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Moses Jordan breitete die Arme aus.

Er war jetzt allein auf dem Friedhof.

Sowohl der engelhafte Gabriel, als auch seine monströse Begleiterin hatten sich davongemacht.

Jordan hoffte, dass er alles richtig machte. Er spürte eine unsichtbare, schwere Last auf seinen Schultern. Ich bin der Auserwählte!, ging ihm durch den Kopf. Auserwählt durch einen leibhaftigen Boten Gottes! Wer konnte das schon von sich sagen?

Und jener Weg des Kampfes gegen die Vampire, den Gabriel ihm vorgeschlagen hatte, war mit Sicherheit erfolgreicher, als die Vampirjagd mit Holzpflock und Armbrust, die so manch einsamer Vampirjäger betrieb.

So wie Robert Malloy, der jetzt einige Fuß unter einem Beet mit frisch gepflanzten Blumen seine letzte Ruhe gefunden hatte.

Moses Jordan atmete tief durch. Seine Lippen murmelten Worte in einer unbekannten, uralten Sprache. Wie in Trance wiederholte er immer wieder dieselbe Folge von Silben, deren genauen Sinn ihm heute niemand mehr hätte übersetzen können.

Vielleicht mit Ausnahme von Gabriel.

Gabriel hatte mit einem Stück Holzkohle magische Zeichen auf einige der Gräber gezeichnet, bevor er sich davongemacht hatte.

Welche Rolle diese Zeichen bei der Durchführung des Rituals genau spielten, war Moses Jordan nicht klar.

Er musste dem Mann mit dem engelsgleichen Gesicht einfach vertrauen.

Jordan schloss die Augen.

Er spürte auf einmal, wie eine Kraft ihn von innen her erfasste. Eine geistige Kraft, deren Ursprung er nicht kannte.

Kälte erfasste ihn.

Gabriel hatte ihn diesbezüglich vorgewarnt. "Die Kälte des Limbus, der Zwischendimension... Du darfst sie nicht übermächtig werden lassen!" Immer wieder hallten diese Worte in Jordans Kopf wieder.

Aber jetzt war er allein und auf sich gestellt.

Jordans Gesicht verzog sich wie unter einem starken Schmerz. Er spürte, wie sämtliche Kräfte aus seinem Körper flohen. Seine Knie begannen zu zittern und er fragte sich, wie lange er sich überhaupt noch auf den Beinen halten konnte. Das Gefühl der Kälte breitete sich immer schneller in ihm aus.

Jordan öffnete die Augen.

Aber um ihn herum war nichts als Finsternis.

Ich bin blind!, durchfuhr es ihn schaudernd. Der Puls schlug ihm bis zum Hals. Herr, lass diesen Augenblick vorüber gehen!, durchfuhr es ihn. Sein Mund murmelte derweil unablässig jene beschwörenden Worte, die Gabriel ihm beigebracht hatte. Immer wieder. Eine Wiederholung, die eine Art hypnotischen Singsang ergab.

Jordan konnte nicht sehen, wie sich die Erde auf so mancher Grabparzelle plötzlich zu regen begann. Ein Blitz zuckte aus einem der Grabsteine heraus, griff auf den am nächsten liegenden über. Weitere Blitze folgten. Sie verbanden jene Grabsteine untereinander, die mit magischen Zeichen versehen worden waren. Ein bizarres Muster, das an einen Stern erinnerte.

Der Grabstein von Rob Malloy stürzte vornüber.

Stöhnende, murmelnde Laute drangen jetzt von überall her, vermischten sich dabei mit dem Lärm der nahen Straßen.

Die Seelen der Verdammten!, ging es Jordan durch den Kopf. Sie rufen. Und sie möchten, dass ich meine Mission erfülle - - nicht zuletzt für sie!

Moses Jordan fühlte sich schwindelig. Alles begann sich zu drehen. Er musste sehr aufpassen, um auf den Beinen zu bleiben.

Etwas stieß in der Grabparzelle von Rob Malloy aus der Erde heraus, ließ sich dabei auch vom Wurzelwerk einer Staude nicht abhalten. Knackende Laute entstanden. Der Boden zu Jordans Füßen begann hier und da leicht zu zittern. Es war beinahe so, als wäre jemand auf die Idee gekommen, anstatt eines Toten eine Sprengladung in eines der Gräber hineinzulassen und diese dann nach ein paar Tagen mit Hilfe eines Zeitzünders in die Luft gehen zu lassen. Sand und Gesteinsbrocken flogen plötzlich im hohen Bogen aus der Erde heraus. Löcher bildeten sich. Ein formloses Etwas langte an die Oberfläche. Augenblicke später konnte man sehen, dass es eine Hand war.

Überall kam jetzt Bewegung in die Erde, mit denen die Gräber bedeckt waren.

Arme und Hände erschienen, ragten plötzlich aus dem Erdreich empor und fuhren damit fort, sich aus den Beeten heraus zu graben. Die ersten Köpfe erschienen, halbe Körper. Manche dieser Körper trugen furchtbare Zeichen der Verwesung. Seit Jahren hatten sie in der modrigen Erde gelegen und waren den Gang allen Fleisches gegangen, hatten langsam vor sich hingerottet.

Die zum Großteil umgestoßenen Grabsteine leuchteten, als ob sie aus fluoreszierendem Material bestanden hätten.

Überall schaufelten sich nun mit bloßen Händen untote Wiedergänger an die Oberfläche. Manche von ihnen mit Knochenhänden. Unartikulierte Laute drangen über ihre verwesten Lippen. Es klang wie eine Art Chor. Der Chor der verdammten Seelen!, dachte Jordan ergriffen. Alles drehte sich in seinem Kopf. Ein schreckliches Gefühl der Kraftlosigkeit hatte ihn befallen und die innere Kälte, die nun in ihm herrschte, ließ ihn zittern. Doch unentwegt sprach er die Beschwörungsformel, die Gabriel ihm beigebracht hatte.

