Читать книгу Schatten der Wahrheit - Ali Erbas - Страница 8
- KAPITEL 5 -
ОглавлениеMünchen, Juni 2002
Bereits kurz nach sechs Uhr wurde es hell und ein wolkenloser Himmel spannte sich über München. Der kühle Wind ließ die Blätter an den Bäumen rascheln. Es hörte sich wie die Hintergrundmusik die Liebesszene einer Oper an.
Zwei junge Frauen mit einem Kurzhaarschnitt standen an der Straßenbahnhaltestelle und fröstelten unentwegt. Sie hatten sich anscheinend von den Sonnenstrahlen mächtig irritieren lassen und zogen ihre Sommersachen an; dünne Blazer, kurzärmlige Blusen, sowie Röcke, die mehr als die Hälfte ihrer Oberschenkel freigaben. Auch wenn sie cool zu wirken versuchten, strahlten ihre Gesichter große Freude, als sie die Straßenbahn erblickten.
Emin schüttelte den Kopf verständnislos und fragte sich, ob die beiden beim Verlassen der Wohnung die Kälte nicht gespürt hatten. Er fröstelte ungewollt und umschlang daher seine Jacke enger um den Körper.
Im Treppenhaus vor der Praxis traf er mehrere Patienten, die auf den Betonstufen saßen und warteten. Manche benutzten Zeitungen als Sitzunterlage. Die Luft roch stark nach abgestandenem Rauch wie in einer billigen Kneipe. Eine dicke Frau mit grauen und fettig glänzenden Haaren saß auf zwei Schaumstoffkissen. Durch die starke Brille sahen ihre Augen winzig aus. Sie röchelte bei jedem Ein- und Ausatmen und hatte eine auffällige rot-blaue Gesichtsfarbe. Neben ihr stand ein Aschenbecher mit mindestens zehn Zigarettenstummeln. Sobald sie Emin wahrnahm, versteckte sie den Aschenbecher hinter ihrem Rücken.
„Guten Morgen!“, sagte er mit einer fröhlichen Stimme. „Geht die Klingel nicht?“
„Sie ist ausgeschaltet. Deine Damen sind aber schon drin. Wir haben mehrmals geklopft und keiner macht die Tür auf“, beschwerte sich die dicke Frau und fuhr nach einer kurzen Atempause fort. „Wir sitzen seit mehreren Stunden hier und frieren uns einen ab!“
„Aber nur die äußeren Schichten. Denn, wie ich sehe und vor allem rieche, hast du dafür deine Lunge bereits überhitzt“, antwortete Emin.
Manche Patienten kicherten und ernteten von ihr nicht nur vernichtende Blicke, sondern auch ausgefallene Bemerkungen. Emin sperrte die Tür auf und bat die Patienten einzutreten. Seine Helferinnen saßen hinter der Rezeption und musterten die Patienten, die eilig hineinströmten. Obwohl Emin immer zuerst diejenigen untersuchte, die einen Termin hatten, wollte jeder als Erster an der Anmeldung sein.
Das schnurlose Telefon auf seinem Schreibtisch klingelte. Auf dem Display sah er, dass der Anruf von der Rezeption kam. Er nahm ab und meldete sich mit „Ja?“
Die Stimme seiner Sprechstundenhelferin Selma Kumru klang müde. Sie hatte ihre Ausbildung bei einem Neurologen absolviert und arbeitete nun seit knapp zehn Jahren bei Emin.
„Sollen wir schon den ersten Patienten ins Sprechzimmer holen?“, fragte sie.
Emin erinnerte sich gleich an den Patienten mit den vermutlichen Gallensteinen und fragte die Sprechstundenhelferin, ob er schon da ist.
„Ja, willst du zuerst mit ihm anfangen? Vielleicht kannst du einige Patienten anschauen, bis wir ihn für Ultraschall vorbereitet haben“, schlug sie vor.
„Nein, nein, fangen wir gleich mit ihm an, bevor er verhungert“, bestimmte er.
Als er allerdings erfuhr, dass das Gerät noch nicht eingeschaltet war, entschied er doch anders und bat seine Helferin den ersten Patienten ins Sprechzimmer 1 zu setzen.
