Читать книгу Die große Halloween Horror Sammlung November 2021 - Alfred Bekker - Страница 9
ОглавлениеAlfred Bekker
KEIN SPIEGELBILD
»Die Lichtverhältnisse müssen Sie schon entschuldigen«, sagte der Institutsleiter und hob dabei bedauernd die Schultern.
»Eine der Lampen ist defekt. Der Hausmeister hätte eigentlich längst hier sein müssen, aber Sie wissen ja, wie so etwas geht...
Und leider hat mein Büro keinen Zugang zum Tageslicht.«
»Das macht nichts«, sagte der junge Mann, der eingetreten war und dabei seine Sonnenbrille trotz des wenigen Lichts aufbehalten hatte. »Grelles Licht vertrage ich ohnehin schlecht.
Eine Augenkrankheit...«
Der Institutsleiter musterte den jungen Mann einen Moment lang nachdenklich, dann reichte er ihm die Hand. »Nehmen Sie bitte Platz. Ich bin Dr. Lutz. Und Sie müssen Peter Radvanyi sein.«
»Der bin ich«, nickte der junge Mann. »Ich hoffe, dass meine Bewerbungsunterlagen in Ordnung waren«, setzte er dann noch hinzu, aber Dr. Lutz ging darauf nicht ein.
»Ein seltener Name - Radvanyi«, murmelte der Institutsleiter nachdenklich und rieb sich an der Nasenwurzel.
»Ungarisch - glaube ich«, sagte der junge Mann.
»Ah, ja«, machte Dr. Lutz. »Dieser Name kommt mir bekannt vor. Da war doch vor ein paar Jahren so eine Geschichte in der Zeitung...«
Radvanyi seufzte. »Ja, ja, ich weiß. VAMPIR TRANK
MÄDCHENBLUT - so hieß die Schlagzeile. Das hängt mir bis heute an. Wenn ich Meyer heißen würde, wär's was anderes. Dann hätten die Leute das längst vergessen. Aber Radvanyi - das klingt nach Balkan, Fledermäusen und düsteren Schlössern. So etwas behält man! Zumindest im Zusammenhang mit einer solchen Überschrift! Und da nützt es auch nichts, wenn man auf einer der hinteren Seiten dann irgendwann eine Gegendarstellung bekommt!« Radvanyi beugte sich etwas vor. Seine bleichen Lippen waren aufgesprungen und formten einen gequälten Gesichtsausdruck. »Wissen Sie, was der reale Hintergrund dieser Schlagzeile war?«
Dr. Lutz hob die Augenbrauen. »Nein, aber ich bin gespannt!«, sagte er ein wenig gelangweilt.
Radvanyi atmete tief durch, bevor er dann hervorpresste: »Es war während meines Studiums. Um Plasma unter dem Mikroskop untersuchen zu können, habe ich einer Studienkollegin etwas Blut abgenommen. Das war alles!« Und dann versuchte Radvanyi plötzlich heiter zu wirken und fuhr mit aufgesetzter Leichtigkeit fort: »Wenn Sie hier in Ihrem Büro einen Spiegel hätten, dann könnte ich Ihnen sofort beweisen, dass ich kein Vampir bin, denn die haben ja bekanntlich kein Spiegelbild.«
Dr. Lutz mochte diese Art des Humors offensichtlich nicht besonders. Er tickte mit den Fingern auf der Schreibtischunterlage herum und vermied es dabei, den blassen jungen Mann direkt anzusehen.
»Dennoch, Herr Radvanyi«, brachte der Institutsleiter dann schließlich hervor, »für unser Institut kommt jemand mit einer solchen - wie soll ich sagen? - unseriösen Vergangenheit kaum in Frage. Sie kennen die Aufgabe, die sich unsere Organisation gestellt hat. Wir nehmen Blutspenden an und sorgen für sachgerechte Konservierung, Lagerung und Verteilung. Bei unserer täglichen Arbeit sind wir maßgeblich von dem Vertrauen abhängig, das man uns entgegenbringt. Und wenn nun bekannt würde, dass einer unserer leitenden Mitarbeiter in seiner Vergangenheit einen Punkt aufweist, der nicht ganz astrein zu sein scheint...«
Radvanyi war empört. »Das ist doch nicht Ihr Ernst!«, rief er.
»Sie nehmen diesen zwei Jahre alten Schmutzartikel zum Anlass, um...?« Er schüttelte nur den Kopf.
»Es tut mir leid«, erklärte Dr. Lutz fest entschlossen. »Ganz gleich, ob damals etwas an der Sache dran war oder nicht, es kann nicht mein Interesse sein, dass dieses Institut durch Sie in die Schlagzeilen gerät. Ich sehe vor meinem geistigen Auge schon die Überschrift: VAMPIR IN DER BLUTBANK! Für die Presse wäre das doch ein gefundenes Fressen. Um ehrlich zu sein: Ich hätte Sie gerne genommen. Ihre Zeugnisse sind hervorragend. Aber als Sie mir eben bestätigten, dass Sie der Radvanyi sind, da stand mein Urteil fest.«
»Schade«, sagte Radvanyi schließlich resignierend. »Ich hätte mir gut vorstellen können, hier zu arbeiten.«
»Wie gesagt...«
»Ich verstehe schon!« Radvanyi erhob sich und verabschiedete sich knapp. Die Enttäuschung war ihm anzumerken, als er schnellen Schrittes hinausging.
Etwas eigenartig wirkt er ja doch!, ging es dem Institutsleiter durch den Kopf. Dieses bleiche Gesicht mit dem gequält wirkenden Ausdruck...
Dr. Lutz blickte auf die Uhr. Feierabend. Er stand auf, nahm seine Tasche und ging zur Garderobe, um seinen Mantel zu holen.
An dem großen Wandspiegel, der dort unglücklicherweise angebracht war, lief er immer besonders schnell vorbei. Es würde nur eine Menge dummer Fragen geben, wenn jemand mitbekam, dass Dr. Lutz kein Spiegelbild hatte.