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- KAPITEL 4 -

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München, Juni 2002

Emin war 31 Jahre alt, 175 cm groß und wog 69 kg. Obwohl er, bis auf die seltenen Schwimmbadbesuche in den Sommermonaten, so gut wie nie Sport trieb, sah er ziemlich athletisch aus. Die grünen, freundlich strahlenden Augen erbte er eindeutig von seiner Mutter. Die breiten vollen Lippen waren stets gut durchblutet und verliehen ihm eine gewisse Erotik. Bereits in der ersten Stunde des Anatomiekurses, in dem er mit Tanja zusammen an derselben Leiche präparierte, sagte sie ihm, dass sie ihn um seine erotischen Lippen beneidete.

Emins Praxis lag in der Nähe von München Ostbahnhof, an der Kreuzung Pariserstraße und Wörthstraße im zweiten Stock eines Hauses aus dem Jahre 1965. Damals muss es sicherlich ein recht modernes Haus gewesen sein. Denn sämtliche Sanitär- und Elektroanlagen funktionierten immer noch einwandfrei. Bei der Sanierung vor einem Jahr bekamen die Wände neuen Verputz und Anstrich. Die zitronengelbe Farbe verlieh dem Haus ein freundliches und frühlingshaftes Flair. Die kleinen Balkone, auf die nicht einmal zwei Menschen passten, ließ der Hauseigentümer, ein kleiner Bayer, orange anstreichen. Er liebte Italien und dort vor allem die Cinque Terre. Deswegen bemühte er sich stets, in seinem sämtlichen Gehabe italienisch zu wirken. Er besuchte nicht nur eine Sprachschule, um Italienisch zu lernen, sondern auch einen italienischen Kochkurs.

Emin gefiel das Haus. Das Einzige, was ihn störte, waren die Fenster. Obwohl sie aus Doppelscheiben bestanden, isolierten sie bestimmte Laute nicht, wie das Vorbeifahren der Trambahnen, Hupen der Autos oder das Knattern eines vorbeirasenden Mopeds. Da es sich sowohl bei der Pariser- als auch bei der Wörthstraße um belebte Straßen handelte, kam es immer wieder zu Unterbrechungen bei der Untersuchung, vor allem wenn er mit seinem Stethoskop das Herz abhörte und sich auf die anormalen Herzgeräusche konzentrieren musste. An sich verfügte er über ein gutes Gehör und ließ sich bei der Herzauskultation Zeit. Trotzdem brachte ihn der Straßenlärm immer wieder aus dem Konzept, so dass er an einen Umzug in eine ruhigere Gegend wünschte.

„Herr Cevat Korkmaz ist im Zimmer 2, Herr Doktor“ kündigte Selma, die Arzthelferin mit den langen schwarzen Haaren voller Locken.

Cevat Korkmaz war ein relativ kleiner Mann um 45 und hatte einen dünnen Schnurrbart, den er offensichtlich regelmäßig färbte. Denn die Kopfhaare, Augenbrauen, die aus dem Kragenbereich herausquellende Brusthaare, ja sogar seine Wimpern; alle Haare an ihm waren grau.

Emin kam aus dem Zimmer 1 und drückte dem Patienten freundlich die Hand. „Was kann ich für dich tun, Bruder Cevat?“

Ob alt oder jung, ob Mann oder Frau, duzte er grundsätzlich jeden Patienten. Auch sie duzten ihn. Außerdem sprach er die jungen Patienten mit Bruder oder Schwester, und die älteren mit Onkel bzw. Tante an, als wären sie Mitglieder seiner eigenen Familie. Er war für die meisten Patienten der Bruder Emin. Ältere Patienten nannten ihn, je nach ihrem Alter oder wie sie sich ihm gegenüber fühlten mein Sohn oder mein Neffe.

„Seit etwa zwei Tagen habe ich ein komisches Gefühl in meinem Körper, Bruder Emin“, berichtete der Patient mit einer ungewöhnlich tiefen Stimme.

„Was für ein Gefühl ist es denn? Kannst Du es mir etwas näher beschreiben?“, fragte Emin und betrachtete das Gesicht des Patienten, der absolut nicht krank wirkte.

„Ja, klar. Jedes Mal, wenn ich mein Hemd an- oder ausziehe, stehen mir die Haare zu Berge.“

„Passiert es nur bei dem Hemd? Oder auch bei den andren Sachen, wie z. B. Unterwäsche oder Hose?“

„Nein nur bei dem Hemd.“

Für Emin war es klar. Er unterdrückte ein Lachen. „Kann es sein, dass du dieses Hemd erst vor zwei Tagen gekauft hast?“

„Ja, das stimmt. Woher wusstest du das? Das ist ja Zauberei!“, antwortete der Patient überrascht.

