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- KAPITEL 8 -

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München, Juli 2002

Es war ein wunderschöner Julimontag. Weiß-blauer Himmel, grüne Wiesen, ein Meer von Blumen und fröhliche Menschen in farbenfrohen Sommerkleidern. Eine grau schillernde Taube mit grünen Streifen an den Flügeln saß auf dem Wipfel einer Birke und gurrte aufgeregt. Sie ärgerte sich wohl über ihre Einsamkeit und suchte nach Freunden. Nach jedem Gurren drehte sie ihren Kopf nach hinten und dann wieder nach vorne wie ein Uhu, ohne den Körper zu bewegen. Mit weit gestellten Pupillen suchte sie die Umgebung wie ein militärisches Radar, das die Ferne nach feindlichen Kriegsschiffen oder Flugzeugen durchkämmte.

Die Praxis war an diesem Montag ungewöhnlich voll. Emin hatte zwar montags immer viel zu tun, aber heute… Alle Stühle im Wartezimmer waren besetzt, so dass die Patienten nicht nur vor der Rezeption, sondern auch im Treppenhaus herumstanden. Der durch Gespräche entstandene Lärm erreichte Werte, als würden alle Patienten gleichzeitig reden.

Er konnte es nicht nachvollziehen, weswegen der Montag immer so stressig war. Kaum ging das Wochenende zu Ende, so erkrankten die Leute und mussten sofort zum Arzt rennen. Was steckte hinter den Wochenenderkrankungen? Aßen die Leute am Wochenende übermäßig viel, so dass sie sich den Magen verdarben? Oder zogen sie sich abends zu leicht an und erkälteten sie sich? Oder hatten sie sich körperlich mehr angestrengt, so dass sie starke Rückenschmerzen oder Muskelkater bekamen? Gefeiert, lange Fernsehen geschaut, sich gesonnt, gewandert …? Was steckte hinter einem solch stressigen Montag?

Er hasste, sicherlich genauso wie viele andere, den Montag wie die Pest. Schon am Sonntagabend merkte er die innere Unruhe, so dass er hin und wieder sogar von Albträumen gequält wurde. An den meisten Montagen kam er nicht einmal dazu, seine teure Kaffeemaschine einzuschalten und ein Tässchen seines Lieblingsgetränkes zu genießen.

Gegen 11.30 Uhr fragte er seine Helferin Necla, die mit ihren hervortretenden Augen stets erschrocken wirkte, ob er eine kleine Kaffeepause einlegen könnte, da er an Kopfschmerzen litt.

„Draußen sind noch mindestens dreißig Patienten“, antwortete sie resigniert. „Auch wir sind völlig erschöpft und können nicht mehr.“

„Ich verstehe es wirklich nicht. Was ist denn los heute?“

„Du bist halt sehr beliebt“, scherzte sie.

„Wir bräuchten hier dringend ein Schaufenster“, antwortete er daraufhin.

„Schaufenster? Das verstehe ich nicht.“ Neclas Augen wurden größer.

„Ich stelle mich hinein und die Leute bewundern mich einfach im Schaufenster. Dadurch bräuchten wir nicht mehr zu arbeiten“, schmunzelte er.

„Hahaha, sehr lustig“, bemerkte sie und verließ mit schnellen Schritten das Zimmer.

Ein Dorfbewohner ging zum ersten Mal in die Stadt und sah dort einen Trauerzug. Vorne lief ein Mann mit einem angeleinten Pitbull. Es folgten dann zwei von Männern getragene Särge und dahinter eine ziemlich lange nur aus Männern bestehende Schlange.

Dieser ungewöhnliche Trauerzug erweckte die Neugier des Dorfbewohners. Er fragte den Mann mit dem Pitbull, nachdem er sein Beileid ausgesprochen hatte:

Sind die Verstorbenen in den Särgen deine Verwandten?“

Ja“, antwortete der Mann gleichgültig.

Wer sind sie?“

In einem Sarg liegt meine Frau und in dem anderen meine Schwiegermutter“, antwortete der Mann, immer noch mit einer gleichgültigen Stimme.

Merkwürdig“, gab der Dorfbewohner zu und fragte weiter: „Sind beide Damen gleichzeitig gestorben?“

Ja.“

Wie kam es denn zu diesem ungewöhnlichen Vorfall?“, wollte der Dorfbewohner wissen.

Der Mann, der den Trauerzug führte, deutete auf den Hund und sagte:

Dieser Pitt Bull hat beide umgebracht.“

Der Dorfbewohner überlegte kurz und stellte dem Mann noch eine Frage:

Kannst du mir bitte deinen Hund mal ausleihen?“

Der Mann zeigte mit dem Daumen nach hinten und antwortete:

Stell dich auch hinten an!

Emin lachte aus Höflichkeit über den Witz, den sein Patient Selcuk Denizli gerade erzählt hatte. Selcuk Denizli war bereits seit über einem Jahr arbeitslos und beschäftigte sich inzwischen nur noch mit Witzen. Er erzählte bei jeder Gelegenheit und überall liebend gerne Witze. Er war in allen Teehäusern aufgrund seines fröhlichen Auftretens und der professionellen Unterhaltung ziemlich beliebt. Seine Freunde veranstalteten des Öfteren Abende, in denen er sie als Hauptfigur unterhielt und zum Lachen beachte. Der Name Selcuk bedeutete für Emin allerdings rotes Tuch. Er kam stets ausgerechnet an den Tagen, an denen Emin nicht einmal Zeit zum Luftholen hatte. Hinzu kam, dass Selcuk schlimmer als Teer an einem klebte, wenn er mit einem Witz angefangen hatte. Er ließ sich Tausende von Spitzfindigkeiten einfallen, bis er diesen doch noch zu Ende erzählt hatte.