Die erste Patientin ohne Termin war die dicke Frau mit dem Aschenbecher. Sie passte kaum in den Stuhl. Sie war 65 Jahre alt und bot ein halbes Lehrbuch an Erkrankungen an. Eine Musterpatientin für das Sammelsurium an Erkrankungen: Extreme Fettsucht, hoher Blutdruck, insulinpflichtige Zuckerkrankheit mit allen Komplikationen wie zum Beispiel Polyneuropathie, Netzhautveränderungen, Nierenfunktionsstörungen, koronare Herzkrankheit, chronische obstruktive Bronchitis, Erhöhung der Blutfette, Wirbelsäulen- und Kniebeschwerden … nur um einige zu erwähnen. Hinzu kam, dass sie mit zwei, manchmal sogar drei, vier, Päckchen Zigaretten am Tag eine starke Raucherin war. „Das Rauchen aufgeben? Da kann ich nur lachen“, lautete ihr Motto. Sie wollte auch nie den Zusammenhang zwischen ihren Atembeschwerden und dem Rauchen einsehen. Sobald Emin mit dem Wort „Rauchen“ anfing, sprach sie wie ein Tonbandgerät und nannte mehrere Beispiele über Leute aus ihrer Familie, die viel mehr als sie geraucht und trotzdem über 100 Jahre alt geworden sind, ohne einmal krank gewesen zu sein. Eines ihrer Lieblingsbeispiele war ihr zweiter Ehemann. Er starb vor 8 Jahren an Lungenkrebs, ohne jemals eine Zigarette zwischen die Lippen genommen zu haben. Und gerade dieses Beispiel reichte ihr völlig, das Fazit zu ziehen, dass es keinen Zusammenhang zwischen Rauchen und Lungenerkrankungen gab.
„So, mein Sohn Emin, was willst du nun gegen mein Übergewicht und meine Atemnot unternehmen?“ lautete ihre erste Frage wie immer.
„Meine liebe Schwester, meine Antwort ist dieselbe wie vor zwei Jahren oder vor einem Monat oder letzte Woche“, insistierte er. „Auch morgen oder nächstes Jahr oder in zehn Jahren wird meine Antwort nicht anders sein! Wir haben ja gemeinsam dieses Thema schon zum 251. Mal diskutiert.“
„Ich esse aber gar nichts und nehme trotzdem zu“, beklagte sich Ayse Genc mit einer jammernden Stimme.
„Du weißt doch ganz genau, dass es unmöglich ist. Kein Mensch auf dieser Erde nimmt zu, ohne zu essen oder kalorienreiche Getränke zu sich zu nehmen."
„Doch, bei mir ist es der Fall. Ich habe seit über drei Monaten nichts und gar nichts gegessen und habe trotzdem fünf Kilo zugenommen.“
„Ayse Schwester, hör bitte auf damit, ich glaube nicht an Wunder."
„Dann schreib´ mir meine fehlenden Medikamente auf und ich komme nächste Woche wieder. Vielleicht hast du dir bis dahin etwas Besseres einfallen lassen."
Er rief die Medikamentenliste im Computer auf und stellte ihr das entsprechende Rezept aus. Danach bat er seine Helferin Pelin, bei Frau Genc den Blutdruck und den Blutzucker zu messen und ihn über die Ergebnisse zu informieren, während er bei dem Patienten Tayfun Tatlidil die Ultraschalluntersuchung durchführte. Er betrat das verdunkelte Zimmer.
Tayfun Tatlidil lag bereits mit entblößtem Oberkörper auf dem Untersuchungstisch und wartete. Er hatte einen durchtrainierten Körper und einen beispielhaften Waschbrettbauch. Seine beiden Hände lagen unter dem Kopf.
„Guten Morgen, Bruder Tayfun“, grüßte Emin ihn. „Und bist du schon kurz vor dem Verhungern?“
„So schnell geht es bei mir nicht. Beim Militär war ich bei der Kommandoeinheit und wir mussten immer wieder 2-3 Tage ohne Essen und Trinken auskommen“, antwortete Tayfun gelassen.
„Dann schauen wir uns jetzt einmal dein Innenleben an." Er schüttete etwas Gel auf Tayfuns Bauch und verteilte es mit dem Ultraschallkopf.
„Brrrrr…“, jammerte Tayfun sofort, sobald das Gel auf seiner Haut landete.
„Es tut mir leid, aber anders geht es nicht“, entschuldigte sich Emin.
„Das ist das zweite Mal, dass du mich erschrickst“, scherzte Tayfun. „Beim dritten Mal ist dann etwas Besonderes fällig."
„Du kriegst von mir einen Gutschein für eine Portion Dönerkebab ohne Zwiebeln. So nun zu unserer Arbeit. Dieser schwarze Schlauch ist die Hauptschlagader des Bauches. Wir reden von der Bauchaorta." Er zeigte dem Patienten auf dem Monitor die Strukturen, die er darstellte, und erklärte ihm, worum es sich dabei handelte. „Das hier ist der rechte Leberlappen. Und das ist die Gallenblase." Er deutete auf eine schwarze Struktur, die wie ein birnenförmiger Ballon aussah. „Siehst du hier diese kleinen weißen Punkte, die nebeneinanderstehen und mehr oder weniger einen Streifen bilden?“ Er legte die Spitze eines Stiftes auf ein Konglomerat von weißen Punkten in der Gallenblase, unter denen sich ein schwarzer Streifen ausbreitete. „Diese weißen Punkte, die eigentlich wie kleine Hagelkörner ausschauen, sind die Gallensteine, die dir immer wieder Schmerzen verursachen."