„Dieses Hemd besteht zum größten Teil, wenn nicht sogar aus 100% Polyester, mein Bruder. Beim An- und Ausziehen kommt es durch das Reiben zu einer elektrischen Ladung. Und das ist die Ursache für deine neue Beobachtung“, sagte Emin mit ernsthafter Miene. „Daher würde ich dir raten, ab sofort nur noch Sachen zu kaufen, die aus reiner Baumwolle sind.“

Der nächste Patient war Anfang 40, mittelgroß und recht schlank. Seine natürliche braune Hautfarbe erweckte den Eindruck, als hätte er vor kurzem in einem sonnigen Land einen ausgiebigen Strandurlaub gehabt. Sein Gesicht mit den eingesunkenen schwarzen Augen wirkte müde. Die oberen Augenlider bedeckten die halbe Iris, als wäre er kurz vor dem Einschlafen.

„Sei gegrüßt, Bruder“, sagte Emin, wie immer, in freundlichem Ton. Während er dem Patienten die Hand drückte, betrachtete er sein Gesicht genauer. Auch der lasche Händedruck bekräftigte seinen Verdacht, dass dieser neue Patient namens Kemal Aldan an Schwäche litt. Kemal versuchte zwar mit einem Lächeln etwas freundlicher zu wirken. Das gelang ihm aber nicht.

„Wenn die Mädchen mir nicht die falsche Karteikarte gebracht haben, bist du Kemal Aldan und kommst zum ersten Mal zu mir“, fuhr Emin fort und blickte auf die weiße Karteikarte ohne Eintragungen.

„Ja, das stimmt, Herr Doktor, ich bin zum ersten Mal bei dir“, entgegnete der Patient.

„Bitte, nimm Platz und erzähl mir, was dich zu mir führt“, forderte Emin und setzte sich auf seinen schwarzen Ledersessel, der jedes Mal, wenn er sich hinsetzte oder aufstand, etwas quietschte.

„Seit mehreren Monaten fühle ich mich zunehmend schwach und mir ist stets schwindelig“, berichtete der Patient.

„Trat diese Schwäche schlagartig oder langsam auf?“

„Langsam.“

Emin stellte dem Patienten noch eine Reihe von Fragen und erfuhr, dass er ein Medikament namens Bisoprolol 10 mg gegen seinen hohen Blutdruck einnahm. Er erschrak, als er erfuhr, dass der Arzt, der von dem Patienten als Herzspezialist bezeichnet wurde, ihm von diesen Tabletten drei Stück verordnet hatte. Der Patient griff mit seiner rechten Hand in die Innentasche seiner Jacke und zog mehrere Zettel und Visitenkarten heraus, die er mit einem Gummiband zusammengebunden hatte. Er entfernte das Gummiband und durchsuchte alle Zettel einzeln, bis er die Visitenkarte des Arztes fand. Emin betrachtete die Karte genauer und las den Text.

Dr. med. Martin Wassermann

Arzt für Innere Medizin

Kardiologische Diagnostik

Lehelstraße 25

80336 München

Telefon: 089 / 8033680336

Er erhob sich ruckartig, ging zum Patienten und maß bei ihm den Blutdruck zuerst am rechten und dann am linken Arm. An beiden Armen betrug er 90/70 mmHg. Dann legte er den Kopf seines Stethoskops auf die Brust des Patienten und auskultierte das Herz, wobei er gleichzeitig mit dem Zeige-, Mittel und Ringfinger den Puls am Handgelenk von Kemal tastete. Die Herzfrequenz stimmte mit dem Puls überein. Keine Extraschläge. Die Herzfrequenz lag jedoch mit 38 Schlägen pro Minute in einem ziemlich niedrigen Bereich.

Emin nahm auf seinem Sessel wieder Platz. Er rieb einige Male die Schläfen und sprach langsam zum Patienten. „Dein Blutdruck ist mit 90 zu 70 ziemlich niedrig. Im türkischen Sprachgebrauch sagt man 9 zu 7. Deine Herzfrequenz, das ist die Zahl der Schläge deines Herzens in einer Minute, beträgt 38. Das ist sehr, sehr wenig. Deswegen hast du deine Schwäche und deine Schwindelanfälle.“

Nach dieser Erklärung hielt er es nicht aus und rief Dr. Wassermann an. Nach mehrmaligem Klingeln meldete sich eine freundliche Frauenstimme. Er nannte ihr seinen Namen und bat sie, ihn mit Herrn Dr. Wassermann wegen des Patienten Herrn Kemal Aldan zu verbinden.