„Noch einen Witz“, fragte er voller Freude Emin.

„Nein, Selcuk, bitte… Du siehst, wie gestresst ich bin. Tue mir bitte den Gefallen und sage mir, wo der Schuh drückt. Aber bitte ohne Witze.“

„Lass doch die Leute warten. Du machst dir selbst den Stress. Wenn du langsamer und gemütlicher arbeiten würdest, müssten die Leute wesentlich länger warten und viele von ihnen würden dann weggehen. Und so könntest du aufatmen und hättest für dich mehr Zeit“, antwortete Selcuk völlig gelassen.

„Oh, Gott. Das sagt der richtige“, dachte Emin. „Nun, was kann ich für dich tun, Selcuk?“, fragte er ihn.

Selcuk hustete zweimal demonstrativ und putzte die Nase. „Ich habe Schnupfen, Kopf- und Gliederschmerzen. Ich glaube, ich habe mich erkältet.“ Er beherrschte eben auch die Schauspielkunst gut. Als er das Untersuchungszimmer verließ, strahlte Emin glücklich und zufrieden.

„Herr Tayfun Tatlidil ist an der Rezeption und klagt über starke Schmerzen“, flüsterte Necla in Emins Ohr, als er die Wirbelsäule einer jungen Patientin wegen morgendlich auftretenden Schmerzen untersuchte.

„Wer?“, fragte er nach.

„Herr Tayfun Tatlidil“, wiederholte sie.

„Wer ist denn das? Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor. Ich kann ihn aber nicht richtig einordnen“, antwortete Emin und grübelte über den Namen nach.

„Das ist doch der Patient mit den Gallensteinen, der Angst vor der OP hatte.“

„Ach ja, genau. Jetzt erinnere ich mich. Er war zwei Mal da.“

„Stimmt! Was soll ich mit ihm machen?“

„Ist das Behandlungszimmer eins frei?“

„Nein.“

„Zimmer zwei?“

„Alle Zimmer sind belegt, ohne Ausnahme.“

„Dann nimm ihn bitte ins Labor und bereite eine Infusion vor. Dann können wir ihm die Mittel intravenös geben. Ich bin gleich da.“

Als Emin ins Labor kam, sah er, dass Tayfun nach vorne gebeugt auf der Liege saß. Seine zusammengefalteten Hände ruhten auf dem Oberbauch. Er hatte eine ungesunde, kreidebleiche Gesichtsfarbe und schwitzte.

„Mir ist so übel. Ich glaube, ich muss wieder kotzen. Aber diese Schmerzen. Ich sterbe“, klagte er zusammengekrümmt.

„Du hast Gallenkoliken, mein Lieber. Auch wenn du es nicht wahrhaben willst, musst du doch operiert werden“, erläuterte Emin.

„Du hast leicht reden. Gib mir bitte irgendwas, damit diese Schmerzen weg sind. Beeil dich bitte. Ich bin jetzt schon tot“, stöhnte Tayfun weiter.

„Du kriegst von mir ein starkes Schmerzmittel über eine Infusion. Es wirkt dann viel schneller und danach schicke ich dich ins Krankenhaus.“

„Die Schmerzen nehmen jetzt wieder zu. Beeil dich bitte. Schnell.“

Emin legte ihm eine Infusionsnadel über dem Handrücken an, befestigte sie mit einem Pflaster und schloss den Infusionsschlauch an. Er spritzte ein Schmerzmittel in die Plastikflasche und ließ die Infusion etwas schneller laufen. Von Minute zu Minute fühlte sich Tayfun wohler. Er sah nicht mehr blass aus und bekam langsam die normale Gesichtsfarbe.

Nachdem die Infusion durchgelaufen war und Tayfun keine Schmerzen mehr hatte, setzte sich Emin ihm gegenüber und erklärte erneut, dass die beste Therapie für Gallensteine die Operation sei und dass er ihn deswegen ins Krankenhaus einweisen müsse.

„In welche Klinik schickst du mich?“, wollte Tayfun wissen.

„Ich kann dich in jede Klinik in München schicken. An Kliniken mangelt es in München, Gott sein Dank, nicht. Das ist das kleinste Problem“, erklärte er.

„Du hast mir das letzte Mal von einer Operationsmethode erzählt mit 2-3 kleinen Schnitten.“

„Das stimmt“, bestätigte er. „Wir reden von der MIC, und das bedeutet Minimalinvasive Chirurgie.“

Dabei betonte er jeweils den ersten Buchstaben zur Erläuterung, wie sich der Name MIC zusammensetzte. Tayfun informierte sich über die Kliniken, die nach dieser Methode operierten und entschied sich dann für das Klinikum München Mitte am Isartorplatz, da es nicht nur relativ nah zu seinem Wohnort lag, sondern auch ziemlich modern aussah.

Zwei Trambahnen derselben Linie fuhren dicht hintereinander. Sicherlich gab es wieder einmal Verspätungen. Ihre Räder quietschten lauter als üblich, als hätte man auf die Gleise Sand gestreut. Die Trambahnfahrer klingelten in einem bestimmten Rhythmus, als begleiteten sie eine Melodie auf einer Festveranstaltung.

Normalerweise störte dieses Gequietsche und Gebimmel Emin immens. Er bekam oft Wutausbrüche. Aber nun, nachdem er die Arbeit dieses schrecklichen Montags erledigt hatte, ließ er von nichts stören. Er schloss die Augen und schlürfte langsam seinen Kaffee, als würde er eben in einem noblen Lokal einen guten Rotwein kosten.

Schatten der Wahrheit

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