Читать книгу Schatten der Wahrheit - Ali Erbas - Страница 4
- KAPITEL 1 -
ОглавлениеIskenderun (Türkei), April 1979
„Nein, nein, nein… Ich werde nicht weinen!“, sagte er mit einer nur für ihn hörbaren Stimme, als würde er Selbstgespräche führen. Gelegentlich hielt er aber auch inne, so dass kein Ton aus seinem kleinen Munde herauskam. Seine Zunge bewegte sich jedoch immer wieder, auch wenn er seine Lippen stillhielt.
Aus seinem Gehirn schossen wie wild Befehle zu seinen Tränendrüsen, dass sie ohne Wenn und Aber trocken zu bleiben haben.
Der zwölf Jahre alte Emin-Can Kayahan, hockte in der Ecke des ca. 20 qm großen Zimmers und kämpfte mit sich, um nicht zu weinen. Seine Unterarme umklammerten die angewinkelten Knie und stützten dabei den Kopf mit den kurz geschnittenen Haaren. Die Beine zitterten unter dem Gewicht des Kopfes, als bestünde er aus purem Eisen.
Die durch das Fenster im Raum hinein dringenden Sonnenstrahlen schienen genau auf den Kopf, so dass seine hellen Haare noch heller aussahen.
Er wagte nicht, die Augen zu öffnen. Die Furcht, er könnte doch noch weinen, bereitete ihm großes Unbehagen. Er wollte nicht mal für eine Millisekunde die Umgebung wahrnehmen. Daher schloss er die Augenlider immer fester und immer fester, bis sie schmerzten.
Angst lag bereits von der Geburt an in seiner Natur. Er stritt seine Ängstlichkeit niemals ab und gab es offen zu. In Momenten, in denen er jedes Leid zu überwinden hatte, entwickelte er allerdings ungeheure Kräfte, so dass er nicht nur seine Gefühle, sondern auch seinen Körper völlig in Griff bekommen konnte. Weinen bedeutete für ihn nichts Anderes als Schwäche, Ratlosigkeit, Resignation. Das Geheul und Gekreische seiner Mutter und der beiden Schwestern ärgerten ihn bereits seit Morgenstunden. Er spürte wie ihre Laute in seinem Gehirn hämmerten und in seinem Gehörgang scheuerten, als bestünden sie nicht aus irgendwelchen physikalischen Wellen, sondern aus grobem Sandpapier, das hin und her geschoben wurde.
Dass das Weinen nur ein Begleitphänomen für Trauer oder aber für Freude darstellte, wusste Emin bereits seit der ersten Schulklasse. Damals starben seine Großmutter und die ganze Verwandtschaft weinte tagelang. Was hatte es gebracht? Nichts. Gar nichts. Die Oma kam nicht zurück.
Also, wozu denn weinen, fragte er sich immer wieder, wenn es ehe nichts bringt? Mit Weinen konnte man nichts erreichen. Das galt für seine Mutter, für seine Schwestern und ohne Ausnahme für alle Menschen. Daher fragte er sich, wie es wohl wäre, wenn seine Mutter und seine beiden Schwestern mit dem ganzen Geheul aufhören würden? Gab es eine bessere Lösung? „Nein“, flüsterte er.
Wie sollte er allerdings seine Mutter, die am lautesten weinte und ihre Hände wie ein Trauerweib in regelmäßigen Rhythmen auf das Gesicht schlug, zum Schweigen bringen? Und auch noch seine beiden Schwestern? Durfte er einfach aufstehen und mit einer harschen Stimme allen den Befehl erteilen, nicht mehr zu weinen? „Nein“, flüsterte er ebenfalls mit einer nicht hörbaren Stimme.
Er hob seinen Kopf hoch und wagte nun doch noch einen verstohlenen Blick in Richtung seines Vaters.
Der Vater, einst der stärkste Ringer des Dorfes, der nie einen Kampf verloren hatte und deswegen den Namen Der Sieger bekam, lag bereits seit mehr als drei Stunden im Bett und kämpfte mit dem Tod. Aus seinem weit offenen Mund kamen röchelnde Atemgeräusche, als würde jemand ihm die Kehle zudrücken.
Emin erkannte ein paar von Karies zersetzte Zähne am Oberkiefer. Die halb geschlossenen Augen zeigten einen dezenten Streifen der honiggelben Skleren, die in der Mitte in einen bräunlich-grünen Bogen der Iris übergingen. Die Wangen wiesen tiefe Gruben und ließen die Backenknochen deutlich hervortreten. Der einstig unschlagbare Ringer Hasan Kayahan bestand nun nur noch aus Haut und Knochen.