Dr. Wassermann klang bereits, als er seinen Namen nannte, unfreundlich und arrogant. Emin schilderte ihm den Zustand des Patienten und nannte ihm den Blutdruck sowie die Herzfrequenz. Wassermann rechtfertigte sich damit, dass er dem Patienten gegen den Schwindel immerhin ein starkes Medikament verordnet hatte. Als Emin versuchte ihm zu erklären, dass die Beschwerden des Patienten durch zu hohe Dosierung des blutdrucksenkenden Mittels komme, wurde sein Gesprächspartner ungehalten und forderte Emin auf, sich mit den Therapierichtlinien der Deutschen Blutdruckliga gründlicher zu befassen und sich in Gebiete nicht einzumischen, von denen er keine Ahnung hätte. Emin blieb nichts Anderes übrig, als in den Hörer ein lautes Arschloch zu schreien. Wassermann kriegte diesen Wutanfall allerdings nicht mit, da die Leitung bereits tot war.

Nachdem Kemal Aldan das Zimmer verlassen hatte, legte er eine kleine Pause ein. Er ging in sein Privatzimmer, das persönliche, patientenfreie Refugium und schaltete dort die Kaffeemaschine ein.

Er war stolz auf seine Kaffeemaschine und lobte sie in seinem Freundeskreis bei jeder Gelegenheit. Der Preis für das Gerät war zwar unmäßig hoch, dafür schmeckte der Kaffee aber stets gut. Er lauschte dem Mahlwerk der Maschine, als handelte es sich dabei um ein Musikinstrument, und atmete den frischen Kaffeeduft mit tiefen Atemzügen ein. Er setzte sich mit der Tasse in der Hand auf die Couch und schlürfte seinen Kaffee mit Genuss.

Der letzte Patient, namens Tayfun Tatlidil, war ein dynamischer Mann Anfang dreißig und hatte eine gesunde Hautfarbe. Er stand mit leicht gespreizten Beinen in der Mitte des Zimmers, als würde er versuchen, sein Gewicht zwischen beiden Beinen zu balancieren. Er betrachtete das Aquarell an der Wand, das eine Seelandschaft im Sturm darstellte. Die dunkelblauen Farben beherrschten das Bild.

„Hallo, Bruder Tayfun“, grüßte Emin den Patienten, wobei er zuvor schnell einen Blick auf das Namensetikett auf der Karteikarte warf.

Es kam bei den Patienten immer gut an, wenn er die Patienten bereits bei der ersten Konsultation gleich mit Namen ansprach, auch wenn es unmöglich war, sich alle Namen zu merken. Daher legten die Arzthelferinnen die Karteikarten geschickt an den Rand des Tisches, so dass er bereits beim Betreten des Sprechzimmers sofort den Namen des Patienten lesen konnte.

Emin betrat anscheinend das Untersuchungszimmer so leise, dass sich Tayfun Tatlidil erschrocken umdrehte und wie ein Panther Haltung annahm, der sprungbereit auf seine Beute wartete. Emin ging schnell durch den Kopf, dass er nun mit einem Taekwondo- oder Karatekämpfer zu tun hatte.

„Mensch Doktor, du hast mich aber erschreckt“, monierte Tayfun mit einer bebenden Stimme, als würde er gleich anfangen zu heulen. „Ich war so mit dem Bild beschäftigt, dass ich dich überhaupt nicht gehört habe.“

„Es tut mir leid. Bitte entschuldige, ich wollte dich auf keinen Fall erschrecken.“

„Schon gut, ich werde es überleben."

„Das möchte ich aber schwer hoffen. Ich möchte nicht, dass die folgende Überschrift die Zeitungen von morgen schmücken: Arzt erschreckte seinen Patienten zu Tode“, scherzte Emin gut gelaunt.

„Das würde ich dir auch nicht raten, lieber Herr Doktor. Ich kann nicht nur gut Karate, sondern kenne auch viele hervorragende Anwälte", erwiderte Tayfun, als würde er seinen Text aus einem Drehbuch vortragen.

Bei der Anamnese berichtete Tayfun von Schmerzen am rechten Oberbauch. Nach weiteren Fragen stand für Emin die Diagnose fest. Gallensteine.

Da Tayfun kurz davor ein Dönerkebab gegessen hatte, gab ihm Emin einen Termin für den nächsten Tag um 7.40 Uhr zur Ultraschalluntersuchung.

Nachdem der letzte Patient die Praxis verlassen hatte, schickte er die Sprechstundenhelferinnen nach Hause und ging mit einer Tasse Kaffee in der Hand die Karteikarten und die Tagespost durch.

Als er vor der Außentür der Praxis stand und nach dem richtigen Schlüssel suchte, war es bereits 23.10 Uhr.

Draußen fuhr eine Trambahn quietschend vorbei. Ein paar Jugendliche, die wohl einen über den Durst getrunken hatten, sangen laut „Oleee, Ole, Ole, Ooooleeee."

Schatten der Wahrheit

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