„Und meine Nieren? Ich habe immer wieder auch Schmerzen hier in der Nierengegend." Tayfun zeigte auf seine rechte Flanke.
Emin schwenkte den Ultraschallkopf in alle Richtungen und ging den gesamten Bauchraum systematisch durch. „Nein, nein, weder an der rechten, noch an der linken Niere kann ich irgendetwas Krankhaftes erkennen. Bis auf die Gallensteine ist alles bestens. Die Bauchspeicheldrüse, die Leber und, ich sage es noch einmal, beide Nieren sind bestens in Ordnung. Sicherheitshalber möchte ich aber trotzdem den Urin kontrollieren. Dann kann ich dadurch auch eine Entzündung, die ich im Ultraschall nicht sehen kann, feststellen. Weißt du, wo die Toiletten sind?“
„Ja, gleich rechts beim Eingang“, antwortete Tayfun.
„O. K. Ich sage den Damen Bescheid. Und nachdem du Urin abgegeben hast, sehen wir uns wieder und besprechen das weitere Vorgehen.“ Er wies Necla Nareli, seine dritte Helferin, an, bei Tayfun Tatlidil den Urin zu untersuchen und anschließend ihn zur Befundbesprechung in das nächste freiwerdende Zimmer zu setzen. Währenddessen ging er seiner Arbeit nach und untersuchte die Patienten.
Nach etwa zwanzig Minuten spürte er pulsierende Schmerzen an den Schläfen. Seine Konzentration ließ nach. Für ihn hieß es, er benötigte sofort eine Pause. Er ging in sein Zimmer und drückte auf den Knopf für die Zubereitung einer großen Tasse Kaffee. Ihm fiel die deutsche Patientin ein, die aus Holzkirchen kam; und zwar pro Quartal nur ein einziges Mal. Sie vereinbarte nie einen Termin und wartete im Gegensatz zu anderen Patienten geduldig im Wartezimmer. Sie war seit drei Jahren pensioniert und hatte ein rundes freundliches Gesicht. Das häufige Lachen hinterließ feine Falten um ihre schmalen Lippen.
Bei der ersten Vorstellung dachte Emin, dass sie sich bei der Adresse ihres Arztes geirrt hatte. Denn den Hauptanteil seiner Patienten bildeten seine Landsleute. Diejenigen, die zu ihm kamen und keine Landsleute waren, wohnten in unmittelbarer Nähe der Praxis. Nach der zweiten Konsultation wurde seine Neugier größer.
„Frau Schmidt, ich finde es zwar schön und dankenswert, dass Sie den Weg nicht scheuen und aus Holzkirchen zu mir kommen. Mir ist allerdings aufgefallen, dass Sie nur ein einziges Mal im Quartal zu mir kommen, ohne einen Termin zu vereinbaren. Sie lassen sich hier ausgerechnet an den Tagen blicken, an denen die Praxis aus allen Nähten platzt. Darf ich Sie nach dem Grund fragen?"
Frau Schmidt lächelte. Ihre Augen glänzten wie eine feuchte Murmel, die von einer starken Lichtquelle angestrahlt wurden. „Wissen Sie Herr Doktor“, fing sie an. „Vor fünf Jahren war ich in der Türkei, besser gesagt in Istanbul im Urlaub. Es war ein wunderschöner Urlaub.“
„Das freut mich“, bemerkte er.
„Dort war ich in dem Bazar. Wie heißt der auf Türkisch noch mal?“ fragte sie nachdenklich.
„Meinen Sie den Kapali Carsi?“, wollte er wissen.
„Genau, den meine ich. Den berühmten Kapali Carsi!“, bestätigte sie.
„Und was ist mit dem?“
„Ich bin fast jeden Tag hingegangen und habe die Atmosphäre mit der lauten Musik, die aus den Läden herausquoll, dem Geschrei der Verkäufer, den Kunden, den Teehäusern und, und, und … richtig genossen. Wissen Sie, für mich ist das das richtige Leben“
„Ahah, interessant“, bemerkte er diesmal und nickte mit dem Kopf.
„Das war, wie gesagt mein schönster Urlaub. Nun bin ich Rentnerin und kann mir keinen Urlaub mehr leisten. Alles ist so teuer geworden, vor allem für die Rentner mit geringem Einkommen“, fuhr sie traurig fort.