In dem Moment, als Emin die Augen wieder schließen wollte, wurde sein Vater erneut von einem kräftigen Schüttelfrost erfasst. Das ganze Bett bebte. Sein Körper verkrampfte sich. Der Oberkiefer ging auf und zu und klopfte wie ein Hammer regelmäßig auf die Unterlippe, die sich in den Mund hinein stülpte und blutete.
Die Mutter, die vom ständigen Schreien und Weinen inzwischen heiser war, schlug kräftiger auf ihr Gesicht. Es hat sich von den ganzen Schlägen dunkel rot verfärbt und zeigte stellenweise bläuliche Flecken. „Gott, hilf uns bitte! Gott, bitte… Bitte…!“ krächzte sie immer wieder zwischen ihrem Schluchzen.
Emin blickte vorwurfsvoll auf seine Mutter. „Wie kann man so viel weinen?“, ging ihm durch den Kopf. Prompt kam ihm irgendwoher die Antwort: „Weiber!“
Der Vater zitterte immer noch. Der Anfall hatte jetzt seinen Gipfel erreicht. Emin konnte das Beben des Bettes sogar bis in die Ecke spüren. Der Boden leitete es weiter.
„Ein Erdbeben müsste sich genauso fühlen. Vielleicht etwas stärker“ dachte Emin. Seine Blicke blieben während der gesamten Schüttelattacke auf seinem Vater haften. Mit müden Augen beobachtete er, wie ein neuer Krampf ihn vereinnahmte. Sein Körper bildete einen leichten Bogen wie eine Brücke. Der Kopf und die Füße berührten die mit getrocknetem Heu gefüllte Matratze. Die oberste Decke mit Blumenmuster wanderte mit dem Körper zusammen ebenfalls nach oben und rutschte zur Seite. Sie fiel geräuschlos auf den Boden.
Emin wartete einige Sekunden. Er stand auf und hob sie auf. Er legte sie auf die anderen Decken. Nun konnte er direkt auf das Gesicht seines Vaters schauen. Er sah wie Speichel ihm seitlich am Mund auf das Kissen rann.
Als er sich wieder hinsetzen wollte, begann sein Vater zu husten. Dieses neue Symptom veranlasste ihn, sich umzudrehen. Der Husten nahm an Intensität zu. Emin sah, wie mit jedem Husten Bluttropfen aus seinem Mund herausspritzten. Sie landeten auf der Decke, die er eben aufgehoben hatte, und wurden schnell abgesaugt, so dass sie dann nur noch aus einem roten Fleck bestanden.
Die Mutter hörte nun auf zu weinen. Ihre geröteten Augen ohne jeden Glanz ähnelten einem verwelkten Apfel. Leblos und matt. Mit einer für ihren Körper überraschend flinken Bewegung packte sie ihr Kopftuch, riss es herunter und sprang zu ihrem Mann. Sie presste das mit Pailletten gestickte Tuch sanft auf seinen Mund und fing die herumspritzenden Bluttropfen auf.
Nach einigen Minuten ging der Husten zurück und mit ihm sowohl der Krampf als auch der Schüttelfrost.
Emin, seine Mutter und die beiden Schwestern standen nun nebeneinander und schauten ängstlich auf den Körper, der reglos im Bett lag. Er atmete. Die Spannung auf ihren Gesichtern lockerte sich. Ein röchelndes „mir geht es besser“ brachte sie zu einem schwachen Lächeln.
Der Vater schlug seine Augen auf und betrachtete mit müden Augen seine Familie. Das Lächeln auf den Lippen war kaum wahrnehmbar. Er schlug seine Lider ein paar Male auf, um anzudeuten, dass er sein Bewusstsein wiedererlangt hatte.
Als sich die ganze Familie an diesem Tag erschöpft zum Schlafen legte, war es erst kurz nach 21 Uhr. Die Sonne war bereits seit zwei Stunden verschwunden und spendete ihr Licht nur über den hell scheinenden Mond, der wie ein gelber von einem grauen Nebelkreis umgebener Plastikball am Himmel hing.
Durch die offenen Fenster wehte zwar gelegentlich eine Brise frischer Luft. Diese reichte aber nicht aus, das Zimmer auch nur um ein paar Grad zu kühlen. Alle vier schwitzten, auch ohne Decke.
