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IV

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Doch die ersten Tage des Jahres brachten nichts überwältigend Besonderes. Wie auf eine stillschweigende Vereinbarung hin kamen weder Constanze noch Charlo auf ihre so grundverschiedenen Erlebnisse der Neujahrsnacht zu sprechen. Sonst erzählte Constanze der ein Jahr älteren Mitschülerin, die aber einen für ihre Jahre noch viel reiferen Eindruck machte, gern von allem Seltenen, das sie erlebt hatte und das in ihr nachklang.

Charlo schwieg vielleicht nur, weil sie eine Art moralischen Kater hatte, den sie aber bald „spielend” überwand: sie übte wie eine Besessene. Immer wieder Fingerübungen. Immer wieder die gleichen drei Passagen.

Das Telefon schrillte fast jeden Tag ein paar Mal. Gewöhnlich klingelte zuerst der pensionierte Major, der unter ihnen wohnte, bei den „Cikaden” an, um sich mit seiner rabenkrächzigen Stimme unter vielem Geräusper, Gehuste und Gepuste über dieses zum Wahnsinnigwerden eintönige Geklimper zu beschweren. „Werden Sie doch wahnsinnig, wenn’s Ihnen Spaß macht!” murmelte Charlo seelenruhig in den Apparat und hängte ab.

Constanze war auf einem ihrer einsamen Parkspaziergänge; Cäcilie noch in ihrem Laboratorium. So fingerübte Charlo unverdrossen weiter. Jetzt klopfte es von oben gegen die Decke. Frau Stuhlreittner! Charlo ließ sich nicht stören. Frau Stuhlreittner ließ ihren Sechs-Röhren-Empfänger mit höchster Lautstärke Blechmusik dagegen blasen — und da Charlo mit Vehemenz weiter übte, gab das einen chaotischen Höllenlärm, der gewöhnlich erst ein Ende nahm, wenn Herr Konditoreibesitzer Senkbley drohte, die Polizei herbeizuholen, da dieser ruhestörende Lärm bis in die Räume seiner Konditorei hineinschallte, die sich im Erdgeschoß des Hauses Salzburgerstraße 10 befand.

Da hörte Charlo endlich auf. Sie nannte solch fingerübendes Toben „Rache am Schicksal nehmen”. Und sie nahm diese Rache, wenn sie mit ihrem Schicksal unzufrieden war.

Charlo liebte Stefan. Doch die Neujahrsnacht hatte ihr nicht Stefans Liebe offenbart, obwohl sie die Offenbarung aus ihm herauslocken wollte. Sie wußte eines seitdem ganz genau —: Stefan liebt Constanze. Deswegen hatte sie sich ganz bewußt den Schwips angetrunken. Um Dinge sagen zu dürfen, die sie im nüchternen Zustand nicht über die Lippen gebracht hätte.

Charlo war ein auffallend hübsches Geschöpf. Von eleganter Figur: schlank und mit lieblichen Rundungen; ihr etwas zu großer Mund wäre auch ohne Benutzung des Lippenstiftes verlockend genug gewesen; die in dünner Linie hochgezogenen Brauen überwölbten zwei dunkle Augen, deren schwarze Iris sich nur um eine lichtere Nuance von der dunklen Pupille abhob. Die langen Wimpern waren nach oben gebogen. In genialer Wildheit umwuschelte das zigeunerschwarze Haar die klare kluge Stirn. Die Läppchen der wohlgeformten Ohren waren mit zwei roten Korallen durchgeknöpft. Dazu zwei Hände, die mit ihren rosenrot polierten Fingernägeln eine Zauberwelt in Tönen entfesseln konnten. Wenn sie im Saal der Hochschule ein Konzert gab, dann hieß es in allen Klavierklassen und auch bei denen, die andere Instrumente erlernten: „Die Wildhofer spielt. Das ist zwanzig Pfennig wert.” Der Saal war immer überfüllt, wenn sie — gewöhnlich zusammen mit dem noch vollendeter spielenden Mirko Machaczek — ein Schülerkonzert gab. Bald würde sie ihr erstes öffentliches Konzert geben; Dämpfinger sagte kürzlich: „Wozu brauchen Sie noch die Abschlußprüfung zu machen, Wildhofer? Sie und der Mirko sind fertig.”

Ja — sie und der Mirko waren auch miteinander fertig. Charlo ließ die manikürten Hände in den Schoß sinken und kreiselte einmal auf dem Klavierstuhl rundherum. Sie schaute verbissen sinnend in den engen Hof hinaus, gegen die Fensterfronten der Vorderhäuser, die hier in einem Karree zusammenstießen. Kahl wie der alte Kastanienbaum, der aus der Hofmitte bis zum vierten Stock emporwuchs (die „Cicaden” wohnten im dritten), und ebenso von Winterstürmen gezaust sah ihre Seele aus. Mirko, ja, der hätte sie gern für immer an sich gerissen und nicht mehr losgelassen so wie in dem kleinen Tanzlokal, das sie zum Schluß am Neujahrsmorgen aufsuchten — in der „Lagune”, einer Künstlerschänke geradeüber vom Schöneberger Rathaus.