Emin machte ein mitfühlendes Gesicht, sagte allerdings nichts. Gespannt wartete er auf die Pointe ihrer Erzählung. Eine Zeitlang sprach keiner von beiden. Als er kurz davor war, sie danach zu fragen, reagierte Frau Schmidt schneller und sprach weiter. „Sie fragen sich sicherlich, was das sein soll. Oder?“
„Nicht ganz. Ich hätte nur gerne gewusst, wo der Zusammenhang zwischen Ihrem Urlaub und meiner Praxis liegt.“
„Wissen Sie Herr Doktor? Jedes Mal, wenn ich zu Ihnen in die Praxis komme und mich ins Wartezimmer setze, fühle ich mich wie im Urlaub, wie in diesem Kapali Carsi. Und ich genieße es.“
„Wie weit ist der Urinbefund von Herrn Tayfun Tatlidil“, fragte Emin seine Helferin Ayse am Telefon, die wohl gerade etwas aß und schmatzte.
„O. B.“, antwortete sie als Kürzel für ohne Befund, nachdem sie den Bissen schnell heruntergeschluckt hatte.
„Und das Sediment?“
„Ebenfalls o. B.“
„Kannst du ihn dann bitte in das nächste freiwerdende Zimmer setzen?“
„Er sitzt schon im Zimmer eins.“
„Danke“, sagte er und legte auf.
Tayfun saß gespannt auf dem Stuhl, als Emin ins Zimmer kam. Er hielt seinen Kopf mit beiden Händen am Kinn, wobei seine Ellenbogen auf dem Schreibtisch ruhten. Sobald er Emin wahrnahm, änderte er seine Haltung und setzte sich aufrecht hin. Die ausgestreckten Beine zog er zurück und legte beide Hände auf die Knie.
„Soooo“, sagte Emin und nahm Platz auf dem Sessel, der wie immer quietschte. Er bewegte die Maus hin und her, damit der Bildschirmschoner die Arbeitsmaske freigab. Tayfuns persönliche Daten samt Untersuchungsergebnissen füllten den Monitor. „Nun, lieber Bruder, dass du mehrere Gallensteine hast, habe ich dir bereits gesagt“, fing er an.
„Ja, das hast du“, erwiderte Tayfun und bestätigte es zusätzlich mit einem Kopfnicken.
„Dass deine Schmerzen rechts am Oberbauch auch davonkommen, habe ich dir ebenfalls gesagt, glaube ich."
„Ja, auch das hast du gesagt“, wiederholte Tayfun.
„Im Ultraschall konnte ich ansonsten nichts Auffälliges feststellen.“
„Auch das hast du bereits gesagt.“
„Die anderen Schmerzen, die du rechts in der Flanke hast, kommen mit Sicherheit nicht aus der Niere. Ich sage es noch einmal. Im Ultraschall konnte ich beide Nieren gut darstellen und…“
„Und nichts Auffälliges feststellen“, unterbrach ihn Tayfun mit etwas Stolz, dass er schneller war als Emin.
„So ist es. Auch die Urinuntersuchung fiel negativ aus. Das heißt unauffällig.“
„Und woher kommen dann diese Nierenschmerzen?“ wiederholte der Patient, als hoffte er, Emin würde irgendwann seine Meinung ändern.
„Deine Schmerzen, das kannst du mir wirklich glauben, haben mit deiner rechten Niere nichts aber gar nichts zu tun“, insistierte Emin.
„O. K. Und die Gallensteine? Was mache ich mit denen?“
„Solange du die Steine mit dir trägst, wirst du immer wieder Schmerzen haben."
„Wie oft?“, wollte Tayfun erfahren. Er beugte seinen Oberkörper nach vorne, um die Antwort auf seine Frage besser zu hören.
„Das weiß nur der liebe Gott“, erwiderte Emin und fuhr dann fort. „Es kann sein, dass du diese Schmerzen nach einer Woche erneut bekommst, oder nach einem Monat oder nach drei Tagen. Daher würde ich dir doch die Operation empfehlen."
Das Wort Operation erschreckte Tayfun, so dass er tief einatmete. Seine Mimik verriet sofort, dass er mit dem ärztlichen Vorschlag nicht einverstanden war. Tayfun stellte ihm zahlreiche Fragen, ob man ohne Gallenblasen überhaupt leben könnte, ob das die einzige Therapiemöglichkeit wäre usw. Emin beantwortete alle Fragen geduldig und machte ihm darauf aufmerksam, dass bei einer Einklemmung der Steine im Gallengang eine Notoperation erforderlich sei und diese mit einem höheren Operationsrisiko einhergehe.
„Ich habe einfach Angst“, gab Tayfun offen zu und verzog sein Gesicht wie ein kleines Kind.
„Ich habe volles Verständnis“, kam aus Emins Mund.
Tayfun bat ihn um Bedenkzeit und verließ mit einem Rezept über ein Schmerzmittel die Praxis.