war der entscheidende Faktor gewesen, der ihn so sehr an den Glauben gefesselt hatte. Die Aussicht auf Auferstehung des Fleisches, wie es in der Bibel hieß. Aber Orte, die ihn an den Tod gemahnten, mochte Moses Jordan bis heute nicht, so fest er in seinem Glauben auch sein mochte.
Sein Blick ging die Reihe der Gräber entlang.
Namen, Geburts- und Todesdaten.
Plötzlich blieb Gabriel stehen.
"Genau hier muss es geschehen", sagte er dann.
"Wovon sprichst du?"
"Du wirst es gleich sehen. Es ist ein Wunder, Mo! Ein Wunder, dass der Herr vollbringen wird - durch dich!"
Eine leuchtende, wie ein Fluoreszenz-Phänomen wirkende Aura umgab plötzlich Gabriels Körper. Jordan wich unwillkürlich einen Schritt zurück.
Gabriels Gesicht leuchtete auf geheimnisvolle Weise. Er lächelte. Jordan bemerkte die eigenartige Lichterscheinung auf dem Rücken des weiß gekleideten Mannes.
Flügel!, dachte Jordan mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Schauder. Mein Gott...
Er sank auf die Knie, faltete die Hände.
"Ist es wahr, Gabriel? Du bist ein Engel! Ein Gesandter des Herrn?"
"Hast du es nicht immer geahnt, Mo? Schon bei unserem ersten Zusammentreffen?"
"Ja!", flüsterte Jordan voller Inbrunst. Er war überwältigt, zitterte jetzt am ganzen Körper. "Darum hast du mir geholfen bei meiner Mission..."
"Nicht ich!"
"Nein, ich weiß! Die Kraft des Herrn."
"Du bekommst eine neue Mission, Mo!"
"Eine neue Mission? Und was ist mit dem Kampf um die verlorenen Seelen?"
"Nur ein Teil in einer viel größeren Auseinandersetzung! Dem Kampf gegen die Verdammnis!"
"Ja", flüsterte Moses Jordan.
Gabriel trat näher an Jordan heran, legte ihm eine Hand auf den Kopf, so als wollte er ihn segnen.
"Steh auf, Moses Jordan! Deine neue Mission ist der Kampf gegen die Vampire, jene übelsten Diener des Bösen! Sie sind dem Herrn widerlich und du wirst sie vom Antlitz seiner Schöpfung tilgen wie Ungeziefer, das man zertritt!"
"Hallelujah! Amen!", rief Moses Jordan. Langsam erhob er sich.
Gabriel deutete auf eine der Grabparzellen.
"Dies ist ein Ort, an dem besonders starke Energien wirksam sind. Ein Friedhof. Aber nicht irgendeiner! Zwei Opfer der Vampire aus jüngster Zeit liegen hier begraben. Lieutenant Detective Robert Malloy vom New York Police Department! Ein Cop, der vom Dienst suspendiert wurde, weil niemand ihm glauben wollte, in welch schrecklicher Gefahr wir uns alle befinden! Und Madeleine Malloy, seine Tochter. Beide ermordet von Dienern des Imperiums der Finsternis... Malloy kämpfte allein, aber du wirst Verbündete haben, Mo! Du wirst nicht allein sein in deinem Feldzug gegen das Natterngezücht der Finsternis!"
"Du wirst mir helfen, Gabriel?"
Der Mann mit dem leuchtenden Engelsgesicht schüttelte den Kopf. "Nein, das ist nicht möglich..."
"Aber..."
Gabriel hob die Hand und Moses Jordan verstummte. Noch immer hielt er die Hände gefaltet. Ein Moment der Offenbarung!, ging es ihm durch den Kopf.
Ein Augenblick, wie ein berühmterer Namensvetter ihn vor einem brennenden Dornbusch Jahrtausende zuvor erlebt hatte. Jordans Puls schlug ihm bis zum Hals. Jede Faser seines Körpers war angespannt und wie elektrisiert.
"Ich werde dir zeigen, wie du diese Verbündeten im Kampf gegen die Vampire beschwören kannst, Mo!", kündigte Gabriel an. "Du wirst viel Kraft dazu brauchen... Es ist nicht ganz ungefährlich. Bist du dennoch dazu bereit!"
"Ich bin bereit!", flüsterte Jordan.
"Der Zeitpunkt ist günstig. Wir müssen uns beeilen..."
Eine Bewegung in der Finsternis zwischen den hoch aufragenden Bäumen lenkte Jordan einen Augenblick lang ab.
Da ist etwas!, durchzuckte es ihn.
Er verengte die Augen, ließ suchend den Blick schweifen.
Und dann entdeckte er >es>. Es war beinahe unsichtbar. Nur wenn man genau hinsah, sah man ein über zwei Meter fünfzig großes Monstrum. Es wirkte mit seinen lederhäutigen Flügeln wie die Parodie eines Engels.
Gabriel bemerkte die Verwirrung des Predigers sofort. Ein ärgerlicher Zug erschien in seinem makellosen, glatten Gesicht.
"Ptygia!", stieß er hervor. "Verschwinde! Du siehst doch, wie sehr du dieses brave Kind Gottes verwirrst..."
Jordan stand mit offenem Mund da, starrte das lederhäutige Monstrum an. Ohne Zweifel war dieses Wesen weiblich. Aber es wies auch tierhafte Merkmale auf. Blitzende Raubtierzähne wurden sichtbar. Dann schien Ptygia zu verblassen, war kaum noch sichtbar und verschmolz mehr und mehr mit dem Schatten.
"Was war das?"
"Ptygia gehört zu mir."
"Ah..." Wahrscheinlich hatte sich der Prediger die Geschöpfe des Himmels anders vorgestellt.
Gabriel legte Moses Jordan einen Arm um die Schulter. Eine besitzergreifende Geste.
"Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren... Ich muss diesen Ort verlassen!"
Jordan hob die Augenbrauen.
"Warum?"
"Das kann ich dir jetzt nicht erklären, Mo. Und es hat für dich keine Bedeutung."
"Aber..."
"Vertraust du mir, Mo?"
"Der HERR hat dich gesandt."
"So ist es."
"Warum sollte ich dir also nicht trauen?"
"Du musst mir bedingungslos folgen. In allem, was ich dir sage!"
Jordan schluckte ergriffen. "Ja, das werde ich!", versprach er und dachte: Wahrhaftig! Eine Offenbarung! Was sonst konnte dies alles zu bedeuten haben?
Seine Stimme bekam einen belegten Klang. Er wirkte zutiefst ergriffen.
"Ich bin auserwählt, nicht wahr? Ich habe es immer schon gespürt."
Gabriel nickte.
Wie es scheint, wird es ihm wohl sogar noch Spaß machen, seine schwache, sterbliche Lebenskraft zu vergeuden!, ging es dem Mann in Weiß zynisch durch den Kopf.
"Ich werde dich jetzt in das Geheimnis eines sehr mächtigen Rituals einweihen..."