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XI
ОглавлениеBei blitzender Mittagsonne im Bergwaldwinter — da wird die Lebensfreude übermächtig. Aus Myriaden Schneekristallen blinkt regenbogenfarben das in blendenden Strömen herabflutende Licht. Sonne — Schnee — Tannengrün und Himmelblau, dieser Vierklang der Natur durchdrang die Seele! Ach, wohin der Blick sich wendete: empor — hinab — seitwärts und rundum, rings weitete sich ein einziges Meer der Glückvergessenheit.
Das war ein Tag für eine Schneeballschlacht! Constanze schlug sie beim Mittagessen vor und befahl Dr. Katull, die ganze Jugend von Gut Wasungen und vom Saalwiesenhof zu alarmieren. Natürlich müßten auch die Großen mit. „Auch du, lieber Seppl!”
„Klar wie Kloßbrühe —” verfiel Seppl in seinen alten Husarenjargon und da wußte Constanze, die Schlacht hatte ihren Feldherrn.
Dr. Katull — ja, was tat ein Doktor auf dem kleinen Gut? Schwerlich brauchte Herr Dornbühl für die hundertfünfzig Morgen, die das Restgütchen eines ehemaligen Dominiums noch umfaßte, einen Verwalter. Nun, Dr. Katull war so etwas wie ein verkrachtes Genie. Er war Dramaturg am Altenburger Theater gewesen; als Dornbühl verabschiedet wurde, ging er auch. Er sagte: „Herr Intendant, ich bin im Leben schwerlich zu etwas Rechtem zu brauchen! Aber wenn Sie mich brauchen können, hoffe ich nicht unangenehm aufzufallen.” Und Dornbühl sagte einfach: „Kommen Sie nach Wasungen mit. Sie können alles das erledigen, wozu ich keine Lust habe. Arbeitsteilung auf Gegenseitigkeit. Im übrigen haben Sie die Pflicht, mich geistig im Kontakt mit der Welt draußen zu halten; also sorgen Sie stets für Lektüre, Sie wissen ja, was ich liebe, für gelegentliche Reisen, die nach Ihrer Meinung notwendig sind. Außerdem können Sie dem Sepp Dorn bei seinen Romanen helfen.”
Das ungefähr waren und blieben die Funktionen Dr. Katulls, seit er in Wasungen — es sind jetzt schon viele Jahre — wirkte. Constanze kannte ihn von frühesten Kindertagen; er hatte sie damals immer huckepack reiten lassen.
Wenn dies nun nicht mehr möglich war, so tat er dennoch gern etwas Constanzen zuliebe. Sein Gesicht war von einer merkwürdigen Eckigkeit. Selbst die Brauen über den zwinkrigen Augen von unbestimmbarer Farbe waren eckig. Und seine Nase saß in haarscharfer Linie auf der Wangenbasis seines kantigen Gesichtes, meinte einmal Constanzes Vater, wie im Pythagoreischen Lehrsatz ein rechtwinkliges Dreieck auf der Hypothenuse. Und tatsächlich war die Mathematik Dr. Katulls einzige Leidenschaft: wäre er im Grunde nicht so bequem gewesen, hätte er es in der nur aus Liebhaberei betriebenen Wissenschaft leicht zum Professor gebracht. Aber in Katull blieb zeitlebens etwas Lausbubenhaftes, obwohl er nun bald vierzig Jahre zählte.
Das wurde eine Schneeballschlacht! Die Saalwiesen bei Wasungen waren um eine Sage reicher. Von dieser Schneeballerei werden die Jungen und Mädels noch nach Jahren erzählen.
Wißt ihr noch, wie Fräulein Constanze plötzlich „Seppl, hierher!” rief und ihr Vater herbeieilte und beide zusammen dem etwas unbeholfenen Herrn aus der Stadt befahlen: „Brille abnehmen!” und ihn dann nach Strich und Faden einseiften, bis er keine Luft bekam?
Und das Gleiche tat der „Doktor”, der Kandideldull”, wie ihn die Gutskinder frech riefen, mit dem so furchtbar feinen Fräulein aus der Stadt! Constanze hatte Charlo noch zuguterletzt gewarnt, als diese schon den Lippenstift in die Hand nahm: „Schmink dich nicht, heute werden dir natürliche Farben eingerieben.”
Stefan ließ sich die Einreibung gern gefallen. Constanzes Hände, wenn sie noch so derb und kalt zufaßten, spürte er immer wie ein Streicheln.
Als ihn dann Constanze voller Übermut zur Zielscheibe erkor, hielt er willig sein kurzsichtig blinzelndes Gesicht hin und ließ darin unter drolligen Grimassen die Schneebälle zersprühen —: wenn es dir nur Spaß macht, Stanzerl! dachte er beglückt.
