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VII

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Wunibald Venus schnaubte vor Wut. Seit er Inspektor in der Hochschule für Musik war — und das sind nun bald an die zwanzig Jahr — schnaubte er so an jedem Tag in seinen Walroßbart hinein. Zwei Zentner wog er, aber er war nicht groß. So wirkte er fast breiter als hoch in seiner rundlichen Fülle.

Herr Venus — dieser dicke Mann, den Schönheit wahrlich nicht plagte, hieß wirklich so — sorgte für die Ordnung in dem musizierendsten Hause Berlins. Und das will was heißen bei 600 zivilen Studenten und 400 Militärmusikern! Sowohl für Chor- und Orchesterproben hatte er täglich die Räume zu besorgen wie für die einzelnen Übungen und Studierenden.

Wie sollte man das ohne Hexerei fertig kriegen, wenn allein 120 Lehrer unterrichteten und nur 80 Übungszimmer da sind? Muß es da nicht täglich Karambolagen geben?

Natürlich gab es täglich Karambolagen. Dr. Sievenkamp, der bekannte Musiktheoretiker, irrte vor seiner Tür umher, weil alle Theoriezimmer augenblicklich besetzt waren. Wen sollte er nun hinausschmeißen? Er kann doch nicht den Herrn Direktor —? Nein, dem Herrn Direktor kann er nicht sagen: Eure Uhr ist abgelaufen, eigentlich ist schon Dr. Sievenkamp an der Reihe.

Und so hatte man immerfort mit der Zimmerverteilung seinen Ärger. Da kam Issy Grenthen angefegt. Die kleine rotblonde Hexe hat ihm gerade noch gefehlt. Ehe Issy überhaupt nach bescheidenstem Anklopfen richtig in das Bürozimmer des Herrn Wunibald Venus eingetreten war und die Bitte um Zuweisung eines Übungszimmers aussprach, brüllte Herr Venus in das durcheinander blasende, klavierende, flötende und geigende Getöse, das in die Korridore trotz der dämpfenden Korkwände hineinklang: „Raus!!”

Nichts als „Raus!” brüllte Herr Venus und kehrte der aber keineswegs erschrockenen Issy den Rücken zu. Herr Venus sah zum Fenster hinaus und paffte seine Zigarre kaputt. Ärgerlich warf er den zerlutschten Stummel in den Aschbecher, der auf dem Fensterbrett stand. Weitere drei Aschbecher zierten den Schreibtisch, den Waschbehälter und das andere Fensterbrett. Denn Herr Venus rauchte ununterbrochen. Es dampfte bei ihm immer wie im Venusberg zur Walpurgisnacht.

Plötzlich ein Schluchzen. Issy weinte. Krokodilstränen. Aber sie purzelten wirklich über die Wangen. Sie konnte auf Kommando weinen.

„Wat’n los?” drehte sich Herr Venus um. Er hatte nämlich im tiefsten Grunde seiner mächtigen Brust ein goldenes Fettherz hängen. „Wat’n los, Fräulein?”

„Wenn ich beim Konzert mich verplempere, sind Sie schuld, lieber Herr Venus!”

„Achtundvierzig!!” brüllte Venus mit grimmigstem Gesicht. Sonst nichts.

Issy lachte, sprang auf und hinaus — nach Zimmer 48.

Auch Constanze wollte fürs Konzert üben. Auch sie klopfte bescheiden bei Herrn Venus an und erwartete die übliche Schimpfkanonade.

Aber Herr Venus schrie ihr nur entgegen: „Nicht heulen! Siebenundsechzig!”

Und Constanze ging nach Übungszimmer 67.

Darin stand nichts weiter als zwei akkurat nebeneinander gerückte Flügel und ein Notenschrank. Sie übte den Walzer in Cis moll von Chopin. Sie sollte ihn im Konzert auswendig spielen, das Mitte Januar in der Hochschule stattfand.

Professor Dämpfinger trat, während sie einen Triller immer wieder probierte, leise ein. „Gut so. Weiter —” flüsterte er.

Constanze spielte weiter. O, es ging wider Erwarten besser als sie dachte. Da Dämpfinger weder knurrte noch murrte, mußte auch ihm ihr Spiel zusagen.

Als sie geendet hatte, sagte Ignatz Dämpfinger nichts, Dämpfinger, von dem Charlo behauptete, er hätte Hände und Finger wie Wachs, aber mit Stahleinlage, so weich und doch klar sei sein Anschlag. Das war ein gutes Zeichen, daß der Professor nichts sagte. Sondern nur so wie jetzt mit dem Mittelfinger der rechten Hand über seinen Hindenburg-Schnurrbart strich.

„Herr Professor?”

„Also Sie bleiben, Dornbühl. Ich habe Hoffnungen mit Ihnen. Ihr Probesemester ist beendet.”

„Danke, Herr Professor. Und beim Konzert?”

„Spielen Sie ruhig diesen Walzer vor. Außerdem mit Issy Grenthen die Petite Suite von Debussy. Vom Blatt, aber sauber! Und — ja, noch etwas! Im Schubertschen Forellenquintett den Klavierpart. Auch vom Blatt!”

„Herr Professor —” Constanze wußte vor Verblüffung nichts weiter zu sagen. Offensichtlich wollte Dämpfinger sie herausstellen. Da fiel ihr ein: Tasso Sempach hatte ihm sicher geschrieben. Also — Protektion — — — Sie wurde wieder kleinmütig. „Werde ich das alles können? Wenn ich etwas umschmeiße?”