Es ist deine Mission!, durchzuckte es ihn. Du darfst nicht nachlassen, nicht der Agonie nachgeben, die dich zu befallen droht! Du musst durchhalten, koste es was es wolle...

Die Furcht vor dem Tod, die Moses Jordan sein Leben lang beherrscht hatte und ihn schließlich zu einem fanatischen Prediger hatte werden lassen, stieg in ihm auf.

Ein Schauder, der das innerste Mark seiner Seele erfasste.

Er versuchte, dieses Gefühl zu unterdrücken, aber es gelang ihm nicht. Oh, Herr, gib mir Stärke!, dachte er, während seine Lippen immer noch unablässig jene Silben formten, die vor Äonen vielleicht einmal einen nachvollziehbaren Sinn ergeben haben mochten.

Ein greller Blitz erschien plötzlich vor seinen Augen.

Es dauerte einige Augenblicke, bis Jordan begriff, dass dieser Blitz in seinem Gehirn stattgefunden haben musste, nicht außerhalb seines Körpers auf dem Trinity Cemetery. Grelles Licht blendete ihn. Er schloss die Augen, aber das half nichts dagegen. Das blendend weiße Licht war da.

Ein Schmerz durchzuckte Jordan vom Kopf aus. Ein Schmerz von einer Intensität, wie er ihn nie zuvor in seinem Leben gespürt hatte. Er schrie unwillkürlich auf. Der Singsang, den er bis dahin ständig fortgesetzt hatte, verstummte.

Jordan ließ die Arme sinken, betastete seinen Kopf.

Langsam nur verebbte diese Schmerzwelle.

Das blendenweiße Licht brannte nicht, es war eiskalt. Als es sich langsam auflöste, kehrte sein Sehvermögen zurück.

Noch immer wurde er von schrecklichen Schwindelattacken heimgesucht. Er taumelte einen Schritt zur Seite und konnte sich nur mit Mühe auf den Beinen halten.

Er blickte sich um.

Ein Blick des Grauens zeigte sich ihm auf dem Trinity Cemetery.

In den kniehohen Nebelbänken standen die wiedererstandenen Toten, die sich mühsam aus dem Erdreich gegraben hatten. Der Friedhof sah aus wie eine Baustelle. Als hätten skrupellose Leichenfledderer ihn heimgesucht. Aber einige Details zeigten doch, dass hier etwas ganz anderes vor sich gegangen sein musste. Etwa die Holzstücke von geborstenen Särgen, die überall herumlagen.

Die Untoten selbst bildeten ein Bild des Grauens.

Der Grad der Verwesung war sehr unterschiedlich. Es gab Tote, die erst vor kurzem begraben worden waren. So wie der Mann in den Vierzigern und die junge Frau. Das müssen Robert Malloy und seine Tochter Madeleine sein!, ging es Jordan schaudernd durch den Kopf.

Hingemeuchelt von skrupellosen Vampiren, den Dienern des Bösen und der Finsternis...

Aber jetzt, so ging es Jordan mit einem Gefühl der Genugtuung durch den Kopf, würden sie Gelegenheit bekommen, sich an jenen zu rächen, die ihnen das angetan hatten. Auge um Auge, Zahn um Zahn, so spricht der Herr!, erinnerte sich der Prediger.

Robert Malloy stand da, blickte an seinem Körper hinab. Er war bleich, seine Haut wirkte wächsern. Ebenso wie bei seiner Tochter. Malloy wandte den Blick in ihre Richtung. Seine Augen blieben ausdruckslos. Madeleine erwiderte den Blick. Sie öffnete halb den Mund, aber kein Laut kam über ihre ausgesprungenen Lippen.

Dies sind die Heerscharen des Herrn im Kampf gegen das Böse!, wurde es Jordan schaudernd klar. Er ging auf die Knie. Nicht in erster Linie aus andächtigen Gefühlen heraus, sondern vor Schwäche.

Malloy machte einen unsicheren Schritt auf ihn zu, betrachtete erst seine Tochter, dann seine Hände, so als könnte er dieses neue Leben, dass ihm eingehaucht worden war noch gar nicht fassen.

Glanz trat jetzt in seine Augen.

Ein hungriger Glanz. Er hob das Kinn, es wirkte fast so, als würde der Ex-Cop Witterung aufnehmen.

Auch die anderen Untoten begannen sich zu bewegen, sie traten auf Jordan zu, bildeten einen Halbkreis um ihn. Es waren Dutzende von zombihaften Untoten, darunter lebende Leichen, die sehr stark zersetzt waren. Mehr Erde als Fleisch. Leere Augenhöhlen, aus denen die Maden heraus krochen, schienen den Prediger anzustarren.

Jordan schluckte unwillkürlich.

Doch dann sah er etwas, das ihm schier den Atem raubte.

Die zerstörten Körper begannen sich vor seinen Augen auf wunderbare Weise zu regenerieren. Modriger Humus wurde wieder zu Muskeln, Sehnen und Fleisch. Nackte Knochen bedeckten sich langsam mit Haut. Selbst halbzerfallenes Kleider-Gewebe begann sich wieder in seinen ursprünglichen Zustand zurückzuversetzen.

"Es ist wahr!", sagte Jordan laut und voller Ergriffenheit. "Die Auferstehung des Fleisches - sie ist wahr! Hallelujah!"

Die Sinne schwanden ihm.

Das Bild vor seinen Augen verschwamm zu einem formlosen Brei aus Farben.

Er hatte das Gefühl zu fallen.

Dann senkte sich Finsternis über ihn.


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