Seit Jahren zum ersten Mal gingen alle vier so früh ins Bett. Sie fühlten sich erschöpft und ausgelaugt. Die Mutter legte sich, wie nach jedem Anfall nicht neben ihren Mann, sondern neben Emin auf den Boden. Das einzige, allerdings auch schon in die Jahre gekommene Bett belegte Emins Vater alleine. Für die anderen dienten einige flach gepresste Sitzkissen als Unterlage.
Die Mutter, Hülya Kayahan, war zwar erst 46, sah aber aufgrund ihres faltenreichen Gesichtes wesentlich älter aus. Zahlreiche graue Strähnen ließen die langen schwarzen Haare stumpf erscheinen. Ihre letzte Behandlung mit Henna lag bereits Monate zurück.
Emin konnte trotz Müdigkeit nicht einschlafen. Er lag rücklings auf den harten Kissen und gähnte ununterbrochen. Mit jedem Gähnen liefen ihm Tränen seitlich von den Augen in die Schläfen. Er ärgerte sich über die Tropfen, die ihm bis in sein Ohr liefen und einen fürchterlichen Juckreiz verursachten.
Beide Hände unter dem Kopf gelegt, betrachtete er die abgeblätterte Decke. Sie hatte eine seltsame Farbe; eine Mischung aus blau, gelb und orange. An den Stellen, an denen der Anstrich fehlte, sah Emin den grauen Beton. Durch die verschiedenen Farben konnte er immer wieder neue Figuren ausfindig machen.
Dort, wo die Decke an der rechten Wand endete, machte er einen Löwenkopf mit wogender Mähne und spitzen Zähnen aus. Gleich daneben entdeckte er eine grau-schwarze Katze und auf ihrem Rücken eine Henne, die ihre Flügel ausbreitete, als wollte sie versuchen, abzuheben. Seine Augen wanderten nach links und er sah einen Haufen von Punkten; kleine, große, runde, viereckige… er versuchte, sie miteinander zu verbinden und neue Figuren zu konstruieren. Er zog verschiedene virtuelle Linien und Bögen zwischen den einzelnen Punkten. Er musste sich konzentrieren. Denn er wollte unbedingt ein Bild von einem Schiff malen. Ein Schiff mit vielen Segeln, die sich von dem starken Wind aufblasen und es so schnell fahren ließen, dass das Wasser in zwei Fontänen hoch spritzte.
Er merkte nicht, wie seine Augen zunehmend kleiner wurden. Die virtuellen Linien, die er mühsam in alle Himmelsrichtungen gezogen und mit denen er die Punkte verbunden hatte, verschwanden langsam und lösten sich im Nebel auf.
Er schlief ein.
Er wusste nicht mehr, wovon er geträumt hatte. Besser gesagt, ob er überhaupt geträumt hatte, als er durch das laute Schreien seiner älteren Schwester Ikbal aufgeweckt wurde.
„Mutter, Mutter, steh auf! Ich glaube, mein Vater atmet nicht mehr!“ Ihre Stimme klang heiser. Sie zitterte.
Ein undeutliches „Wie? Was“ kam aus dem Munde der Mutter, die gerade von ihrer Jugend träumte; wie sie ihren Mann auf dem Feld in Adana beim Baumwollpflücken traf. Sie war damals erst 17 und hatte keine Ahnung von der Liebe. Sie dachte, sie würde aus allen Wolken fallen, als er sie mit seinen bräunlich-grünen Augen betrachtete. Sie waren so sanft, so menschlich und so warm. Seine Blicke erregten bei ihr ein Schwindelgefühl. Sie kam sich vor wie in einem Boot, das von großen Wellen geschaukelt wurde und jederzeit zu kentern drohte. Ein Mann und ein Blick… und sie wusste auf einmal, was Liebe bedeutete. Sie träumte von der Hochzeit; wie sie auf einem schwarzen, mit vielen farbigen Bändern aus Seide geschmückten Pferd in das Haus ihres Mannes kam. Während des ganzen Ritts lief Hasan neben ihr her und hielt ihre Hand. Er schaute immer wieder zu ihr hoch und lächelte, so dass seine schneeweißen Zähne zum Vorschein kamen. Sie spürte, wie sich die wohltuende Wärme seiner Hand ihr Herz erfrischte. Obwohl die Sonne ihre heißesten Strahlen auf sie herunterschickte, war es ihr nicht heiß. Hasans Nähe übertraf die Wirkung der Sonne.