Im Gutshaus wieder heimgekehrt — o wie mundete heute so ganz anders das Abendbrot als in den möblierten Großstadtzimmern. Seppl hatte die „Klause” geöffnet, sein Romanschreibezimmer, dessen Wände voller seltsamer Bilder und Reiseandenken hingen, und darin den Tisch decken lassen. Ein dicker roter Teppich verschluckte jeden Schritt.
Kerzen in kunstgeschmiedeten gußeisernen Leuchtern gaben dem Raum das warme Licht. Auf der Tafel prangten die Labsale des Thüringer Landes: fettriefende Bratwürste, auf dem Rost gebraten, schneeballrunde Klöße und dampfender Rotkohl fürs erste! Dazu Jenaer Bier.
„Setzt Euch, Kinder!” sagte Seppl gemütlich. Und als er dann die Tafelrunde nach „wohlbekommener Atzung”, wie er sich ausdrückte, aufhob, da saß man hinterher noch lange gemütlich im Jagdzimmer mit den vielen Hirsch- und Rehgeweihen an den Wänden um den großen runden Rauchtisch, in den zwölf Aschenbecher eingeschnitzt waren, und Dr. Katull mußte, von Charlo als „Laternenträgerin” wichtig begleitet (der Doktor hatte sie darum gebeten), den alten feurigen Burgunder heraufholen, „damit die Herzen umso empfangsbereiter schlagen, wenn das Konzert begänne”, meinte Herr Egbert. Denn mit Musik müsse dieser Abend gekrönt werden.
Es kam der Wein. Dr. Katull goß ihn mit der schneidigen Feierlichkeit eines „bemoosten Hauptes” ein. Und mit dem Wein begann die Musik alle Herzen in eine selige Entrückung hinüberzuwiegen.
„Spielt Schubert, Kinder,” hatte Egbert Dornbühl gebeten und sein weises Lächeln gelächelt, in dem so viel Verzicht verborgen war, „spielt Schubert erst und dann zum Schluß Mozart. Beethoven — nein, nicht heute. Das war einmal für mich. Vorbei.”
Stefan spielte den Moment musical in F-moll. Egbert Dornbühl nickte ein paar Mal wohlgefällig, als ihn die leichtbeschwingten Rhythmen anwehten.
Dann Charlo. Sie gab mit vollen Händen. Und diese Hände zersprengten die Wände und öffneten den Himmel. Sie entlockte dem gewiß herrlich klingenden Bechsteinflügel, der mitten im rundgebauten Musikzimmer wie in einem blauen Tempel stand, den ersten Satz der „Unvollendeten” mit wahrhafter Meisterschaft; man glaubte aus dem spröden Instrument, das solch Klavier im Grunde ist, Geigen und Flöten herauszuhören.
Egbert Dornbühl erhob sich und ging Charlo entgegen, als sie geendet hatte. „Sie haben diesem Raum heute eine Weihe gegeben,” flüsterte er bewegt, „ich danke Ihnen,” und drückte fest ihre vom Spiel noch leicht bebende Hand.
Wie sollte Constanze nach solcher Bravourleistung bestehen?
Aber sie bestand. Denn sie spielte Vaters Lieblingsstück, das Rondo in D-dur von Mozart. „Das geht mir immer wie Sekt ins alte Blut!” sagte er leise zu Charlo, die nun an seiner Seite saß. Und nach einer Weile, als das Rondo immer seliger zu tanzen und zu tirilieren begann, sagte er mit Andacht: „Mozart — wo gibt es in der Welt so viel Heiterkeit wie in seiner Musik?”
Constanze endete mit sicher und fest gegriffenen Akkorden. „Bravo, Mädel!” sagte der Vater. Stefan klatschte Beifall. Und alle stimmten ein.
Ja, das wäre wieder einmal gut gegangen, dachte Constanze. Aber sie blieb selbstkritisch genug, um bei sich den Unterschied festzustellen zwischen dem meisterlichen Spiel Charlos, dem vortrefflichen Stefans und ihrem „gerade so ganz gut gekonnten”.
Dennoch verdroß sie diese insgeheime Feststellung keineswegs. Der Abend wurde immer gemütlicher. Charlo wurde neugierig und wollte Einblick in Sepp Dorns Romanwerkstatt haben. Sie gingen in die Klause zurück. Charlo schwärmte von den Romanen, die Egbert Dornbühl unter dem Pseudonym Sepp Dorn in seinen Mußestunden schrieb. Herr Dornbühl wehrte ab: „Was soll ich sonst tun? Man spürt ein wenig noch dem Leben nach, ehe es vorbei ist —”