Die Ohrfeige aber, die Mirko von ihr erhielt, hatte gesessen. In der Minute war Charlo noch einmal ganz nüchtern gewesen. Am liebsten hätte sie ja Stefan auch eine Watschen verabreicht, weil er über das freche Zudringlichwerden Mirkos laut lachte, anstatt — eifersüchtig herbeizuspringen und an ihrer Stelle die Exekution vorzunehmen.

Mirko hatte daraufhin Hut und Mantel vom Garderobenständer gerissen und war mit unheildrohender Miene grußlos davongestürzt. „Der gibt’s dir zurück, Charlo,” hatte Sabine Wendt, die kleine Cellistin, ihr zugeflüstert. Aber Charlo hatte nur die Achseln gezuckt: Was ging sie Mirko an? — Stefan!

„Stefan —” flüsterte Charlo in die Abenddämmerung. So zärtlich, wie es ihr keiner zugetraut hätte.

Große Flocken kamen vom Himmel und überschütteten auch den Hinterhaushof, in den Charlo sinnend hinausschaute, mit einem besänftigenden Silberglanz.

„Constanze weiß ja gar nicht, was Liebe ist —” flüsterte Charlo vor sich hin. „Vielleicht aber lieben das gerade solche Männer wie Stefan.”

In diesem Augenblick rief Stefan Klodwig an: „Wo ist Constanze?” Natürlich — die erste Frage: wo ist Constanze?

„Stanzi geht spazieren im Park. Sicher hängt sie einer stillen Liebe nach.”

„Charlo, sei doch nicht gehässig. Habt ihr euch gezankt?” fragte Stefan besorgt. Natürlich war er nur um Constanze besorgt.

Charlo lachte. Ihr Lachen hatte viel Musik in sich wie alles an ihr Musik war: der Schritt, die Gesten, die Sprache. Ihre dunkle Stimme flog Stefan wie ein seltsamer Nachtfalter durchs Telefon an: „Aber keine Spur, lieber Stefan! Stanzi und ich zanken? Kommt gar nicht in Frage!”

„Also, Kinder, hört,” ließ sich der angehende Musikdozent von drüben vernehmen, Charlo sah ordentlich, wie er bei diesen Worten die Brille zurechtrückte und mit einer gewissen verlegenen Gebärde über seinen schon etwas sich lichtenden Scheitel fuhr, „wißt ihr, was passiert ist?”

„Nun, lieber Stefan —?”

„Die Spanier sind aus meinem Haus ausgezogen.”

„Die Spanier? Hurrah für dich, Stefan! Da brauchst du dir endlich nicht mehr alltäglich zur Nachmittagsschlummerstunde das disharmonische Harmonikagedudel anzuhören, das der Sprößling dieser ehrenwerten Torerofamilie vollführte. — Der Vater war kein Torero? Ganz gewöhnlicher Geschäftsreisender? Na, aber mit seinem Musterkoffer schritt er die Treppe immer hinab wie ein Torero in die Arena. Also — die sind fort. Ich gratuliere.”

„Und das muß gefeiert werden. Ich lade euch demzufolge huldvollst zu einer Tasse Kaffee ein. Kuchen bringt bitte von euerm Senkbley mit. Constanze hat ja da bei dem Bäckergesellen einen Stein im Brett. Der sucht ihr dann die schönsten Stücke aus. Ich bezahl ihn natürlich —”

„Den Bäckergesellen?”

„Den Kuchen!”

„Ach ich dachte den Bäckergesellen, damit er weiter der süßen Constanze Äugelchen macht.” Charlo biß sich auf die Lippen. Das hätte sie nicht sagen sollen. Es kam gereizter heraus als beabsichtigt. Bums — Stefan hat es auch richtig gemerkt:

„Du bist ungerecht gegen Constanze. Im übrigen —: Constanze ist nicht nur das zuckersüße Puttchen, als das du sie hinzustellen beliebst.”

„Woher die Wissenschaft?”

„Ich weiß es. Auch — ohne — Wissenschaft. Aber nun verdirb mir nicht die Freude, Charlo. Du kommst?”

„Natürlich, lieber Stefan.”

„Und sagst es Constanze?”

„Mit feierlichster Musikbegleitung. Was soll ich dazu spielen, wenn ich’s ihr verkünde: „Ich trage meine Minne voll Wonne stumm.... Oder: Ach, ihres Auges Zauberblick —”

„Das wirst du nicht tun, Charlo. Versprich mir’s!” Stefan wurde sehr ernst.

„Huch, wie offiziell! Gern, lieber Stefan. Ich gehorche dir immer aufs Wort. Das weißt du. Adjüs!”

„Auf Wiedersehen!”

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