„Mutter! Mutter! Wach doch auf!“ schrie die Schwester mit zunehmender Panik.
Die Mutter machte ihre Augen auf und betrachtete eine Zeitlang ihre Tochter mit verschlafenen Augen, als wollte sie sie fragen: „Wo bin ich denn?“
„Was sagst du?“, krächzte sie dann mühsam. Ihr trockener Hals hinderte sie beim Sprechen.
„Ich glaube, Vater ist tot“, antwortete die Tochter aufgeregt. „Ich glaube, er atmet nicht mehr.“
Hülya richtete sich sofort auf und ging zu ihrem Mann, der zusammen gekrümmt im Bett lag.
Sein Mund und die Augen waren offen. Die Lippen bläulich verfärbt und trocken. Vertrocknete Blutreste bedeckten die Risse. Die Haut sah blass aus, mehr grau als gelb. Auf dem Kopfkissen lagen büschelweise Haare, als hätte er eben mit einer stärkeren Person gekämpft, die sie ihm ausgerissen hatte.
Ein durchdringendes „Neinnnn…!“ erschreckte Emin. Seine weiten Pupillen verengten sich zu einem winzigen schwarzen Punkt. Er suchte an der Decke krampfhaft nach den Figuren und vor allem nach dem Segelschiff, das er sich ausgemalt hatte, bevor er einschlief. Er konnte nichts entdecken. Der Löwenkopf, die Katze, die Henne… Alle Figuren waren plötzlich weg.
„Neeiiinnnn! Bitte Gott, bitte, bitte, nimm ihn uns nicht weg!“ Die Stimme der Mutter war so laut und durchdringend, dass Emins Körper bebte. Ein schauerartiges Frösteln breitete sich helmförmig über seinen Kopf aus; seine kurzen Nackenhaare stellten sich auf. Er hatte das Gefühl zusammenzuschrumpfen. Er versuchte, seine Fingernägel in das harte Sitzkissen hineinzubohren, um dem Zusammenschrumpfen entgegenzuwirken. Ein Druck auf dem Brustkorb hinderte seine Beweglichkeit. Er konnte kaum atmen. Ihn überfiel ein Erstickungsanfall. Sein Herz flatterte wie ein Vogel, der aus seinem Käfig befreit werden wollte. Tränen liefen ihm die Wangen herunter. Er schüttelte seinen Kopf kräftig nach rechts und links, mit der Hoffnung sein Bewusstsein nicht zu verlieren. Er musste seine Kräfte zusammenraffen und aufstehen. Er hob seinen Kopf und legte ihn sofort wieder zurück, denn stechende Schmerzen breiteten sich vom Nacken in den Hinterkopf aus. Ihm wurde übel. Er spürte, wie die Magensäure langsam hochkam und in der Speiseröhre brannte. Er nahm die Lippen zwischen die Zähne und biss fest darauf. Zusätzlich legte er seine linke Hand auf den Mund und verstärkte den Druck mit der anderen. Er wollte vermeiden, dass diese ekelhaft schmeckende Säure aus seinem Munde herausspritzte.
Schwankend stand er auf und rannte zur Toilette. Er übergab sich. Die brennende Salzsäure spürte er nun noch deutlicher. Ekelhaft!
Er hielt seinen Kopf unter den Wasserhahn, aus dem ein dünnes Rinnsal von lauwarmem Wasser herauskam. Er füllte seinen Mund mit Wasser und gurgelte. Der saure Geschmack haftete an der Mundschleimhaut wie Kleister.
Er kam zurück, blieb an der Tür stehen und betrachtete seine Mutter und die ältere Schwester. Inzwischen gesellte sich auch die jüngere Schwester zu ihnen und weinte mit. Alle drei schlugen im selben Rhythmus ihre Hände aufs Gesicht, dann auf den Brustkorb und bewegten dabei ihre Köpfe samt Oberkörper nach vorne, als befanden sie sich im Bann eines Rituals.
Er betrachtete den zusammen gekrümmten Leichnam im Bett und konnte keine Ähnlichkeit mit seinem Vater, dem einst unschlagbaren Ringer, feststellen. Seine Blicke wanderten von dem Leichnam zu den drei Frauen, die unbeirrt im selben Rhythmus weinten. Dann fixierte er erneut den Leichnam.
Auf einmal wusste er, was er später als Erwachsener werden würde.