„Sie werden’s können. Wir haben noch zehn Tage Zeit zum Üben. Und da wird geübt, Dornbühl, verstanden? Sie kennen doch Stefan Klodwig gut?”

„Ja, gewiß, aber —”

„Na, der hilft Ihnen doch gern, Dornbühl! Weiß ich doch!” Jetzt lächelte Dämpfinger sogar. Und Dämpfinger lächelte selten.

Ja — Tasso Sempach hatte seinem einstigen Studiengefährten am Münchener Staatskonservatorium noch am Neujahrstag vor seiner Abreise aus Berlin geschrieben: Lieber Freund! Ich hätte dich gern selbst aufgesucht, aber am 3. Januar dirigiere ich in Amsterdam die Ouverture 1812 und die Symphonie (Pathétique) von Tschaikowsky. Du wirst sagen: Du hast’s geschafft. Aber glaube mir, ich beneide dich, wenn ich an dein gegen meine Dirigentenreisen geruhsames Schulgewerbe denke. Das soll nicht prahlerisch klingen. Es ist wirklich so. Ich bin müde der Triumphe und tauschte gern mit dir. Zumal du das Glück hast, einen holden Botticelli-Engel zu unterrichten. Jetzt grienst du: ganz der alte Sempach, der aus seinem schon verrückten Taufnamen Tassilo einen noch verrückteren Künstlernamen Tasso gemacht hat und noch auf seine alten Tage hinter den kleinen Mädchen her ist. Stimmt nicht ganz, mein Freund. Ich lebe wie ein Mönch. Kannst es glauben. Aus der Traum! D.h. träumen tu ich noch manchmal. So auch von deinem holden Botticelli-Engel alias Constanze Dornbühl. Sang im Chor mit, als ich die „Neunte” in eurer Hochschule dirigierte. Du Faultier warst natürlich in die Ferien gereist. Zum hundertsten Male nach deinem geliebten Holzknechtdorf im Oberbayrischen! Knaster paffen und mit deinen Landsleuten klug schnacken! Ja, diese Constanze traf ich dann ganz zufällig auf dem Heimweg im Tiergarten. Wirklich: zufällig. Denk dir, das Mädel hatte Tränen, als sie das Lied an die Freude sang. Muß ein gefühlstiefes Herz besitzen. Für die Liebe: herrlich, für die Kunst: gefährlich. Verdirbt den klaren harten Aufbau des inneren Werdeganges. Aber etwas wird sie schon können. Das Mädchen hat mich gerührt. Ich kann’s nicht anders ausdrücken. In seiner so von allem Dreck der Welt noch fernen Reinheit. Dieser süße Anhauch von Jugend in dem weichen Gesicht. Ich nannte sie Botticelli-Engel, weil sie mich an einen Engelskopf erinnerte, den ich in irgendeinem Museum einmal gesehen habe. Vor allem die Augen, diese großen, ganz, ganz blauen Augen, deren Tiefen noch unangetastet schlummern. Und der Mund, der in seiner etwas traurigen Linie so rührend wirkt. Wenn er lächelt, wirkt er ganz kindlich. Aber manchmal, wenn das Mädchen vor sich hin sinnt, da ist soviel — wie soll ich sagen? — soviel zukünftige Traurigkeit schon um diesen Mund versammelt. Ich fürchte, sie wird auch einmal Schmerz zu überwinden haben. Denn jetzt ist ihr Leben wohl im Grunde noch sorglos und kindlich froh gestimmt.

Du, Ignatz, kümmere dich bissel um den Botticelli-Engel! Aber kümmere dich, auch wenn sie nicht allzuviel fertig kriegt, was ich fast befürchte. Denn soviel hab ich gemerkt, daß das Mädel noch nicht das Letzte um die Musik und ihre vampyrhafte Gewalt weiß, die sie über jene besitzt, die von ihr besessen sind. Möge sie auch nie zu den Besessenen gehören. Aber — mach eine gute Schülerin aus ihr. Die sich nicht blamiert! Versprich mir das, Ignatz! Und nun: ein gutes Neues Jahr auch dir, alter Igel! Immer Dein Tasso.

Ignatz Dämpfinger hatte auf einer Postkarte geantwortet: Die Dornbühl ist so, wie Du sie siehst. Will mein Möglichstes versuchen, alter Don Juan Du! Sympathisches Wesen. Bemüht sich auch ehrlich. Im übrigen keineswegs unbegabt. Möge Dir Dein Ehrgeiz weiter gut bekommen. Meiner liegt in der untersten Schublade meines Schreibtisches begraben. Für immer. Seit ich vor Jahren mit meiner Sinfonietta durchfiel. Immer Dein Ignatz.

Tasso Sempach erreichte Dämpfingers Karte in Mailand, wo er in der Skala als Gast die „Tosca” dirigierte. In der Pause las er sie. Und lächelte so beglückt, daß die gerade am Dirigentenzimmer vorüberschreitende Darstellerin der „Tosca” — die Tür stand offen! — ihn ganz verblüfft ansah.

„Wenn ich zwanzig Jahre jünger wäre —” flüsterte Sempach. „Nun ist’s vorbei. Für immer vorbei.” Aber er freute sich doch, in Ignatz Dämpfinger einen guten Schutzpatron für Constanze gefunden zu haben.

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